Interview mit Hans-Olaf Henkel: Juncker hat eine persönliche Mitschuld am Brexit

Englische Fahne vor Luxusjacht in Monaco, Foto: Stefan Groß

Herr Henkel, Sie haben eine Initiative gestartet, damit Großbritannien doch in der EU bleibt. Was haben Sie bisher erreichen können?

Die Initiatoren dieser Petition sind alle für ihren Realismus bekannt, darunter finden Sie keinen Träumer. Ob das nun Herr Weiss ist, der einst Vorsitzender des CDU Wirtschaftsrates und des BDI war, Professor Sinn, der ehemalige Leiter des IFO Institutes, der Unternehmer Roland Berger, Manfred Schneider, ehemaliger Bayer-Chef, oder Klaus-Michael Kühne, der Hauptaktionär des wohl größten Logistikunternehmens, wir alle wissen, dass das nicht leicht ist. Uns einen zwei Überzeugungen: Erstens, wir glauben, dass Brüssel einen gehörigen Anteil an Mitschuld am Brexit hat. Zweitens wissen wir, im Gegensatz zur deutschen Bundesregierung, und leider auch großen Teilen der deutschen Wirtschaft, dass die EU unter Umständen langfristig stärker unter dem Brexit leiden wird, als Großbritannien selbst. Ich habe im Europäischen Parlament außer den Brexit-Briten noch nicht einen Abgeordneten getroffen, der für den Brexit ist. Das gilt auch für die deutschen Unternehmer. Ich habe auch noch nicht einen Politiker, mit Ausnahme der britischen Regierung und den Brexiteers getroffen, der für den Brexit ist. Aber niemand tut etwas um zu verhindern, dass hier zwei Züge mit voller Fahrt auf dem gleichen Gleis aufeinander zufahren! Aber es setzt sich so langsam die Überzeugung durch, dass auch die Politiker hier im Parlament von einer lose-lose Situation reden. Das ist ein erster Erfolg unserer Initiative. Denn früher herrschte die gängige Meinung, dass es sich um ein britisches Problem handelt.

Gibt es weitere Erfolge?

Ja, in einem längeren Gespräch mit Herrn Junker habe ich ihm unsere Initiative vorgestellt. Er hat auf Grund dieses Gespräches zunächst unter vier Augen und dann – bezugnehmend auf das Gespräch – auch im Parlament einige Statements getätigt, die nicht unwichtig sind:

Erstens, er sieht das Ganze auch als eine lose – lose Situation an, das war neu. Zweitens, er sieht es als eine Katastrophe für die EU an, auch das war neu. Drittens, er versprach im Falle eines Meinungswechsels auf der Insel alles zu tun, um den Zug auch von der EU-Seite her aufzuhalten. Auf meine Frage, ob er denn als der Kommissionspräsident in die Geschichte eingehen will, der die Briten verloren hat, antwortete er, dass es schön von mir sei, dass ich davon ausginge, dass er in die Geschichte eingeht. Das war typisch Juncker, aber ist wohl doch ziemlich geschockt durch den Brexit. Ich sagte ihm: Dann machen Sie doch schon jetzt was dagegen etwas dagegen. Aber soweit ist er leider noch nicht.

Unsere Initiative richtet sich an Brüssel. Sie kann sich ja gar nicht an Großbritannien richten. Dann würde zu Recht gefragt, weshalb wir uns da einmischen und das Votum der Briten nicht respektieren.

Mit dieser Bewusstseinsänderung alleine wird der Brexit aber nicht zu stoppen sein.

Aber wir wissen ja auch noch ein paar andere Dinge: Erstens, der Ausgang der Abstimmung war sehr knapp. Zweitens, die Brexiteers haben mit Fake-News argumentiert. Drittens, man hat sich zwar für einen Brexit entschieden, aber niemand weiß für welchen. Und viertens, wissen wir auch, dass die Briten zunehmend darüber ernüchtert sind, was sie sich da ans Bein gebunden haben. Erst letzte Woche ist der britische Justizstaatssekretär zurückgetreten und hat gesagt, dass dieser Deal dem britischen Volk nochmal vorgelegt werden muss.

