Weltweite Missbrauchsfälle bringen Vatikan in die Krise Papst Franziskus kämpft auch ums eigene Überleben – Wie soll er seine ramponierte Kirche wieder zum Strahlen bringen?
„Habt keine Angst vor der Zärtlichkeit!“ Das war das Motto des argentinischen Hauptstadtbischofs Jorge Mario Bergoglio, als er vor über fünf Jahren als erster gebürtiger Nichteuropäer das höchste Amt der katholischen Kirche antrat. Heute muss Papst Franziskus alles andere sein, nur nicht zärtlich. Nach den Affären um Kindesmissbrauch ist der Pontifex als harter Hund gefragt – als Krisenmanager. Der 81jährige hat den derzeit wohl undankbarsten Job auf dem Globus, denn moralischer Anspruch und Realität klaffen in der Kirche weit auseinander.
Aus Sicht der Krisenkommunikation ist im Vatikan bereits Vieles versiebt worden. Nachrichten über sexuelle Verfehlungen vom einfachen Priester bis zum Kardinal erreichten die Kirchenspitze schon vor Jahren. Doch einflussreiche Kreise haben Schandtaten unter der Decke gehalten – selbst der Papst wird von Kritikern als Vertuscher verdächtigt. Im Dezember reichte ein kritisches Mitglied der päpstlichen Kinderschutz-Kommission entnervt seinen Rücktritt ein, weil es von ganz oben gemobbt wurde.
Tiefer kann das ramponierte Image der Amtskirche kaum sinken. Teuflischer wäre nur noch die Fahrt in die Hölle – ein beunruhigendes Szenario für Theologen, gehört der Satan doch zum Kernbestand christlichen Glaubens. Papst Franziskus hat den einem Kind gegenüber mit einem Drachen verglichen: „Auch wenn der getötet wird: Er hat einen langen Schwanz, und auch wenn er tot ist, schlägt der Schwanz noch hin und her.“ Für den Katholizismus dürften die Missbrauchsenthüllungen noch jahrelange Folgen haben.
Was ist mit den Opfern?
Der Chefwürdenträger selbst hat in der bisherigen Krisenreaktion etliche Fehler begangen. So fehlt bis heute eine überzeugende Symbolhandlung zur Übernahme politischer Verantwortung. Ein verurteilendes Wort hier, eine Absetzung kriminell gewordener Geistlicher dort oder ein Untersuchungsauftrag ergeben noch keine nachhaltige Strategie gegen teuflische Taten. Es geht um kriminelle Verfehlungen angeblich gottesgläubiger Menschen, denen Schutzbefohlene anvertraut worden sind.
Große Energie legt der Papst jetzt auf eine große Konferenz in Rom. Dazu müssen erstmals alle Leiter der Bischofskonferenzen von rund um den Erdball in die Vatikanstadt anreisen. Kritiker finden, es wäre besser gewesen, die Energie jetzt deutlicher auf die Opfer zu lenken. Und nicht auf den Kreis, aus dem womöglich Täter kommen.
Die Krise trifft die katholische Kirche in einer Unzeit. Sie ist sowieso schon unter Druck durch den weltweiten Relevanzverlust für Religion im modernen Alltag. Das hat zu Gläubigenschwund und Priestermangel geführt. Wird die Kirche nach der Welle von Sexskandalen nun noch stärker in den Strudel des Verfalls ihrer gepredigten Werte hineingezogen?
Im tief katholisch geprägten Irland, wo Franziskus kürzlich zu Besuch war, zeigt sich wie in einem Brennglas, wie tiefgreifend der Einflussverlust der Kirche selbst in einstigen Hochburgen ist. Der Papst, der empfiehlt, Kinder mit homosexuellen Neigungen zum Psychiater zu schicken, schüttelte dort dem sich als schwul bekennenden Premierminister Leo Varatkar die Hand, einem Konservativen wohlgemerkt. Kurz darauf erklärte Varatkar, er sei froh, dass die katholische Kirche nicht mehr so viel Einfluss habe. Ein Seitenhieb auf ein Referendum im Mai, bei dem das irische Volk gegen Kirchenempfehlung mit sensationeller Zweidrittelmehrheit die Abschaffung des sehr strengen Abtreibungsverbotes beschlossen hatte.
Keine Strategie für Glaubwürdigkeit und gegen „Unkraut“
Überhaupt versagte in Irland wie ein Menetekel die geölte PR-Maschinerie des Vatikans. Als der Papst bei einer abendlichen Familienmesse ausufernd lange und wenig volksnah predigte, fingen die zur Liveübertragung hinter ihm drapierten müden Kinder entweder an zu feixen oder zu gähnen – so schafft man keine überzeugenden Bilder. Dabei war Franziskus zu Beginn seines Pontifikats noch ein gefeierter Meister der Öffentlichkeitsarbeit gewesen. Rituelle Fußwaschungen an inhaftierten Kriminellen, Behinderten und Frauen, ja, sogar Muslimen kamen als demütige Handlungen der Liebe über. Das kleine Dienstauto, mit dem der Papst anstatt in Staatskarossen in den USA vorfuhr, vermittelte Bescheidenheit.
Noch fehlt im Vatikan eine sichtbare nachhaltige Strategie zur Wiederherstellung der päpstlichen Glaubwürdigkeit. Man wünschte sich beispielsweise eine weltweite Aufarbeitung durch unabhängige Untersucher. Und wo bleibt eine schnelle und spürbar großzügige Opferentschädigung? Geschlossen sind zudem weiterhin kirchliche Geheimarchive, aus denen mancherorts Vertuschungen bekanntgeworden sind, auch in Deutschland.
Das Thema Missbrauch wird über den Tod des argentinischen Papstes hinaus auf der Kirchenagenda bleiben. Es geht ja nicht um Einzelfälle, sondern um ein Massenphänomen. Allein im US-Bundesstaat Pennsylvania sind über 1.000 Pädophilie-Opfer identifiziert worden. In Deutschland hätten sich mindestens 1.670 Kleriker von 1946 bis 2014 an Schutzbefohlenen vergangen, heißt es in einem geleakten Bericht, „und der Missbrauch dauert offenbar noch an“. Weltweit.
So, wie jetzt, hat sich der argentinische Hauptstadtbischof Jorge Mario Bergoglio den Verlauf seiner Amtszeit als 266. Bischof von Rom, Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche und Souverän des Vatikanstaats bestimmt nicht vorgestellt. Nun muss er öffentlich erwartete strenge Bestrafungen gegen die hohen christlichen Güter Vergebung und Barmherzigkeit abwägen. „Zärtlichkeit“, die der amtierende Papst ins Amt bringen wollte, ist beim Thema Kindesmissbrauch kein Mittel der Wahl mehr für den Mann in Petri Nachfolge.
Im weltlichen Leben würde man anraten, einen reinigenden Rücktritt zu erwägen. Das kann ein Pontifex, wie man seit 2013 weiß, durchaus bewerkstelligen. Doch wahrscheinlicher ist, dass sich der Papst auf seine alten Tage weiter mit sehr weltlichem Problemmanagement mühen muss und – wie es in Matthäus 13,49 heißt, „die Bösen aus der Mitte der Gerechten aussondern“. Franziskus drückte es in einer Predigt einmal so aus: „Das Reich Gottes wächst wie der Weizen, umgeben nicht von schönen Dingen, sondern umgeben von Unkraut.“