Walther Ch. Zimmerli: Die ewige Wiederkehr der Intellektuellen

Die ewige Wiederkehr der Intellektuellen1

Die Intellektuellen, immer wieder einmal totgesagt, leben noch. Zumindest sieht es für die Betrachter der deutschsprachigen Szene so aus, auch wenn einige behaup­ten, dass die hiesigen Intellektuellenstreitigkeiten kleinlicher und gehässiger ausge­tragen würden als diejenigen in Frankreich. Wie auch immer: in Deutschland be­wegt wieder einmal ein Sturm den Blätterwald. Gewiss, es mag mehr ein Sturm im Wasserglas sein, aber für deutsche Verhältnisse ist es bereits ein veritabler Orkan, und zwar – endlich wieder einmal! – ein Intellektuellenstreit, pikanterweise ange­zettelt ausgerechnet im Vorgarten der Frankfurter Lordsiegelbewahrer der Kriti­schen Theorie. Auf einen kulturkritisch motivierten fiskalphilosophischen Aufsatz Peter Sloterdijks in der FAZ2, in dem er vorschlug, das Steuersystem mehr auf die großzügige Freiwilligkeit des Gebens als auf die zähneknirschende Einwilligung zum Beraubtwerden zu gründen, reagierte Axel Honneth in der ZEIT mimosenhaft pikiert, obwohl (oder weil?) er gar nicht angegriffen worden war.3 „Fatalen Tiefsinn“ warf er dem derzeit bundesweit führenden Großintellektuellen Sloterdijk vor, genauer noch: „fatalen Tiefsinn aus Karlsruhe“. Warum in aller Welt – will der dekonstruktivistisch geschulte Leser wissen – diese Formulierung? Was will uns ein solcher Titel – vielleicht hinter dem Rücken seines Autors – eigentlich sagen? Nun muss man wissen, dass das zwar beleidigend gemeint war, warum es aber eher beleidigt klingt: „Karlsruhe“ ist nämlich, seit der Exzellenzwettbewerb zwi­schen den deutschen Universitäten tobt, zum Synonym der Kränkung geworden: Eine schnöde Technische Hochschule läuft vielen alten und neuen intellektuellen Hochburgen des akademischen Tiefsinns den Rang ab! Dass Peter Sloterdijk gar nicht Rektor dieser Karlsruher Kränkungsursache, sondern der in diesem Kontext unverdächtigen dortigen Staatlichen Hochschule für Gestaltung ist, spielt in die­sem Kontext narzisstischer Kränkung keine Rolle. Wie auch immer: die deutschen Intelligenzblätter hatten ihren Streit, und der in dieser Hinsicht – da hat Sloterdijk sicher Recht – wahrlich nicht verwöhnte deutsche Leser nahm es mit leicht er­schauderndem Vergnügen zur Kenntnis. Alle waren's zufrieden, insbesondere die anderen Intellektuellen, die sich nun alle über die beiden Streithähne hermachten. Und Sloterdijk erhielt auf diese Weise sogar noch die Gelegenheit, seine Replik in staatsmännischer Pose nicht zur kleinlichen Vergeltung, sondern zu einem großen „Aufruf für eine Zeitenwende“ – ja sogar in aller Bescheidenheit zu einem „bürger­lichen Manifest“ im Magazin CICERO zu nutzen.4