Hier kommt unsere Initiative ins Spiel. Falls im Oktober oder November Chaos in Whitehall ausbrechen sollte und sich in Großbritannien tatsächlich die Überzeugung durchsetzt, dass man die Briten über das Verhandlungsergebnis mit der EU abstimmen lassen muss, dann wird der britische Wähler auch eine Alternative bekommen müssen. Es muss heißen, wollen Sie den Deal, oder…. Was ist dieses „oder“? Wenn zu diesem Zeitpunkt Herr Junker oder Herr Tusk oder eine nationale Regierung wie die von Herrn Rutte in Den Haag sagen würde: Großbritannien ist ja damals gegangen, weil man dem Land nicht genügend Autonomie bei der Zuwanderung geben wollte, wir sind bereit darüber zu reden. Wenn dieses Signal käme, würde es die Remainer in Großbritannien unterstützen. Davon sind meine Gesprächspartner auf Seiten der Remainer alle überzeugt.

Was sollen die Europäische Kommission und Rat den Briten denn anbieten?

Professor Sinn hat als Teil unserer Initiative einen Vorschlag ausgearbeitet, wie man den Briten bei der Kontrolle der Zuwanderer aus den EU-Ländern entgegen kommen kann. Denn interessanterweise ging es in der Diskussion um den Austritt aus der EU ja vor allem darum und erst später um die von Merkel angeschobene Flüchtlingswelle. Dieser Vorschlag hatte damals keine Mehrheit gefunden. Aber, und auch das ist neu, inzwischen hat sich bei den meisten europäischen Ländern die Meinung über die Notwendigkeit nationaler Autonomie über Teile der Zuwanderung durchgesetzt. Nicht nur in Ungarn und in Polen, sondern auch in Tschechien, Österreich und Dänemark. Mit anderen Worten, in diesem Augenblick könnte die Kommission einen neuen Vorschlag machen, und genau darauf zielt unsere Initiative.

Sie haben Junker eine persönliche Mitschuld am Brexit gegeben.

Nicht nur Juncker wegen seiner „Brüssel-über-alles-Politik“, sondern auch Merkel, die aus Sicht vieler Briten mit ihrer Flüchtlingspolitik den Brexiteers in den entscheidenden Tagen und Wochen vor der Abstimmung neue Argumente geliefert hat. Auf einer Website haben wir meine Fragen und Junkers Antworten einmal zusammengeschnitten. Er kam, nachdem ich meine Fragen im Plenum gestellt hatte zu mir und sagte, dass er diese erst am darauffolgenden Tag im Parlament beantworten könne. Eigentlich ein Witz, aber zwischenzeitlich kenne ich die Gründe hierfür. Er musste sich wohl zunächst bei seinem juristischen Dienst vergewissern, ob er das, was er am Abend vorher unter vier Augen gesagt hatte, auch öffentlich sagen kann.

In seiner anschließenden Rede hatte Tusk dann gesagt, dass er den Austritt Großbritanniens bedauere und man alle Türen offen halten werde. Ein offensichtlicher Erfolg dank unserer Initiative. Gleich nach der Debatte erhielt ich einen Anruf vom ehemaligen britischen Vieze-Premierminister Nick Clegg, der mir sagte, dass unsere Initiative „most helpful“ sei. Also, auch wenn sie sich an Brüssel richtet, sieht man, dass es auch einen gewissen Einfluss auf die Remainer hat, hier etwas zu ändern.

Weshalb ist der Brexit aus Ihrer Sicht so ein bedeutendes Thema?

