Man wird im heutigen Europa nicht so leicht jemanden finden, der sich offen gegen die Anerkennung der individuellen Freiheit ausspricht. Doch bei der Frage, was unter Freiheit zu verstehen sei, liegen die Auffassungen weit auseinander. Freiheit gilt einem offenbar wachsenden Teil der an die „Segnungen“ des modernen Wohlfahrtsstaates gewöhnten Konsumenten als die Möglichkeit, zu kaufen, wonach sie Lust haben, sofern es der ihnen zugestandene Kreditrahmen zulässt. Manche sehen darin auch die Möglichkeit, ohne Hemmungen dem Kommando ihrer Hormone folgen zu können. Vielen gilt die Vorstellung eines freien Willens, das heißt eines geistigen Ichs, das Triebimpulse bewusst kontrollieren kann, als ein verstaubtes Relikt aus der Asservatenkammer der mittelalterlichen Scholastik, worauf sich nur noch christliche Fundamentalisten berufen.
Etliche Hirnforscher wollen sogar mit Hilfe moderner Techniken, wie zum Beispiel der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT) oder der Messung elektrischer Potenzialschwankungen im Gehirn, herausgefunden haben, dass es keinen freien Willen geben kann. Das individuelle Bewusstsein sei durch elektro-chemische Prozesse determiniert, die schon vor der bewussten Entscheidung für eine Aktion nachweisbar seien. Nicht ein bewusstes Ich entscheide, sondern ein vorab Handlungsbefehle gebendes Hirn. Letztlich sei der Mensch für seine Handlungen also nicht wirklich verantwortlich.
Wie die verschiedenen Zentren des menschlichen Hirns genau zusammenarbeiten, wird wegen ihrer kaum vorstellbaren Komplexität wohl noch lange ein Geheimnis bleiben. Dennoch gibt es in der neurologischen Forschung Teilfortschritte, die uns dem Verständnis bestimmter Hirnleistungen einen großen Schritt näherbringen. Ein schon 2005 im führenden amerikanischen Wissenschaftsmagazin „Science“ veröffentlichter Artikel der beiden an der Washington University in St. Louis arbeitenden Hirnforscher Joshua Brown und Todd Braver brachte neues Licht in das Verhältnis zwischen unbewussten und bewussten Vorgängen in unserem Zentralnervensystem.
Schon seit der „Entdeckung“ des Unbewussten von Siegmund Freud und Carl Gustav Jung, spätestens aber seit den lange Zeit fehlinterpretierten neurophysiologischen Experimenten von Benjamin Libet (1916 bis 2007) gilt der Mensch nicht mehr als Herr im Hause des eigenen Ich. Libets Versuchspersonen sollten zu einem frei wählbaren Zeitpunkt ein Handgelenk bewegen. Den Zeitpunkt ihres Entschlusses sollten sie sich mithilfe eines sich bewegenden Punktes auf dem Bildschirm eines Oszillographen merken. Nach den Angaben der Versuchsteilnehmer erfolgte dieser Entschluss etwa 200 Millisekunden vor dem Beginn der Handlung. Libet stellte jedoch mithilfe von Elektroden an der Schädeldecke fest, dass sich in den für die Handbewegung zuständigen neuronalen Schaltkreisen schon 350 Millisekunden früher, das heißt insgesamt 550 Millisekunden vor dem Handlungsbeginn ein so genanntes Bereitschaftspotential aufgebaut hatte. Die Entscheidung, ein Handgelenk zu bewegen, erfolgte also in Wirklichkeit unbewusst, obwohl die Versuchspersonen den Eindruck hatten, sich völlig frei und bewusst entschieden zu haben. Libet konnte zeigen, dass der falsche Eindruck durch eine automatische Rückdatierung der Entscheidung zustande kommt. Er konnte ferner demonstrieren, dass die Versuchspersonen unbewusst eingeleitete Handlungen bis zu einem gewissen Zeitpunkt durchaus noch durch ein bewusstes Veto stoppen können.