Die Kulturtechnik der Schrift und die Intellektuellen

Warum nur gerät bei diesem Streit (wenn es denn einer ist) das Thema immer mehr aus dem Blick? Vermutlich weil es sich um einen typischen Intellektuellen­streit handelt. Und das heißt, dass man wissen muss, dass und wozu es Intellek­tuelle gibt. Seit mehr als drei Jahrtausenden – in anderen Kulturen sogar noch länger – kennen wir die Kulturtechnik der Schrift. Aus den grauen Vorzeiten der „oral tradition“ heben sie sich hervor wie die Berggipfel aus dem Hochnebel, die großen Schriftdokumente. Zwar macht es keinen Sinn, alle, die des Schreibens mächtig sind, als „Intellektuelle“ zu bezeichnen, aber es kann kein Zweifel daran bestehen, dass diese eine echte Teilmenge von jenen sind. Daher liegt auch die Vermutung nahe: So lange es die Kulturtechnik des Schreibens gibt – und das wird vermutlich so lange sein, wie es Menschen geben wird gibt es auch Intellektuel­le. Denn sie sind, um mit Dahrendorf zu sprechen, „Menschen, die mit dem und durch das Wort wirken. Sie reden, sie diskutieren, sie debattieren, vor allem aber schreiben sie. Die Feder, die Schreibmaschine, der Computer ist ihre Waffe oder besser, ihr Werkzeug und Instrument. Sie wollen, dass andere, möglichst viele andere, hören oder besser noch lesen, was sie zu sagen haben. Ihr Beruf ist die kritische Begleitung des Geschehens.“5
Wenn Dahrendorf nun hinzufügt, dass, weil Intellektuelle vom Schreiben lebten, nicht überrasche, dass viel über sie geschrieben werde, klingt das zwarprima facie plausibel, ist es aber nur in einer bestimmtem Hinsicht; schließlich werden Sänger auch nicht überdurchschnittlich oft besungen und Holzfäller werden nur selten ge­fällt. Was also damit gemeint ist, muss etwas anderes sein, und zwar sowohl, was den Befund als auch, was dessen Erklärung betrifft. Wir bezeichnen, wie gesagt, nicht alle Mitglieder der schreibenden Zunft als Intellektuelle, vielmehr bedarf es noch einiger zusätzlicher Bedingungen; Dahrendorf bezieht sich zum einen auf Karl Mannheims berühmt gewordene Bestimmung, Intellektuelle seien nicht an eine bestimmte soziale Stellung gebunden, sondern „freischwebend“6, und zum ande­ren auf Schumpeters vor dem Hintergrund von Marx und Engels formulierte Annah­me, die Intellektuellen seien durch die Fähigkeit charakterisiert, die gesellschaft­lichen Verhältnisse, einschließlich ihrer eigenen Stellung in diesen, kritisch zu re­flektieren.7 Kurz: Intellektuelle sind freischwebende Ideologiekritiker. Das wiederum erkläre, warum so viele bürgerliche Intellektuelle zu Wegbereitern der proletari­schen Revolution geworden seien.
Wenn das aber gilt, fragt sich, ob es denn jetzt, nach dem Scheitern der proletari­schen Revolution oder, wie Fukuyama meint, nach dem „Ende der Geschichte“8, die Intellektuellen, die es noch gibt, überhaupt noch geben darf, und falls ja: wozu? Was auch immer man als Antwort auf diese Frage geben mag, eines gilt auf jeden Fall: Es gibt kaum eine Spezies in der Gattung der Schreiberlinge, die im Verlauf des letzten halben Jahrhunderts häufiger totgesagt worden wäre als die der Intellektu­ellen, und zwar von anderen Mitgliedern derselben Spezies. So dass man pointiert formulieren könnte: Spätestens seit der Mitte des 20. Jahrhunderts sind Intellek­tuelle zu bestimmen als diejenigen schreibenden freischwebenden Ideologiekriti­ker, die über den Tod oder des Ende anderer Sorten von freischwebenden Ideolo­giekritikern schreiben.
Diese nach kannibalischer Selbstverstümmelung klingende Behauptung lässt sich jedoch mit Inhalt füllen, wenn man sie genauer differenziert und typologisiert. Un­tersucht werden sollen dabei zwei selbstbezügliche Iterationsschleifen der Selbst­kritik von Intellektuellen, die sich durch die Namen Noam Chomsky und Paul John­son illustrieren lassen. Es versteht sich von selbst, dass es sich dabei nur um einen Ausschnitt aus einer exemplarischen Skizze einer Typologie handeln kann, in der zudem verschiedene Methodologien leitend sind.

Vom Intellektuellen zum Experten

Mit dem gewichtigen Titel „Die Verantwortlichkeit der Intellektuellen“ kündigt Noam Chomsky, selbst einer der bedeutendsten Wissenschaftler und Intellektuel­len der USA, die Richtung an, in die sein Vortrag in Harvard wies, der 1966 inMo­saicveröffentlicht und im Februar 1967 in der New York Review of Bookswieder abgedruckt wurde: Es geht ihm nicht nur um Wahrheit, sondern auch um Moral. „Die Intellektuellen haben die Verantwortung, die Wahrheit zu sagen und Lügen aufzudecken.“9 Der konkrete Fall, um den sich Chomskys politische Argumentatio­nen seit den Sechzigerjahren drehen, ist der Vietnamkrieg und die nach seiner Auf­fassung sich darum rankende Ideologie der Täuschung und Verschleierung. Einezentrale Rolle in Chomskys Überlegungen spielt Daniel Bells Essay über „Das Ende der Ideologie“10, in dem dieser argumentiert, im Westen hätten die Intellektuellen das Interesse daran verloren, Ideen zum Zweck der radikalen Veränderung der Ge­sellschaft in soziale Hebel zu verwandeln. In unserer pluralistischen Gesellschaft des Wohlfahrtsstaats bestehe keine Notwendigkeit mehr, die Gesellschaft radikal zu verändern, und dieser Konsens der Intellektuellen bedeute das Ende der Ideolo­gien.
In klassisch ideologiekritischer Haltung stellt Chomsky demgegenüber die Frage „Cui bono?“ und weist darauf hin, dass Bell es unterlassen habe zu fragen, welche Rolle die Intellektuellen denn im Wohlfahrtsstaat eigentlich spielten, nämlich die einer Experten-Leistungselite. „Der gelehrte Experte ersetzt den 'unabhängigen Intellektuellen', der 'fühlte, dass die falschen Werte hochgehalten werden, und sich deshalb gegen die Gesellschaft stellte' und der jetzt seine politische Rolle ausge­spielt hat.“11 Chomskys Erwiderung darauf fällt im Sinne traditioneller Ideologiekri­tik erwartungsgemäß aus: „Möglicherweise stimmt es, dass die technischen Ex­perten, die die 'postindustrielle Gesellschaft' lenken werden (oder zu lenken hoffen), in der Lage sein werden, die klassischen Probleme zu bewältigen, ohne dass dazu eine radikale Veränderung der Gesellschaft notwendig ist.“12