Es gibt viele Gründe, weshalb der Brexit ein Problem ist: es gibt strategische, ökonomische, aber auch logistische. Ich habe sowohl mit dem Chef des Hafens von Dover, als auch Verantwortliche des Rotterdamer Hafens gesprochen. Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel: 98,5 Prozent aller Umschläge in Dover kommen aus dem europäischen Binnenmarkt. Nur 1,5 Prozent kommen von außerhalb der europäischen Union. Die Transaktionen, die von außerhalb der EU kommen, werden heute im Durchschnitt mit ca. rund 20 Minuten belastet, für Veterinäre, Zollbeamte etc. Wenn durch den Brexit die Transaktionen, die bisher im Binnenmarkt ohne Bürokratie abgewickelt wurden nach Brexit nur mit 2 Minuten Aufwand belastet würden, gäbe es vor Dover einen 17 Meilen langen LKW Stau. Auch im Hafen von Rotterdam stammt eine beachtlicher, zweistelliger Prozentanteil des Umschlags aus Großbritannien. Das Management beider Häfen hat bisher noch keine Ahnung, wie das funktionieren kann. In Rotterdam bereitet man sich darauf vor, Dutzende Veterinären und eine viel größere Zahl von Zollbeamten einzustellen. Es gibt kein IT – System. Hier kommt unser Mitstreiter Klaus-Michael Kühne ins Spiel, der als Logistiker eine viel bessere Sicht auf die logistischen Themen hat und eloquent beschrieben hat was das alles für die komplizierten Logistikketten und Zulieferarrangements bedeutet. Wir reden hier von über 40 Jahre gewachsene Verbindungen zwischen Zehntausenden von Firmen.

Sie erwähnten vorhin auch strategische Gründe.

Wir verlieren mit Großbritannien einen Nordstaat. Immer wenn es in der EU um sozialistische Themen, oder mehr Staat oder mehr Europa ging, dann war Großbritannien zusammen mit den Niederlanden, den nordischen aber auch baltischen Ländern und Deutschland immer in der Lage, sich einigermaßen an den Lissabon Vertrag zu halten und nicht weiter zu gehen. Frankreich wollte immer schon mehr Europa. Die Risikoteilung ist beispielsweise eine französische Idee, insbesondere der dritte Teil der Bankenunion, der unweigerlich dazu führt. dass deutsche Sparer für das Gezocke französischer Banken mithaften. Deutschland konnte sich bei der Ablehnung solcher Ideen hier immer hinter Großbritannien verstecken, so wurde die deutsch-französische Freundschaft nicht belastet. Jetzt, wo Großbritannien wegbricht, fehlt der Schutzschild für die Bewahrung dieser Freundschaft. Was macht Frau Merkel in dieser Situation? Sie wechselt ins Camp von Herrn Macron. Das sehen Sie im Koalitionsvertrag, dessen Europa-Teil noch von Martin Schulz geschrieben wurde. Zwar ist sie noch etwas skeptisch gegenüber einem europäischen Finanzminister, aber der Widerstand gegen den dritten Teil der Bankenunion ist auch schon weg. Und jetzt hat sie sogar schon der französischen Idee eines Budgets für die Eurozone zugestimmt!

Was ich damit sagen will ist, die nordischen Länder hatten mit über 35 Prozent einschließlich Großbritanniens die im Lissabon Vertrag vorgesehene Sperrminorität. Die ist weg, und jetzt hat Frankreich das Sagen. Deshalb brauchen wir Großbritannien auch aus strategischen Gründen.

Wir brauchen die Briten, weil die Union durch diese neue Idee einer Haftungsunion, in der Risiken verallgemeinert werden sollen, an Wettbewerbsfähigkeit verlieren wird. Die Franzosen wollen eine Arbeitslosenversicherung in Europa einführen. Jetzt hat bereits Herr Scholz zum ersten Mal durchblicken lassen, dass er so etwas wie eine europäische Arbeitslosenagentur gut fände. Auch das ist neu. Das sind alles Dinge, die da jetzt passieren, die mit Großbritannien nie passiert wären. Und die einzige Hoffnung, die wir jetzt haben, ist Rutte, der holländische Premier. Aber er führt leider nur ein relativ kleines Land an. 

Wenn wir jetzt über einen neuen Deal reden, würde man damit den Briten nicht einmal mehr eine Rosinenpickerei durchgehen lassen?

