Was ist Salafismus?

Apotheke, Foto: Stefan Groß

Tilman Nagel ist emeritierter Professor für Arabistik und Islamwissenschaften der Universität Göttingen. Er ist Verfasser bedeutender Standardwerke der Islamwissenschaft. Sein letztes Buch mit dem Titel „Was ist der Islam?: Grundzüge einer Weltreligion“ ist im März 2018 erschienen. Das Buch ist ein Muss für jeden, der den Islam verstehen will.

Salafisten erkennt man an der altmodischen Kleidung und der Bartfrisur. Deutsche Medien haben ein politisches Interesse, den Salafismus als radikale islamische Strömung darzustellen, um die übrigen Muslime als salafistenfern und somit als staatskonform durchgehen zu lassen. Für Salafisten gelten die Gebote des frühen Islam als Grundlage politischer Handlungen. Der Salafismus vertritt die Reinigung des Islam von späteren „Neuerungen“ und strebt eine Lebensweise ausschließlich nach den Prinzipien des Koran an. Ziel ist eine Umgestaltung des Staates, der Rechtsordnung und der Gesellschaft nach der salafistischen Ideologie. Die religiösen Gebote der Salafisten stehen für diese über den Gesetzen des deutschen Staates.

Tatsächlich ist Salafismus der reformierte Islam. Er ist kein politischer Islam als Antwort auf westliche Herausforderungen. Schon die Flagge des Islamischen Staates verdeutlicht es: Oben steht „Es gibt keinen Gott außer Allah!“ und deutlich abgetrennt darunter „Mohammed ist der Gesandte Allahs!“. Dies ist die Grundidee des Islams, nach der die „Altvorderen“ (salaf) zu Beginn des Islams leben. Der Salafismus ist der Weg zurück zu den Wurzeln. Ähnlich den Salafisten beginnen die Grünen ihren Aufstieg, der wie der der Salafisten, noch nicht den Höhepunkt erreicht hat. Der Salafismus ist ein reiner Islam ohne Ballast und Ausreden, die den wahren Islam verbergen. Der wahre Christ beherzigt die Lehre Jesus, der wahre Salafist die Lehre Allahs, die über den Erzengel Gabriel und Mohammed der Menschheit herangetragen worden ist.

Der Muslim, der die Regeln Allahs befolgt, ist ein Salafist. Die Bezeugung, dass es nur einen Gott gibt (tauhid) ist die größte Tat, die ein Mensch, sei er Muslim oder nicht, vollbringen kann. Jeder, der dies bezeugt, betritt irgendwann das Paradies. Wer gottgleiche Kräfte auf mehrere Götter oder Menschen und Tiere verteilt (Beigesellung, schirk) begeht die schwerstmögliche Verfehlung, die durch nichts aufgewogen werden kann und ewige Höllenqualen bedeutet. Die Eingottbezeugung ist das höchste Maß, nach dem der Mensch beurteilt wird: Der noch so anständige Polytheist (Christ) ist weniger wert als der sündige Bekenner des Eingottglaubens. Alle andere Gebote des Islam sind zweitrangig, gar wertlos, wenn die Eingottbezeugung fehlt. Wer das Wissen um den tauhid besitzt, weiß, dass Parlamentarismus, Demokratie, freie demokratische Wahlen, Nationalismus, Humanismus, Kapitalismus und Kommunismus verrucht polytheistisch sind. Auch darf der Salafist keine nicht-salafistischen Gerichtsbarkeit anerkennen. Wenn er dies trotzdem tut, verspielt er den Einzug ins Paradies und erleidet nach seinem Tod ewige unangenehme Höllenqualen. Der Salafist muss sich einer islamischen Vormacht unterordnen! Das Gegenteil von „tauhid“ ist „tagut“, was mit Götzendienst oder Christentum übersetzt wird.

Dem Salafisten ist es erlaubt, bei (nicht für) einem Ungläubigen zu arbeiten, was jedoch nicht wünschenswert ist. Ein Urteil eines Ungläubigen über die Scharia ist unzulässig. Philosophen sind tagut, weil sie vorgeben, mit eigener Kraft die Wahrheit zu finden.

