Der Staat trägt kein Kreuz. Der Ministerpräsident Söder trug ein Kreuz vor die Presse-Fotographen, um den Kabinettsbeschluss zu bekräftigen, der in den staatlichen Empfangsräumen Bayerns die Anbringung des Kreuzes zu dekretiert. Aus Sicht des neuen bayerischen Ministerpräsidenten bedarf es eines deutlichen Bekenntnisses zu christlichen Traditionen, wenn immer mehr Bürgerinnen und Bürger angesichts wachsender muslimischer Bevölkerungsanteile und internationaler Konflikte, die teilweise im eigenen Land ausgetragen werden, um ihre kulturelle Identität fürchten. Dies darf man nicht der AfD überlassen. Rechts von der CSU darf es keine relevante politische Kraft geben. Das Vermächtnis von Franz Josef Strauß will Markus Söder erfüllen. Die Symbolik dieses Auftritts und des Kabinettsbeschlusses allerdings ist ambivalenter, als es Söder offenbar bewusst war. Die geschwurbelten Erklärungen, die am Tage darauf von ihm nachgeschoben wurden, belegen das. Söder, selbst Jurist, war offenbar klar geworden, dass ein einseitiges Bekenntnis des Staates zu einer bestimmten Form von Religiosität verfassungswidrig wäre, es widerspräche dem Neutralitätsgebot des Grundgesetzes. Auch die Bayerische Verfassung, die einen stärkeren Gottesbezug enthält als das Grundgesetz, hilft da wenig, da die normative Grundordnung durch das Grundgesetz und die Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht in Deutschland bestimmt ist. Bayern gehört zu Deutschland. Söder betonte die kulturelle, um nicht zu sagen folkloristische, Rolle des Kreuzes in Bayern und da hat er recht. Gipfelkreuze, Marterln, Kapellen und Kirchen sind keine Symbole der Ausgrenzung. Sie zeigen lediglich, in welchem Umfang die Kultur in Bayern über Jahrhunderte von christlichem Glauben und Gebräuchen geprägt war. Der Umgang gehört zum altbayerischen Dorf und die zahlreichen protestantischen Preußen, die im Laufe der letzten Jahrzehnte zugezogen sind, würden irritiert sein, wenn er nicht mehr stattfände. Im modernen Bayern ist das Kreuz gewissermaßen gutmütig geworden: Die katholischen, wie die evangelischen Kirchen stehen Gläubigen, wie Ungläubigen offen. Die Marterln am Wegesrand laden auch den atheistischen Wanderer zu Rast ein, unter dem Kreuz in der Wirtsstube werden Muslime, Juden, Hindus, Christen und Humanisten gleichermaßen freundlich bedient. Aber es ist nicht der Staat, der die Marterln am Wegesrande und die Kirchen gebaut hat, der Staat veranstaltet keine Prozessionen und Wallfahrten. Der säkulare Staat trägt kein Kreuz. Wer, wie zahlreiche Theologen und auch einige katholische Philosophen, behauptet, Art. 1, Abs. 1 GG „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ sei gar nicht verständlich, ohne die christliche Interpretation des Menschen als Ebenbild Gottes, der spaltet: Er schließt all diejenigen, die das christliche Menschenbild nicht teilen von der normativen Grundordnung der Bundesrepublik aus. Die moderne Demokratie, die Idee der gleichen menschlichen Freiheit, der Gleichberechtigung von Mann und Frau, der Ableitung aller Staatsgewalt aus dem Volkswillen, musste gegen die klerikalen Autoritäten erkämpft werden. Vor dem zweiten vatikanischen Konzil 1962-65 galten Menschenrechte und die Gleichberechtigung von Mann und Frau, auch die säkulare, rechtstaatlich verfasste Demokratie der Katholischen Kirche als „Verirrungen des Liberalismus“. Und katholische Politiker argumentierten im Parlamentarischen Rat, der das Grundgesetz vorbereitete, dafür, dass die Gleichberechtigung von Mann und Frau, welche besonders von den vier weiblichen Mitgliedern gefordert wurde, schon deswegen nicht ins Grundgesetz aufgenommen werden dürfe, weil dies dem christlichen Menschenbild widerspreche. Belegstellen dafür in der Bibel, im Alten, wie im Neuen Testament, sind zahlreich. Wie alle großen Religionen ist auch das Christentum normativ ambivalent. Unterschiedliche Wertungen, teils gegensätzliche, spielen eine Rolle. Ist das Erlösungsversprechen diesseitig oder jenseitig zu interpretieren: der antike Streit um die Gnosis. Kehrt der Heiland demnächst auf die Erde zurück, wie es die frühen Christen erwarteten oder nicht? Macht die Bergpredigt den Kern christlicher Moralität aus, oder die Forderung sich die Welt untertan zu machen? Ist die Idee des menschlichen Fortschritts dem Christentum zu verdanken oder einer späten Interpretation durch Joachim de Fiore? Sind die päpstlichen