In dieser Veto-Möglichkeit besteht nach Ansicht Libets ein wichtiger Aspekt der Willensfreiheit. Libet weist in diesem Zusammenhang selbst darauf hin, dass die Zehn Gebote der Bibel überwiegend Veto-Befehle beinhalten. Er hätte sich dabei auch auf den 1960 bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommenen französischen Literatur-Nobelpreisträger und atheistischen Philosophen Albert Camus berufen können. In dessen im Unfall-Fahrzeug gefundenen Torso einer Autobiografie, der posthum unter dem Titel „Le premier homme“ (der erste Mensch) veröffentlicht wurde, unterstrich Camus den Satz „Un homme, ça s’empêche.“ (Ein Mensch versteht einzuhalten). Libet wies wegen dieser Veto-Möglichkeit mit Nachdruck materialistisch beziehungsweise marxistisch eingestellte Kollegen zurück, die versucht hatten, aus seinem berühmt gewordenen Experiment eine Widerlegung der christlich-abendländischen Lehre von der Willensfreiheit abzuleiten.
In seinem im Jahre 2004 auf Englisch und 2005 auf Deutsch erschienenen Buch „Mind Time“ legte Libet seine Time-on-Theorie dar, wonach alle bewussten Gedanken, Pläne und Gefühle unbewusst beginnen. Schnelle Reaktionen im Sport (zum Beispiel beim Zurückschlagen eines über 160 Stundenkilometer schnellen Tennisballs) können nur unbewusst erfolgen. Sie werden erst bewusst, wenn die Aktion bereits abgeschlossen ist. Er ging dabei davon aus, dass das subjektive Bewusstsein wesentlich nichtphysischer Natur und deshalb nicht auf neuronale Funktionen reduzierbar ist. Der materialistische Determinismus beruhe ebenso sehr auf nicht falsifizierbaren Glaubens-Annahmen wie sein Gegenpart, der idealistische Dualismus von Leib und Seele, betonte Libet.
Die Bewusstseinsinhalte sind nach Libets Überzeugung unabhängig von neuronalen Funktionen. Er kannte kein Experiment, das Anhaltspunkte für das Gegenteil lieferte. In der Tat: Epilepsie-Patienten, denen aus therapeutischen Gründen die Verbindung zwischen den beiden Großhirnhälften (Corpus callosum) durchtrennt wurde („Split brain“), fühlen sich noch immer als einheitliches Selbst. Weder sehen sie doppelt, noch fühlen sie widerstrebende Handlungsantriebe. Bewusstes Erleben ist, wie Libet selbst zeigen konnte, auch unabhängig vom Prozess der Gedächtnisbildung. Insofern ist der deutsche Untertitel des Libet-Buches („Wie das Gehirn Bewusstsein produziert“) irreführend. Libet selbst setzte „produziert“, vorsichtig wie er war, in Anführungszeichen. Er ging lediglich davon aus, dass Bewusstsein, im Einklang mit seinen Experimenten, „das emergente Resultat geeigneter neuronaler Aktivitäten ist, wenn diese eine Mindestdauer von 0,5 sec haben.“
Vor diesem Hintergrund ist es interessant, dass die Hirnforscher Joshua Brown und Todd Braver in einem anderen Experiment auf eine Art Frühwarnsystem des Hirns stießen, das die Versuchspersonen vor Fehlentscheidungen warnte – und zwar unbewusst. Es gibt also neben dem bewussten Veto einen unbewussten „sechsten Sinn“. Diesen konnten die Hirnforscher mithilfe der fMRT im vorderen Stirnlappen (auf Englisch: Anterior Cingulate Cortex, ACC) verorten. Die Versuchspersonen mussten am Computerbildschirm durch Drücken auf zwei alternative Tasten Aufgaben lösen. Am Anfang waren die Entscheidungen leicht. Doch dann wurden immer schwierigere Aufgaben eingestreut. Wie die alle zweieinhalb Sekunden registrierten fMRT-Aufnahmen zeigten, konzentrierten sich die Versuchspersonen unbewusst auf die schwierigeren Aufgaben. Dafür bekamen sie vom ACC Signale, die ihnen nicht bewusstwurden. Brown vermutet, dass die Ureinwohner der Pazifikregion, die sich beim verheerenden Tsunami am 26. Dezember 2004 in Sicherheit brachten, indem sie schon vor dem Anrollen der tödlichen Flutwelle höher gelegene Orte aufsuchten, auf diese Weise vorgewarnt worden waren. Viele „moderne“ Menschen hingegen hatten wohl ihrem „sechsten Sinn“ misstraut und mussten das mit ihrem Leben bezahlen.