Alles, was im Universum geschieht, geschieht nach dem Willen Allahs. Der Mensch ist verantwortlich: für seine schlechten Taten wird er bestraft, für seine guten belohnt. Hier tut sich für dem abendländisch tagut-Sozialisierten ein Widerspruch auf, da Allah als ständig schöpfender Gott alles immerzu bestimmt. Allah sollte somit für die Taten der Menschen verantwortlich sein! Das wird mit folgenden Worten beantwortet: Der Verstand, der Allah dem Menschen gibt, kann diese beiden Prinzipien, Vorbestimmung und Verantwortung, nicht begreifen. Es ist ein göttliches Geheimnis. Darüber zu streiten, auf Einzelheiten einzugehen, Widersprüche zu suchen, ist Ursache des Verderbens und Eintretens in den Unglauben.

Der Salafismus steht in keinem Gegensatz zum anerkannten Islam. Der offiziell anerkannte Islam in der EU benötigt den Salafismus, um sich von ihm als demokratisches Konstrukt abzusetzen. Der konservativ und gesetzestreu sich gebende, gleichzeitig unbedeutende Zentralrat der Muslime erlässt im Februar 2002 eine Islamische Charta, die einstimmig beschlossen auf zentralrat.de/3035.php nachlesbar ist. Doch selbst im „demokratischsten“ Islam des Zentralrats der Muslime erkennt der Islam-Wissende die starke Nähe, wenn nicht die Gleichheit mit dem Salafismus.

Dort erfährt man unter Punkt 5 der Charta, dass Muslime glauben, dass der Mensch, soweit er freien Willen besitzt, für sein Verhalten allein verantwortlich ist und dafür am Jüngsten Tag Rechenschaft ablegen muss. Dass eigentlich Allah an den Missetaten der Menschen verantwortlich ist, wird wohlweislich unterschlagen, um Verderben und Eintreten in den Unglauben zu verhindern.

Sehr salafistisch geht es unter Punkt 10: „Muslime dürfen sich in jedem beliebigen Land aufhalten, solange sie ihren religiösen Hauptpflichten nachkommen können. Das islamische Recht verpflichtet Muslime in der Diaspora, sich grundsätzlich an die lokale Rechtsordnung zu halten. In diesem Sinne gelten Visumserteilung, Aufenthaltsgenehmigung und Einbürgerung als Verträge, die von der muslimischen Minderheit einzuhalten sind.“

Muslime dürfen sich in jedem beliebigen Land aufhalten, Ungläubige nicht. Muslime in der Diaspora, sind grundsätzlich verpflichtet, sich an die lokale Rechtsordnung zu halten, solange sie ihrer religiösen Hauptpflicht nachkommen können. Die religiöse Hauptpflicht ist der tauhid: Parlamentarismus, Demokratie, freie demokratische Wahlen, Nationalismus, Humanismus, Kapitalismus und Kommunismus müssen abgeschafft werden! Die Eingottbezeugung wird verschämt unter Punkt 7 versteckt: Die fünf Säulen des Islam.

Punkt 8: Der Islam ist Glaube, Ethik, soziale Ordnung und Lebensweise zugleich. Der Islam ist angewandte Religion und somit Politik. Der Islam ist Salafismus. „Wo auch immer, sind Muslime dazu aufgerufen, mit Glaubensgenossen in aller Welt solidarisch zu sein.“ Wir haben gelernt, dass die Abschaffung des tagut, nämlich der abendländischen Ethik, dazu gehört.