Kriegsentscheidungen vereinbar mit christlicher Moral oder nicht? Gibt es eine unmittelbare (Protestantismus) oder eine mittelbare (Katholizismus) Beziehung der Gläubigen zu Gott? Und so weiter. Es war der indische Delegierte, der am 10. Dezember 1948 deutlich machte, dass die Idee der Menschenrechte keineswegs ein westliches Privileg und dass der Beschluss der Generalversammlung der Vereinten Nationen kein Oktroi westlichen Kultur- und Politikverständnisses sei, dass er es vielmehr begrüße, dass in Gestalt der Allgeneinen Erklärung der Menschenrechte nun wenigstens einige Folgerungen aus der Würde, die allen Lebewesen zukomme („dignity of all beings“) zum Konsens der Völker geworden sind. Die moderne Demokratie ist ohne Säkularisierung, ohne die Zurückdrängung der Kirchen aus der politischen Sphäre, undenkbar. Thomas Hobbes hatte in der Mitte des 17. Jahrhunderts den säkularen Staat gefordert, der allein in der Lage sei den zivilen Freiden zu sichern. Das war eine Reaktion auf die grausamen Konfessionskriege, die Europa an den Rand der Selbstvernichtung gebracht hatten, mit einer Todesrate, die diejenige der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts überstieg. Ohne Säkularisierung, ohne die Zurückdrängung der Kirchen aus der politischen Sphäre, ohne ihre Besinnung auf das Seelenheil ihrer Gemeinde, würden wir heute vermutlich in einer Theokratie leben, ähnlich der iranischen Verfassung nach der Chomeini-Revolution: Vielleicht mit der Volkswahl eines Staatspräsidenten, aber unter der Ägide des Klerus (des sogenannten Wächterrats) unterstellt. Erst die Rückbesinnung auf eine politische Errungenschaft der griechischen Klassik, der Autonomie von Wissenschaft, Kunst und Politik von klerikaler Bevormundung, hat die Entwicklung zur modernen europäischen Demokratie möglich gemacht. Die Demokratie ist ideengeschichtlich zweifellos ein Kind des Humanismus und der Europäischen Aufklärung. Die mühsame und blutige Zurückdrängung kirchlicher Autorität aus der politischen Öffentlichkeit und den politischen Institutionen, ein Prozess in dem auch den Kirchen immer wieder Unrecht getan wurde, teilweise geheilt und manchmal sogar überkompensiert durch Konkordats-Vereinbarungen, hat ein Analogon in der muslimischen Welt: Dort sind es die mehr oder weniger säkular ausgerichteten Militärdiktaturen, etwa der Baath-Parteien im Irak (Hussein) und in Syrien (Assad), zuvor in Libyen (Gaddafi), in Ägypten (Mubarak, jetzt Al-Sisi), in Afghanistan Nadschibullah nach der sowjetischen Invasion, die eine andere, hochproblematische Form der Säkularisierung erzwungen haben und die, auch unter tätiger Mithilfe der westlichen Außenpolitik, gestürzt wurden oder gestürzt werden. Im Gegensatz zu humanistisch und aufklärerisch motivierten Demokratiebewegungen in Europa, kommt die Säkularisierung in arabisch-muslimischen Regionen fast ausschließlich von den urbanen, ökonomischen, militärischen und juristischen Eliten. Die Säkularisierung Europas hat dagegen tiefere kulturelle Spuren hinterlassen und stabilisiert die Demokratie. Die Säkularisierung in der MENA-Region ist labil und, wie die jüngste Geschichte gezeigt hat, mit Demokratisierung schwer verträglich. Wir sollten dieses hohe kulturelle und politische Gut hochhalten und nicht in Zweifel ziehen, ganz unabhängig von der eigenen Glaubenshaltung. Der Staat trägt kein Kreuz.
Nida-Rümelin kritisiert Markus Söder: Die Demokratie ist ideengeschichtlich zweifellos ein Kind des Humanismus und der Europäischen Aufklärung
Über Julian Nida-Rümelin
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Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin, geboren 1954, war von 2004 bis 2020 Professor für Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Von 1975-1980 studierte er Philosophie, Physik, Mathematik und Politikwissenschaft an den Universitäten München und Tübingen. 1983 folgte die Promotion und 1989 die Habilitation. 1994-1997 war er Präsident der Gesellschaft für Analytische Philosophie; 1998 bis 2001 Kulturreferent der Stadt München, 2001-2002 Staatsminister für Kultur und Medien. 2009 wurde Nida-Rümelin zum neuen Präsidenten der „Deutschen Gesellschaft für Philosophie“ gewählt. 2010 kandidierte er bei der Wahl des Präsidenten der Ludwig-Maximilians-Universität gegen den Amtsinhaber Bernd Huber. Zuletzt erschien 2011: Die Optimierungsfalle. Philosophie einer humanen Ökonomie.