„25 Frauen verlassen, 4 mal an Gräbern geweint“ Gottfried Benn und die Frauen

Rose im Schlossgarten von Mersburg, Foto: Stefan Groß

 Phänomenologie eines Doppellebens

Gottfried Benn war ein Virtuose des Doppellebens. Dieser Begriff passt zu seiner Selbstcharakterisierung als „schizoid“ oder „schizothym“. Er symbolisiert die Spaltung einer Einheit. „Doppelleben“ ist auch der Titel der umfangreichsten autobiographischen Schrift Gottfried Benns, die erstmals im Limes-Verlag im Jahre 1950 erschienen ist. In ihr beschreibt Gottfried Benn sein Doppelleben hinsichtlich künstlerischer Produktion und schöpferischer Kraft. Der Begriff des Doppellebens bezieht sich jedoch auch auf sein gelebtes Leben und hier insbesondere auf die Sphäre des Erotisch-Sexuellen. „Doppelleben“ wird im deutschen Sprachraum für heimliche erotische Affären verwendet: ein Mann oder eine Frau haben ein Doppelleben und dann zwangsläufig eine Doppelmoral. Das Benn-Zitat „25 Frauen verlassen/4 mal an Gräbern geweint“ weist auf die mannigfaltigen Gestaltungen seines erotisch-sexuellen Doppellebens hin. Aus seinem Hang zu diesem Lebensstil hat er nie ein Geheimnis gemacht. In seine Heimlichkeiten war sein Intimus Friedrich Wilhelm Oelze, ein Kaufmann aus Bremen, am besten eingeweiht. Mit ihm hatte er den umfangreichsten Briefwechsel (3 Bände).

„Viermal an Gräbern geweint“

Mit dem genannten Benn-Zitat stellen sich Benn-Kenner die Frage: An welchen Gräbern hat Gottfried Benn geweint und welche der 25 Frauen hat er verlassen? Um vier Frauen hat Gottfried Benn besonders getrauert und ihr Verlust hat ihn besonders schwer getroffen: seine Mutter, seine beiden ersten Ehefrauen Edith und Herta, sowie seine Geliebte Lilly Breda. Diese vier Frauen dürften in den Gräbern liegen, an denen Gottfried Benn geweint hat. In den Traueranzeigen dieser vier gestorbenen Frauen taucht der Name Gottfried Benn auf. Lilly Breda, deren Suizid bei ihm besondere Schuldgefühle ausgelöst hat, war die einzige nicht-familiäre Verstorbene, für die Benn eine Traueranzeige aufgegeben hat. Dies hat er in einem Brief an seine Ex-Geliebte Gertrud Zenses geschrieben.

Frauen im Leben von Gottfried Benn

Drei Arten von Frauenbeziehungen prägten die Lebenswelt von Gottfried Benn:

  1. die wichtigsten nahen Beziehungen zu Frauen in seinen Familien:

die eigene Mutter, die drei Ehefrauen und die eigene Tochter.

  1. Freundschaftliche Beziehungen, z.B. zu Thea Sternheim oder Margret Boveri.
  2. Erotisch-sexuelle Frauenbeziehungen, die von ihm heimlich und verborgen gelebt wurden als „temporäre Affären“. Hier war Gottfried Benn äußerst agil und vital. Viele Frauen haben keine Spuren hinterlassen, in dem Sinne, dass über diese Beziehungen keine literarischen Dokumente vorliegen. Die Zahl der Geliebten, deren ausführlicher Briefwechsel mit Gottfried Benn publiziert wurde oder die in anderen Briefen oder Schriften ausführlich erwähnt wurden, ist erstaunlich groß.

Der bunte Reigen der Geliebten

Eine Sonderrolle nimmt die Liebesbeziehung zu der Schriftstellerin Else Lasker-Schüler ein, die im Jahre 1912 begann. Sie ist die einzige Liebespartnerin, die wesentlich älter war als Gottfried Benn selbst: Beim Kennenlernen war Gottfried Benn 26 Jahre, Else Lasker-Schüler 43 Jahre alt. Ein bunter Reigen von Liebhaberinnen begegnet dem Leser der Benn‘schen Biographien und Briefe. Das Potpourri erinnert durchaus an das Theaterstück „Der Reigen“ von Arthur Schnitzler. Auch da geht es ja um sexuelle Affären. Das Beuteschema des Fraueneroberers Gottfried Benn ist relativ eindeutig. Fast alle Geliebten und Affären lassen sich in zwei Gruppen zuordnen:

  • Dichterinnen, Journalistinnen und Literaturwissenschaftlerinnen: Hierzu gehören Erna Pinner, Gertrud Zenses, Doris Hahn, Dorothea („Mopsa“) Sternheim, Käthe von Poroda, Astrid Claes und Ursula Ziebarth.

