Der folgende Artikel basiert auf den Buchartikel: „Der inspizierte Muslim“, herausgegeben 2018 von Schirin Amir-Moazami. In diesen Buch aus dem transcript-Verlag werden neueste Ergebnisse der Islamforschung vorgestellt.
Ein Kleidungsstück hat neben einer praktischen, zuweilen eine gesellschaftliche Bedeutung, die positiv oder negativ sein kann, selten indifferent. Das Kleidungsstück, welches das Haar, teilweise auch das Gesicht der Frau verhüllt, hat eine lange Geschichte und einen tiefen Bezug zur Gesellschaft, zur Religion und zu weiteren Traditionen, die sich in den Jahrhunderten angesammelt haben. Kopftücher werden nicht nur von Muslima getragen, auch die emanzipierte Europäerin trägt ihn. Die Gründe, ein Kopftuch zu tragen, können bei Muslima und emanzipierte Europäerinnen ähnlich oder gleich sein, gewöhnlich differieren sie in einem gewaltigen Ausmaß.
Die Frage, ob das Kopftuch der Frau unterdrückend oder emanzipatorisch ist, wird im Buch zwar in England, jedoch in einer liberalen europäischen Umgebung analysiert und nicht in einer islamisch dominierten Mehrheitsgesellschaft. Dies ist jedoch nicht unbedingt notwendig, da bestimmte Gründe und Zwänge zum Tragen eines Kopftuches sich in der westlichen Demokratie und im islamischen Patriarchat überschneiden.
Zuvor wird festgestellt, dass in einer freien und toleranten Gesellschaft sich jeder kleiden darf, wie es ihm, meistens ihr, gefällt, solange die Regeln des Anstandes, der Kommunikation und der Gewohnheit nicht gebrochen werden. Eine Richterin setzt im Gericht einen Richterhut auf, eine Narr im Karneval eine Narrenkappe. Richterhut und Narrenkappe sind historisch verwandt! Außerhalb des Gerichtsgebäudes und des Karnevals sind Richterhüte und Narrenkappen selten und können beim Tragen zu gesellschaftlichen Konsequenzen führen. Beim Kopftuch verhält es sich umgekehrt. Auf der Straße wird es oft beobachtet, bei Gericht zuweilen geahndet, insbesondere wenn es sich um ein Gesicht verhüllendes Kleidungsstück handelt. Auch der Zutritt zu Banken wird erschwert.
Es ist allgemein akzeptiert, dass Frauen, Kinder und Männer an einem kalten Wintertag eine warme Kopfbedeckung tragen, um Erfrierungen vorzubeugen. Die biologische Notwendigkeit dieses Kopftuches ist einsichtig und sofort dadurch erkennbar, dass sie geschlechtsunabhängig ist. Bei dem sich aufheizenden schwarzen Tuch, welches in der Wüste Arabiens in der größten Hitze nur von Frauen getragen wird, getragen werden muss, kann es sich folglich nicht um eine biologische Notwendigkeit handeln. Frauen, die sich des Tragens dieser Kopfbedeckung in dieser muslimischen Öffentlichkeit entziehen, werden folgerichtig sanktioniert.
Worauf beruht das Vorgehen der Kleiderwahl? Eine Erklärung: Alle Kulturen der Welt blicken auf eine patriarchale Vergangenheit zurück. Im Patriarchat ist die Frau ein wertvoller Besitz des Mannes, welches bestens geschützt und abgeschirmt werden muss, damit die Ehre der Frau und der Familie nicht beschädigt wird. Westliche Kulturen haben sich vom Patriarchat befreit. Stößt das Patriarchat auf eine fortschrittliche feministische Zivilisation, so sollte automatisch ein Spannungsverhältnis zwischen Feministen und von Patriarchen unterdrückten Muslima entstehen, was nicht der Fall ist. Viele Feministen versagen hier. Sie betrachten den Schleier als Zeichen des Feminismus! Manche Feministinnen versteigen sich dazu, selber Haare und Gesicht zu verhüllen, andere treten aus Solidarität dem Islam bei, wobei sie gewöhnlich unbemannt bleiben.
Frauen, die als Minderjährige gezwungen werden, ein Kopftuch zu tragen, fühlen sich später ohne Kopftuch nackt. Eine freiwillige Entscheidung für oder gegen das Kopftuch ist nicht möglich. Auch das Verhältnis zur Sexualität nimmt Schaden. Kopftuch bei Kindern fällt somit unter Kindermissbrauch.
Ein Kleidungsstück an sich erscheint weder emanzipatorisch, noch unterdrückend. Es ist die Gesellschaft, die bestimmt, ob das Kleidungsstück als emanzipatorisch oder als unterdrückend zu gelten hat. So ist es vorstellbar, dass eine unsichere Muslima außerhalb ihres islamistischen Kulturkreises gerne ein Kopftuch trägt, um sich hinter einem Stück Heimat und Tradition zu verstecken. Man kann dies als „Selbstunterdrückung“ ansehen, gewöhnlich beruht ein solches Verhalten auf Unsicherheit und nicht erreichte gesellschaftliche Reife und somit fehlende Teilhabe im neuen liberalen Kulturkreis. Während in islamistischen Staaten die öffentliche weibliche „Unzucht“ von Europäerinnen streng verfolgt wird, wird im Westen die (Selbst)Unterdrückung einer Muslima übersehen, weil es bequem ist, sie als „freiwillig“ und „selbstbestimmt“ einzustufen. Der islamische Staat verbietet die Unzucht, weil er den Verlust seiner auf das Patriarchat basierende Macht befürchtet. Saudi-Arabien geht somit ein gefährliches Wagnis ein, den Frauen das Autofahren zu erlauben. Dabei geht auch der liberale feministische Westen ein gleichwohl gefährliches Wagnis ein: Die weibliche muslimische Verhüllung dient nämlich dem Schutz vor sexuellen Übergriffen, die von muslimischen Männern ausgehen. Die muslimischen (und nicht-muslimischen) männlichen Angreifer beschränken sich jedoch nicht allein auf Muslima als Opfer! Die Verhüllung der Nicht-Muslima in der Öffentlichkeit könnte bald eine Notwendigkeit werden, die sich hinter der „freien“ Entscheidung verbirgt.
Eine bisher unter Verschluss gehaltene Befragung in Großbritannien von Hijab tragenden Frauen ergibt, dass die Muslima das Tragen des Kopftuches nicht als eine freie Wahl ansieht (s. Kindermissbrauch). Die meisten befragten Muslima begreifen das Tragen eines Kopftuches als eine „Pflicht zur tugendhaften Lebensführung, um Allah zu gefallen“.