Punkt 11: Muslime bejahen das Grundgesetz. Daher akzeptieren Muslime das Recht, die Religion zu wechseln, eine andere oder gar keine Religion zu haben. Der Koran untersagt jede Gewaltausübung und jeden Zwang in Angelegenheiten des Glaubens. Dies ist eine leicht überprüfbare Lüge. Die berüchtigte Sure 2, Vers 256 – 257 lauten hingegen ganz klar:

Es gibt keinen Zwang im Glauben. Der Weg der Besonnenheit ist klar unterschieden von dem der Verirrung. Wer falsche Götter verleugnet, jedoch an Allah glaubt, der hält sich an der festesten Handhabe. Allah ist der Schutzherr derjenigen, die glauben. Diejenigen aber, die ungläubig sind, deren Schutzherren sind die falschen Götter. Sie bringen sie aus dem Licht hinaus in die Finsternisse. Das sind Insassen des Höllenfeuers. Ewig werden sie darin bleiben.

Die Drohung mit ewigen Höllenfeuer zählt wohl nicht als Zwang! Der Zwang im Glauben betrifft nur die ungläubigen Nichtmuslime. Indoktrinierte Rechtgläubigen bedürfen keines Zwanges.

12: „Wir zielen nicht auf Herstellung eines klerikalen Gottesstaates ab. Vielmehr begrüßen wir das System der Bundesrepublik Deutschland, in dem Staat und Religion harmonisch aufeinander bezogen sind.“ Wir möchten von der islamischen Harmonie, die in Saudi-Arabien und in der Türkei vorherrscht, verschont bleiben.

13: Es besteht kein Widerspruch zwischen der islamischen Lehre und dem Kernbestand der Menschenrechte.

 

Interessant.

 

14: Die europäische Kultur ist vom klassisch griechisch-römischen sowie jüdisch-christlich-islamischen Erbe und der Aufklärung geprägt. Sie ist ganz wesentlich von der islamischen Philosophie und Zivilisation beeinflusst. Auch im heutigen Übergang von der Moderne zur Postmoderne wollen Muslime einen entscheidenden Beitrag zur Bewältigung von Krisen leisten. Dazu zählen u.a. die Bejahung des vom Koran anerkannten religiösen Pluralismus, die Ablehnung jeder Form von Rassismus und Chauvinismus sowie die gesunde Lebensweise einer Gemeinschaft, die jede Art von Süchtigkeit ablehnt.

Hier darf sich der Leser seine eigenen Gedanken über den religiösen Pluralismus in Saudi-Arabien und anderswo in islamischen Staaten, einschließlich des IS machen. Die Ablehnung jeder Art von Süchtigkeit (Alkohol, Schweinefleisch, Monogamie) sollte den Leser zu denken geben. Bei „Bewältigung von Krisen“ wären wir schon dankbar, wenn Muslime weltweit keine Krisen mehr anzetteln würden.

15: Die islamische Lehre ist aufklärerisch und bleibt von ernsthaften Konflikten zwischen Religion und Naturwissenschaft verschont.

Fetullah Gülen, SZ vom 16.08.2016 (früherer Weggefährte des demokratisch gewählten türkischen Sultans):

Koran und Hadith (Überlieferungen des Propheten Mohammed) sind wahr und absolut. Wissenschaft und wissenschaftliche Fakten sind wahr, solange sie mit Koran und Hadith übereinstimmen. Sobald sie eine andere Position einnehmen oder von der Wahrheit von Koran und Hadith wegführen, sind sie fehlerhaft.

20: Erlaubnis des lautsprechverstärkten Gebetsrufs, Respektierung islamischer Bekleidungsvorschriften in Schulen und Behörden.

Heute werden solche Forderungen unter „Spaltung der Gesellschaft“ eingeordnet.

 

 

Tilman Nagel

Was ist der Islam?: Grundzüge einer Weltreligion.

Duncker & Humblot

ISBN-10: 342815228X

ISBN-13: 978-3428152285

695 Seiten

EUR 39,90

 

 

 

Über Nathan Warszawski 535 Artikel
Dr. Nathan Warszawski (geboren 1953) studierte Humanmedizin, Mathematik und Philosophie in Würzburg. Er arbeitet als Onkologe (Strahlentherapeut), gelegentlicher Schriftsteller und ehrenamtlicher jüdischer Vorsitzender der Christlich-Jüdischen Gesellschaft zu Aachen.