Expertiseerschleichung und Gewaltblindheit


Chomskys Gedanken über die moralische Rolle des Intellektuellen sind eine Sache, eine andere dagegen ist seine eigene moralische Rolle als Intellektueller. Und wie nicht anders zu erwarten, ist es wieder ein Intellektueller, der über Chomsky als Intellektuellen schreibt: Paul Johnson publizierte 1988 einen Bestseller „Intellec­tuals“, in dem er anhand der Beschreibung des Zusammenhangs zwischen intellek­tuellen Höchstleistungen herausragender Denker und deren Biographie so etwas wie eine sozialpsychologische Typologie der Intellektuellen über die letzten beiden Jahrhünderte hinweg zu entwerfen versucht. Dabei spielt-ähnlich wie bei Choms­ky – die moralische Frage nach dem Umgang der Intellektuellen mit der Wahrheit eine entscheidende Rolle. Allerdings wird der Spieß nun umgedreht: Auf dem Prüf­stand steht Chomskys eigene Rolle, insbesondere hinsichtlich seiner politischen Stellungnahmen zur Ostasienpolitik der USA im Allgemeinen und zum Vietnam­krieg im Besonderen.
Johnson macht dabei auf ein weiteres Charakteristikum der Intellektuellen – jeden­falls derjenigen des 20. Jahrhunderts – aufmerksam, das ich selbst in anderem Zusammenhang als „Kompetenzerschleichung“ bezeichnet habe13 und das John­son so beschreibt: „The temptation for such celebrities is to use the capital they have acquired from eminence in their own discipline to acquire a platform for their views in public issues.“14Diese – sicherlich durch unsere Mediengesellschaft und ihren Narzissmus noch verstärkte – Tendenz der Intellektuellen zur Selbstüber­schätzung mündet in ein gebrochenes Verhältnis zur Gewalt ein, das Johnson mit­hin ebenfalls als ein Charakteristikum von Intellektuellen betrachtet. Am Beispiel Chomskys lässt sich nach Johnson beides im Zusammenhang zeigen: Seine be­deutende Leistung auf dem Gebiet der generativen Grammatik bestand in der Identifizierung sprachlicher bzw. grammatikalischer Universalien, was für ihn als hinreichende Widerlegung einer „Tabula rasa“-Theorie der menschlichen Seele galt. Wenn nämlich zutreffe, dass die menschliche Seele über genuine Bestände angeborener Kompetenzen verfügt, dann müsse jeder Versuch, anderen Menschen imperialistisch eine ihnen fremde Kultur bzw. Denkweise aufzuoktroyieren, un­menschlich und grausam sein. Als einen solchen Versuch betrachtete Chomsky aber die Ostasien- und speziell die Vietnampolitik der USA. Wenn Chomskys Theorie der angeborenen Kompetenzen überhaupt zutreffend sei, dann stelle dies – so argumentiert umgekehrt Johnson – einen Einwand gegen jede Art von totalitärer Sozialtechnologie, einschließlich insbesondere derjenigen der kommunistischen Regime, dar, gegen die sich ja die Ostasien- und besonders die Vietnampolitik der USA gerade gerichtet habe. Johnsons Argument gewinnt – nicht nur im Lichte des zwischenzeitlich erfolgten Zusammenbruchs des Sozialis­mus – an Plausibilität durch die absurden Konsequenzen, zu denen sich Chomsky bei dem in seinem System durchaus folgerichtigen, wenn auch fatalen, Versuch versteigt, die Gräuel im Zusammenhang der Schreckensherrschaft Pol Pots in Kam­bodscha nach dem Abzug der Amerikaner aus Vietnam zu rechtfertigen. Die an der Person Chomskys wie an vielen anderen Beispielen demonstrierte fata­le Tendenz der Intellektuellen, ihre eigene Fachkompetenz mit der überlegenen Fähigkeit zu verwechseln, öffentlich-politische Angelegenheiten moralisch zu be­urteilen, bringt Johnson zu einem zweifachen Fazit: „The belief seems to be spreading that intellectuals are no wiser as mentors, or worthier as exemplars, than the witch doctors or priests of old. (…) I share that scepticism. (…) But I would go further. One of the principal lessons of our tragic century, which has seen so many millions of innocent lives sacrificed in schemes to improve the lot of humanity, is beware intellectuals. Not merely should they be kept well away from the levers of power, they should also be objects of particular suspicion when they seek to offer collective advice.“15
Wenn das zutrifft, dann ist damit in Sachen Intellektuelle ein neues Kapitel in der „Geschichte eines Schimpfworts“16 eröffnet. Für den „fatalen Tiefsinn aus Karls­ruhe“ gilt ebenso wie für seine fatale Kritik aus Frankfurt: Hütet Euch vor den Intellektuellen, wenn sie nach der Macht greifen oder allgemeinpolitischen Rat ge­ben wollen! Zum Glück tun das aber weder Sloterdijk noch Honneth; die Rolle der Intellektuellen ist wieder auf die der Hofnarren reduziert: unangenehme Wahr­heiten sagen zu dürfen und in unterhaltsamer Form für die Galerie zu spielen. Die Intellektuellen sind weder tot noch überflüssig; vielmehr kehren sie aus den er­wähnten Gründen immer wieder. Aber sie sind derzeit gerade nicht wirklich an­steckend und daher auch nicht gefährlich. Zahnlose Tiger dürfen gefahrlos beißen, und man kann sie dabei sogar noch streicheln…

