Ingo Friedrich: So können wir Europa neu gestalten

Europafahne in Wien, Foto: Stefan Groß

Im Vorfeld der Europawahlen im Mai des kommenden Jahres stellt sich die Frage, welche Themen auf den Nägeln brennen damit Europa nicht – wie einige Beobachter prognostizieren – auseinander fällt. Umgekehrt muss es Ziel und Aufgabe seriöser Politik sein, Europa gestärkt aus den akuten Krisen hervor gehen zu lassen. Ich sehe sieben große Baustellen, die bewältigt werden müssen:

IST DIE EU ZU GROSS GEWORDEN?

Die Antwort lautet: »Ja«. Mit 28 bzw. ohne England mit 27 Mitgliedstaaten ist die EU sehr groß vielleicht zu groß geworden, aber nachdem dies nicht mehr revidierbar ist, müssen wir damit leben und auskommen. Wir müssen allerdings daraus lernen, dass künftige Erweiterungen nur noch unter aller größter Vorsicht und in Ausnahmefällen vorgenommen werden dürfen. Zwischenstufen wie spezifische Partnerschaften (siehe Türkei) oder bilaterale Verträge (siehe Schweiz) kommen als adäquate Lösungen anstelle einer Mitgliedschaft infrage.

KANN EUROPA DIE GROSSEN PROBLEME BESSER LÖSEN ALS DER KLASSISCHE NATIONALSTAAT?

Auch hier kann die Antwort nur lauten: Ja, in den meisten Fällen trifft dies zu! So sind beispielsweise militärische Sicherheit, Umweltschutz, Energieversorgung,  Zulassung von Lebensmitteln, Medikamenten und Düngerbestandteilen aber auch die Erteilung von Patenten und die Förderung großer Forschungsvorhaben in Zeiten der Globalisierung national nicht mehr zu gewährleisten. Strittig zwischen den Mitgliedstaaten bleibt je nach wirtschaftlicher Situation inwieweit auch soziale Sicherheit, regionale Strukturpolitik und gewisse Finanzausgleichsmechanismen national oder europäisch besser aufgehoben sind. Diese hoch emotionale Kompetenzfrage – hier geht es um Geld! – muss politisch ausgefochten und durch mühsame Kompromisse »entschärft« werden.

ZUKUNFTSORIENTIERTE GLIEDERUNG VON KOMPETENZEN UND HOHEITSRECHTEN ZWISCHEN EU UND NATIONALSTAAT?

Diese Frage gehört zu den ganz großen und heiß umstrittenen Themen, zumal die Frage der Abgrenzung regionaler von zentraler Kompetenz sogar innerhalb der einzelnen Nationalstaaten als ständiges Problem auf dem Tisch liegt. Denken wir in Deutschland nur an die Kulturhoheit der Bundesländer und die daraus erwachsenden Probleme der Vergleichbarkeit des Abiturs. Hinzu kommt die dramatische Frage welche Steuern zu welchem Anteil welcher Ebene zustehen sollen bzw. welche Ebene darüber entscheiden soll. Letztlich ergibt sich für Europa ein vierstufiges Modell: Lokale Ebene, regionale Ebene, nationale Ebene und europäische Ebene.
Die immer wieder vorgeschlagene »pragmatische« Lösung dieser Frage nach dem Subsidiaritätsprinzip ist deshalb nicht so einfach, weil je nach Nation die Themen, die der Subsidiarität unterliegen sollen, anders definiert werden.

Die eng damit zusammenhängenden Fragen der nationalen Souveränität bewirken immer noch immense Emotionen und haben etwa beim englischen Brexit – we want back our national control – eine zentrale Rolle gespielt.

GROSSE MÄRKTE FÜHREN ZU NEUEN WIRTSCHAFTLICHEN ZENTREN MIT MAGNETISCHER ANZIEHUNGSKRAFT?

Ja es stimmt, in großen Märkten entstehen wirtschaftliche Metropolen, die eine nahezu magnetische Sogwirkung auf andere Gebiete ausüben. Die Folge sind Abwanderungen aus den weniger attraktiven Regionen hin zu den leuchtenden Metropolen mit nachfolgenden immensen Problemen sowohl durch zu dichter Bevölkerung in den großen Städten als auch abnehmender Entwicklungschancen in den «vergessenen« Gebieten.
Solche Wanderungstendenzen entstehen dann auch von den weniger attraktiven Mitgliedstaaten hin zu den wirtschaftlich erfolgreicheren Staaten und sogar von dem schwierigen Kontinent Afrika hin zum »gelobten Land« Europa.
Die leider sehr langwierige Lösung dieser immanenten Problematik großer Märkte kann nur über eine intelligente Strukturpolitik erfolgen, die mühsam versucht, Chancen und Entwicklungen auch in den abgehängten Regionen zu ermöglichen. Hierfür gibt es viele gelungene und misslungene Beispiele. Unvermeidlich ist, dass dabei Finanzmittel aus den wohlhabenderen Regionen in die Armenhäuser fließen, dass aber auch die Verantwortlichen in den Regionen mit eignen Ideen und Anstrengungen nichts unversucht lassen, eine gewisse eigene Anziehungskraft zu entwickeln.

