War es ein Traum oder war es Wirklichkeit? Am Ende der Vorstellung schwimmen eine Dornenkrone, fünf weiße Blütenblätter und ein Christuskreuz aus leichtem Holz auf dem Wasser. Christus selbst war quasi erschienen, dem rund um das Damenschwimmbecken des Münchner Mueller`schen Volksbads auf Stühlen sitzenden Publikum und dem, was vom Personal in Benjamin Brittens Oper „The Rape of Lucretia“ nach André Obeys frommem Schauspiel „Le Viol de Lucretia“ noch übrig geblieben ist: vor allem ein Trauer tragender, klagender Chor, dem in der Inszenierung des ungebrochen am Auffinden seltener Musikdramen, gespielt an seltenen Örtlichkeiten, tätigen Regisseurs Andreas Wiedermann die spektakulärsten Verrichtungen – Schwimmen, Kraulen, Beckensprünge – und dazu Singen abverlangt werden.
„Mit hängenden Schwingen kommt, o Engel, und streut Rosen auf ihr Grab. Haltet hier für immer Wache, zart und sanft, so wie ihr Herz“, singt der Chor auf der vergitterten Empore über dem Mittelstück des düster ausgeleuchteten Damenschwimmbeckens stehend, in Büßergewändern mit aufgeschlagenem Gesangbuch vor der Brust. Didos Tod nach des Aeneas Liebesverrat ist Anlass für das inständige Bitten. Wiedermann ließ Henry Purcells 1-stündige Frühbarockoper, vor 330 Jahren uraufgeführt, in Brittens daran sich entzündende moderne Oper einfließen – als Schauspiel im Schauspiel. Dido und Lucretia sind da, werden da, eins: als Opfer männlicher unkontrollierter Begierden und schamloser Leidenschaften, die im Fall der Lucretia zur mit steigender Beklommenheit zu erlebenden Vergewaltigung wird.
Dem Publikum fiel sichtlich und hörbar das Begreifen dieser Verschlungenheit zweier ähnlicher Musikdramen – ohne Kenntnis der historischen Sachlage – nicht leicht. Es war wohl zu stark befremdet durch die erstmals erlebte Situation, das Singen und Spielen rund um das Schwimmbecken, in das oft unter heftigem Wasserspritzen gesprungen und eingetaucht wurde. Das 13 Mann starke, mit allen Wassern des echten und nachempfundenen Frühbarocks gewaschene Orchester unter der Leitung von Ernst Bartmann: hoch oben wurde es nur von den erhöht Sitzenden eingesehen. Wiedermann hatte erneut, ein drittes Mal ist er ja nun schon im Mueller`schen Volksbad mit seiner „opera incognita“, Riesenglück mit den Solisten: Dido/Lucretia gab Frauke Mayer ihre ganze darstellerische und sängerische Intensität, in der ihr ihre beiden Dienerinnen Vanessa Fasoli und vor allem Franziska Zwink in nichts nachstanden. Brocken von Mannsbildern begegnete man in Herfinnur Àrnjafal (Junius und Aeneas) und Samuel Lawrence Berlad (Collatinus). Torsten Petsch fiel als Tarquinius kein dankbarer Part zu, während Carolin Ritter mit Jorge Jimènez als Erzähler mit Sorgegestus eindringlich agieren durften.
Der Jubel war groß, als alles Klagen über den Liebestod der Lucretia und ihrer Doppelgängerin Dido ein Ende hatte. Das heftige Werben am Ein- und noch am Ausgang für den Beitritt zum Freundeskreis der „opera incognita“ empfand man keineswegs als lästig, sondern ließ sich die Unterlagen gerne mit nach Hause geben.