Die andere begehrte Gruppe waren

  • Schauspielerinnen und Sängerinnen. Hierzu zählen die „Dänin“ (Ellen Overgaard), Tilly Breda, Elinor Büller und Tilly Wedekind.

Hinzu käme noch die weltbekannte Fotografin Frieda Riess, die als „Circe vom Kurfürstendamm“ in die Literatur einging. Und da wäre dann noch „die Frau der blauen Stunde“, nach Benn die „seltsamste und gefährlichste Affäre“ seines Lebens. Über sie berichtete er an seinen Freund Oelze (Brief vom 26.1.1952). Benn war damals 65 Jahre alt. Er fühlte sich von ihr hingerissen und war ihr verfallen. An Oelze schrieb er:

„Keine sexuelle Hörigkeit von mir, ich wäre ja harmlos und uninteressant; sondern eine unheimliche innere Verbundenheit, deren Quellen weit zurückreichen müssen in kaum ahnbares psychisches Magma, in eine von grauen Vorzeichen verschleierte Doppelung meines Gens, das ich liebte und hasste und dem ich verfallen war.“ (G. Benn, Brief an F.W. Oelze vom 26.1.1952)

Liest man über diesen bunten Reigen der Benn’schen Geliebten, so bleiben einige Fragen offen, die selbst nach jahrzehntelanger Benn-Lektüre nicht alle auflösbar erscheinen. In großen Zügen erscheint die Chiffre „25 Frauen verlassen“ aber durchaus plausibel.

 

 

Literatur des Autors zu Gottfried Benn:

Csef, H., „Ich lebe vor dem Leib“. Der kranke und leidende Mensch in der Dichtung des Arztes Gottfried Benn. Daseinsanalyse 2 (1986) S. 305-316

Csef, H., Gottfried Benns Beziehung zur Neurologie und Psychiatrie. Fundamenta Psychiatrica 11, (1997) 107-111

Csef, H., Der kranke Mensch als „gezeichnetes Ich“ bei Gottfried Benn. In: Csef, H. (Hrsg.) Sinnverlust und Sinnfindung in Gesundheit und Krankheit. Könighausen & Neumann, Würzburg 1998, S. 361-371

Csef, H., Gottfried Benn. Ein Doppelleben zwischen Medizin und Lyrik. Der Allgemeinarzt. Heft 6 (2006), S. 70-71

Csef, H., Gottfried Benn. „… es gibt nur zwei Dinge: die Leere und das gezeichnete Ich“. Ärztliche Praxis Neurologie Psychiatrie. Heft 4 (2006), S. 44

Auswahl neuer Biographien und Handbuch (chronologisch)

Fritz J. Raddatz: Gottfried Benn. Leben – Niederer Wahn. Eine Biographie. Propyläen, Berlin 2001

Gunnar Decker: Gottfried Benn. Genie und Barbar. Biographie. Aufbau Verlag, Berlin 2006

Helmuth Lethen: Der Sound der Väter. Gottfried Benn und seine Zeit. Rowohlt, Berlin 2006

Joachim Dyck: Der Zeitzeuge. Gottfried Benn 1929-1949. Wallstein, Göttingen 2006

Wolfgang Emmerich: Gottfried Benn. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 2006

Christian Schärf: Der Unberührbare. Gottfried Benn – Dichter im 20. Jahrhundert. Aisthesis, Bielefeld 2006

Holger Hof: Gottfried Benn. Der Mann ohne Gedächtnis. Eine Biographie. Klett Cotta, Stuttgart 2011

Christian M. Hanna, Friederike Reents (Hrsg.): Benn-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. J.B. Metzler-Verlag, Stuttgart 2016

 

 

Über Herbert Csef 150 Artikel
Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.