Berlin ist arm und verwahrlost, Hamburg dagegen sexy und cool

Hamburg, Elbphilharmonie, Foto: Stefan Groß

„Ich bin Hamburger“ – die Sehnsuchtsheimat

Drei Beobachtungen

Vor vier Jahren lernte ich die Gattin eines Bekannten kennen, den ich einige Zeit aus den Augen verloren hatte. Schnell beschwerte sie sich über das Kulturleben in der westfälischen Mittelstadt Arnsberg und gab zu erkennen, dass sie als Hamburgerin anderes gewohnt sei.

Ungefähr gleichzeitig zog in meine Nähe ein Paar. Der Mann schwärmt ebenfalls regelmäßig von seiner Heimat Hamburg. Auch er beklagte das in seinen Augen eher mäßige Kulturangebot außerhalb der Hansestadt.

Den endgültigen Anlass für diesen Artikel bekam ich geliefert, als ich vor einer Stunde in einem Supermarkt im benachbarten Soest an der Kasse stand. Die vor mir stehende Frau beschwerte sich, dass sie Äpfel und Tomaten selbst in Plastiktüten verpacken und auswiegen müsse. Aus Hamburg sei sie das nicht gewohnt.

Wirklich Hamburger?

Kurz darauf auf dem Parkplatz sah ich die Dame per Kombi mit Kennzeichen SO (Soest) davonfahren. Es handelte sich aufgrund des Alters der Karosse wohl kaum um ein Leihfahrzeug. Es steht zu vermuten, dass sie die Hansestadt allenfalls durch einen Musicalbesuch kennengelernt hatte.

Anders verhält es sich bei der Gattin des Bekannten nämlich auch nicht. Geboren wurde sie in Haltern, einer im nördlichen Ruhrgebiet gelegenen Kleinstadt. Studiert hatte sie danach in Münster, immerhin die erste Station der Zugfahrt von Haltern in Richtung Hamburg, aber noch rund 300 Kilometer entfernt von der norddeutschen Metropole. Schließlich hatte sie dann zwei ihrer inzwischen 49 Lebensjahre in Hamburg verbracht.

Genauso sieht es mit dem Mann aus, der von seinen 34 Geburtstagen immerhin fünf in Hamburg feiern durfte. Er ist übrigens Helene Fischer Fan. Die Schlagersängerin ist kein ausgesprochen hanseatisches Phänomen, eher vermute ich ihre Fans in Herdringen, Husum oder Havixbeck als in der Hansestadt, wo man eher den Sternen & Tocotronic oder Carl Philipp Emanuel Bach lauscht. Um sie – Helene Fischer – zu hören, empfiehlt sich auch kein Besuch im Bucerius Kunst Forum, sondern in einem Bierzelt auf dem Schützenfest des nächsten Dorfes. Gebürtig kommt der Mann übrigens aus der westfälischen Kleinstadt Iserlohn.

Özil-Debatte

Seit der Özil-Debatte gab es eine standardisierte Normal-Deutung nach der Lesart, Migranten fühlten sich nicht in Deutschland wohl.

Dabei ist es viel tiefgreifender und nicht allein auf Zugewanderte oder Kinder dieser Gruppe bezogen. Auch Deutsche fühlen sich in ihrer Region offenbar häufig unwohl, zumindest regional im falschen Körper. War die Hochstapelei im 19. und Anfang des 20.Jahrhunderts oftmals eine ständische, so ist sie heute weitgehend eine regionale. Wollten viele vor 120 Jahren am liebsten Freiherr oder Graf sein, so möchte heute offenbar jedermann Hamburg seine Heimat nennen, auch wenn er aus Flensburg oder Lüneburg stammt, die man nicht mehr ganz als Vororte ansehen kann.

Die Freie und Hansestadt hat nicht 17 Millionen Einwohner, wie es bei der hochgerechneten Zahl der Selbstbezichtigungen den Anschein hat, sondern nur 1,7 Millionen. Viele ersehnen sich hamburgische Wurzeln, auch wenn diese in der Luft schweben. Nur warum?

Ausschlussverfahren

Die deutsche Provinz mit ihrem Scholle- und Blut-und-Boden-Appeal war ja schon immer unsexy, auch wenn die allermeisten Talente von hier kommen. Selbst Berlin wird ausgestochen. Die Hauptstadt umweht der Hauch der Verwahrlosung. Hamburg ist gleichzeitig St.Pauli, Pirat und gediegener Segelclub, also arm, sexy und gleichzeitig reich. Drei sich teilweise widersprechende Wünsche auf einmal: ein Kindertraum wird wahr, und das ganz ohne Kalorien und Plastikmüll.

Köln kann auch kaum dagegen ankommen, ist es ja noch siffiger als die Hauptstadt und dazu noch in Brutalismusarchitektur gehauen. In Stuttgart, Frankfurt, Dresden, Leipzig, Dortmund und Mannheim spricht man zusätzlich sehr unschöne Dialekte, die diesen Metropolen einen provinziellen Mief verleihen. Düsseldorf ist ein Metropolenzwerg, der sich gern zu große Edelschuhe anzieht und dadurch mitunter lächerlich wirkt.

München wäre als Alternative denkbar, jedoch wird dort traditionell ein sehr konservatives Bundesland – d.h. Freistaat – regiert. In unmittelbarer Nähe der Seehofers und Söders will dann doch kein hipper Mensch wohnen.

Was bleibt, ist also Hamburg. Menschen wie Helmut Schmidt, Hans Olaf Henkel und Jan Fleischhauer haben aus ihrer Heimat diesen wunderbar blasierten Akzent in die Republik getragen. Nix Ohnsorg-Schnack. Gerade Henkel, Fleischhauer und allen voran Helmut Schmidt haben es ja vortrefflich verstanden, sich als geradezu allwissende Institutionen ins kollektive Gedächtnis einzubrennen. Ähnlich wie Beckenbauer konnte Kanzler Schmidt ja sagen, was er wollte – es galt als große Wegweisung. In Abstufung gilt dies auch für Henkel und Fleischhauer.

Schlussfolgerung

Wenn Heimat Wegweisung sein soll, dann sucht man sich wohl den Ort mit den überzeugendsten Wegweisern. Auf die Frage, was deutsche Kultur sein soll, kann man sagen:

Schau auf Hamburg. Die Stadt mögen sogar Menschen, die deutscher Kultur ansonsten skeptisch gegenüberstehen.
Oder etwas komplizierter, frei nach dem Psychoanalytiker Alfred Adler: die Ambition bestimmt den Lebensstil. Heimat ist demgemäß eine Heimatambition und hat nichts mit Geburtsort oder Lebensmittelpunkt zu tun.

Oder doch einfacher: „Man ist, was man isst“. Wer also täglich Hamburger isst, wird auch zum Hamburger?!