POPULISTEN UND NATIONALISTEN GEFÄHRDEN DAS EUROPÄISCHE PROJEKT?

Auf Grund fehlgeleitetem Nationalstolz und oft auch wegen nationaler Verlustängste kämpfen Populisten und Nationalisten häufig gegen das europäische Projekt. Sie befürchten die schrittweise Auflösung des bewährten Nationalstaates in einem europäischen Großreich. Wie aber die bayerisch/deutsche Entwicklung beweist, bietet gerade die kluge Zusammenarbeit (von früher selbständigen Staaten) in einem neuen größeren Gemeinwesen (Deutschland) eine sichere Bestandsgarantie. Entscheidend ist dabei eine Konzeption, die überzeugend nachweisen kann, dass die Vorteile einer solchen engen Zusammenarbeit in Europa die unvermeidlichen Nachteile deutlich übersteigen.
Wichtig und interessant wird der Einfluss der Populisten wohl erst dann, wenn sie im Europäischen Parlament entscheiden müssen ob sie alles blockieren oder doch noch zu einer Art Zusammenarbeit finden wollen. Wenn diese politische Gruppierung den europäischen Einigungsprozess wirklich stoppen könnte, dann ist die Zeit für Europa offenbar noch nicht reif. Realitätsnäher dürfte allerdings die Analyse sein, wonach diese Bewegungen die letzten Rückzugsgefechte durchkämpfen, um eine im globalen Trend liegende also unaufhaltbare Entwicklung zu größeren Einheiten doch noch irgendwie aufzuhalten.

WIE KANN IN EUROPA FINANZIELLE UND WIRTSCHAFTLICHE STABILITÄT GARANTIERT WERDEN?

Die Frage kann nur etwas zwiespältig beantwortet werden: Einerseits gilt: (Normale) Krisen a la Lehmann Brothers werden uns immer wieder bedrängen und beschäftigen. Sie sind in unserer Welt sozusagen immanent eingebaut. Für diese Krisen können und müssen (normale) Vorsorgemaßnahmen getroffen werden um ihre Bewältigung zu ermöglichen. Viel schwieriger wird es, wenn von der Politik verlangt wird, den Ausbruch der ganz großen, alles verschlingenden Krise zu vermeiden. Aber genau das muss die Politik leisten, denn hier stellt sich die zentrale Schicksalsfrage für die Menschen.
Nicht ganz so dramatisch aber in einer ähnlichen Dimension angesiedelt ist die Problematik, dass Menschen oder ganze Gruppen von Menschen sei es durch mangelnde Ausbildung, sei es durch den »falschen« Wohnort auf Dauer von einer positiven persönlichen Entwicklung ausgeschlossen sind.
Hier die Dinge »in Ordnung« zu bringen ist auf allen Ebenen eine zentrale Herausforderung.
Als besonders herausfordernd ist in diesem Zusammenhang naturgemäß die Bewältigung des neuen und harten Wettbewerbs einer globalisierten Welt.

WELCHE VISION SOLLTEN WIR IN EUROPA ANSTREBEN?

Soll die EU anstreben, ein Staat ähnlich wie die Vereinigten Staaten von Amerika zu werden. Oder soll die EU ein loser Staatenbund bleiben, der enger nur in konkreten Fällen gemeinsam auftritt. Die Lösung scheint mir darin zu liegen, dass die EU mit zunehmender Bedeutung auch zunehmend staatsähnlich auftritt. Nur wenn die EU über die entsprechenden Instrumente verfügt kann von ihr korrekterweise auch verlangt werden, dass sie ihre Aufgaben zufriedenstellend erfüllt.
Wenn die Europäer in der so klein gewordenen Welt in der Liga der Großen hörbar mitsprechen will, also ihre Bürger erfolgreich vertreten will, dann muss die europäische Ebene auch über entsprechende Mittel verfügen um als Globaler Player auftreten zu können.

 

Entgegen vieler Bedenkenträger sehe ich Europa durchaus in der Lage, die anstehenden Aufgaben wenn auch nicht ideal so doch zumindest befriedigend zu lösen.

Über Ingo Friedrich 62 Artikel
Dr. Ingo Friedrich war von 1979-2009 Abgeordneter des Europäischen Parlaments, von 1992 bis 1999 Vorsitzender der CSU-Europagruppe im Europäischen Parlament. Er war Schatzmeister der Europäischen Volkspartei (EVP) und Präsident der Europäischen Bewegung Bayern. Seit 2009 ist er Präsident des Europäischen Wirtschaftssenats. Von 1999-2007 war Friedrich einer der 14 gewählten Vizepräsidenten des Europäischen Parlaments. 2004 erhielt er das Große Bundesverdienstkreuz. Friedrich ist Ehrenmitglied des Europäischen Parlaments und war Präsident der Wilhelm Löhe Hochschule.