Nein, schon das Wort Rosinenpickerei ist Unsinn. Je besser der Deal für die britische Wirtschaft ist desto besser ist er auch für unsere Industrie. Rosinenpickerei ist erfunden worden von den Leuten, die Großbritannien gar nicht in der EU wollen. Bei meinem letzten Besuch in Großbritannien haben mir sowohl Brexiteers als auch Remainers gesagt, wer zur Zeit eigentlich die größten Gegner der Remainers sind: Guy Verhofstadt, der im Europäischen Parlament dauernd für Eurobonds schwärmt und von den Vereinigten Staaten von Europa schwadroniert und der für die Verhandlungen zuständige EU-Kommissar Michel Barnier, der genau weiß, dass eine EU nach französischen Vorstellungen mit den Briten unmöglich ist.

Ein weiteres Problem für die Remainers ist der Labour-Anführer Jeremy Corbyn, denn potentielle Rebellen bei den Konservativen wollen zwar nicht den Brexit aber noch weniger wollen sie eine Labour-Regierung unter Corbyn. Für die ist das ein echtes Dilemma.

Wie Ernst ist es den Europäern damit, die Briten in der EU halten zu wollen?

Das kommt darauf an, mit wem Sie reden. Sicherlich kann man immer wieder differenzieren, aber das bringt dann auch nichts. Wenn ich die jetzt mal in Sippenhaftung nehme, dann gibt es die Franzosen, die sagen: Gott Sei Dank, dass die gegangen sind. Die merken jetzt, dass die Deutschen niemanden mehr haben, hinter dem sie sich verstecken können. Und die Deutschen wollen sich mit den Franzosen nicht anlegen. Und dann sind da die Verhofstadts in Europa. Das sind diese Träumer von den Vereinigten Staaten von Europa, die jetzt Morgenluft wittern. Die ignorieren völlig, dass als Nebenprodukt dieser Politik die ganzen Rechtsradikalen überall auftauchen und ihnen einen Strich durch die Rechnung machen.

Die deutsche Wirtschaft verhält sich ausgesprochen ruhig bei dem Thema.

Ja, das ist für uns ärgerlich und unverständlich. Die gleiche Situation wie beim Euro. Und was sagt der BDI? Wir brauchen eine Customs Union. Gut, das kann ich auch sagen. Im Übrigen verweist man darauf, dass es eine politische Entscheidung ist, nicht die ihre. Damit übergeben sie es der deutschen Bundesregierung, die verweist dann auf Herrn Barnier. Das bedeutet, dass die Bundesregierung beim Brexit schon abgedankt hat und den Franzosen das Feld überlässt. Das ist eine Schande. Ein Detail, das den meisten Deutschen wohl nicht klar ist: Raten Sie mal, wer nach dem Brexit der größte Kunde der EU sein wird? Großbritannien, noch vor China und den USA.

Wie hoch schätzen Sie die Chancen auf den Erfolg Ihrer Initiative ein?

Die liegen vielleicht bei zwanzig Prozent? Aber die Sache ist so bedeutsam, dass es sich lohnt. Wenn Großbritannien geht, ist es allein ökonomisch so, wie wenn 19 EU-Mitgliedsländer auf einmal gehen würden. Der Common Market, das beste was wir in der EUROPÄISCHEN überhaupt haben, wäre durch den Austritt Großbritanniens schwer beschädigt. Das alleine lohnt schon jeden Versuch, Großbritannien drinnen zu halten.

Welche Konsequenzen fordern Sie für die Europäische Union und speziell für Deutschland, sollte der Brexit stattfinden?

Wir sollten Großbritannien einen Deal anbieten, der sie faktisch im Binnenmarkt belässt. Und wir sollten uns mit den anderen Nordstaaten, Holland vorneweg, verbünden, um die EU subsidiär, eigenverantwortlich und wettbewerbsfähig zu erhalten. Wenn sich die EU sich dann in Richtung einer Haftungsgemeinschaft a la francaise entwickeln sollte, dann müssten wir auch gehen.

Fragen: Aljoscha Kertesz

 

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