1Für Michael Fischer, einen der letzten europäischen Intellektuellen, zum 65. Geburtstag.
2Vgl. Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: FAZ, 13. Juni 2009.
3Axel Honneth, Fataler Tiefsinn aus Karlsruhe. Zum neuesten Schrifttum des Peter Sloterdijk, in: DIE ZEIT, Nr. 40, 24. September 2009.
4Vgl. Peter Sloterdijk, Aufbruch der Leistungsträger, in: CICERO, November 2009, 95-2007.
5Rolf Dahrendorf, Versuchungen der Unfreiheit. Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung, Mün­chen 2006, 21.
6Karl Mannheim, Ideologie und Utopie, 5. Aufl., Frankfurt a.M. 1969, 135, 137.
7Vgl. Joseph Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 1942, dt. von Susanne Preiswerk, Bern 1946.
8Vgl. Francis Fukuyama, The End of History and the Last Man, New York 1992.
9Noam Chomsky, Die Verantwortlichkeit der Intellektuellen. Zentrale Schriften zur Politik, hg. v. Anthony Amove, München 2008,14.
10Vgl. Daniel Bell, The End of Ideology: On the Exhaustion of Political Ideas in the Fifties, New York 1960, 369-375.
11Ebd., 34.
12Ebd.
13Vgl. Walther Ch. Zimmerli, Zur Dialektik des technisch-wissenschaftlichen Expertentums, in: Ders./Hansjörg Sinn (Hg.), Die Glaubwürdigkeit technisch-wissenschaftlicher Informationen, Düsseldorf 1990,1-8. Ders., Entertainer, Schamanen und der ungläubige Thomas. Zeitdiagnos­tische Bemerkungen zum Strukturwandel von Glaubwürdigkeit und Ethik in den Wissenschaf­ten, in: unizürich 2/1993, 7-12.
14Paul Johnson, Intellectuals, New York 1988, 338.
15Ebd., 342.
16Vgl. Dietz Bering, Die Intellektuellen. Geschichte eines Schimpfwortes, Stuttgart 1978.

Über Zimmerli Walther Ch. 9 Artikel
Prof. Dr. Dr. Walther Christoph Zimmerli, geboren 1945, studierte Philosophie, Germanistik und Anglistik in Göttingen und Zürich. Nach Professuren an der Technischen Universität Braunschweig und den Universitäten Bamberg und Erlangen-Nürnberg hatte er seit 1996 den Lehrstuhl für Praktische Philosophie der Philipps-Universität Marburg inne. Von 1999 bis 2002 war Zimmerli der Präsident der privaten Universität Witten/Herdecke, von 2002 bis 2007 Mitglied im Topmanagement und Präsident der AutoUni des Volkswagen Konzerns. Seit 2002 ist er Ehrendoktor der University of Stellenbosch (Südafrika) und seit 2007 Präsident der Technischen Universität Cottbus.

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