Zuvor galt die schon seit etwa zwei Jahrzehnten bekannte Hirnregion ACC eher als Zentrum für die Konfliktverarbeitung. Es war auch schon bekannt, dass dieses Zentrum bei schweren psychischen Störungen wie Zwangsneurosen und Schizophrenie nicht richtig arbeitet. Joshua Brown wies im vergangenen Jahr auf einem Kongress in Washington darauf hin, dass der ACC durch den bekannten Neuro-Botenstoff Dopamin stimuliert wird. Wieweit sich diese Erkenntnis für die Behandlung psychischer Krankheiten nutzen lässt, ist derzeit noch offen.
Es lässt sich aber immerhin experimentell klären, dass eine bewusst freiwillig vollzogene Handlung im Gehirn ganz anders gesteuert wird als eine durch soziale Normen und/oder Strafandrohung erzwungene Aktion. Ein solches Experiment führten die Psychologen Christian Ruff, Ernst Fahr und Giuseppe Ugazio vor einigen Jahren von der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich und der Universität Wien durch. Die Ergebnisse des Experiments wurden im renommierten US-Wissenschaftsmagazin Science publiziert. Die Psychologen stimulierten bei Versuchspersonen eine Hirnregion, den rechten lateralen präfrontalen Kortex (rLPFC), von dem man weiß, dass er für die Impulskontrolle und die Einhaltung sozialer Normen zuständig ist, transkraniell, das heißt nicht invasiv mit schwachen positiven oder negativen Strömen. Sie konnten zeigen, dass soziale Normen wie etwa Pünktlichkeit oder Fairness bei positiver Stimulierung des rLPFC besser eingehalten wurden als bei negativer Stimulierung. Die Wissenschaftler gaben den insgesamt 63 Probanden Geld, das sie mit einem anonymen Partner teilen sollten. Wurde der rLPFC positiv stimuliert, gaben die Probanden ihrem fiktiven Partner deutlich mehr Geld als bei einer negativen Stimulierung. Die Teilnehmer gaben zwischen 10 und 25 Prozent ihres Geldes freiwillig ab.
Das war allerdings nur der erste Teil des Experiments. In einer zweiten Runde wurde den Probanden als Strafe angedroht, einen beliebig großen Teil ihres Geldes wieder zurückgeben zu müssen, wenn sie es nicht fair geteilt hatten. Unter diesen Umständen waren die meisten Versuchspersonen bereit, sofort auf fast die Hälfte des Geldes zu verzichten. Wurde der rLPFC unter Strafandrohung elektrisch stimuliert, gaben sie sogar mehr Geld ab, als die Regel der Fairness forderte. Das könnte es nahelegen, Menschen durch schwache Stromstöße an ihrem Schädel zum Wohlverhalten bringen zu wollen. Jeder Diktator könnte damit seinen Untertanen den Widerstandswillen austreiben.
Doch zum Glück liegen die Dinge nicht so einfach. Denn das beschriebene Experiment funktionierte nicht mehr, wenn die Probanden erfuhren, dass sie nicht gegen andere Menschen, sondern gegen einen entsprechend programmierten Computer spielten. Das zeigt, dass menschliche Handlungen keine mechanischen Antworten auf elektrische oder hormonelle Reize sind. Die Menschen haben eben doch ihren freien Willen, der den jeweiligen sozialen Kontext in Betracht zieht. So lässt sich auch erklären, dass Strafandrohungen im realen Leben durchaus nicht immer zum erwünschten Ergebnis führen. Werden etwa Eltern, die ihre Kleinkinder zu spät vom Kindergarten abholen, Geldstrafen angedroht, kann es passieren, dass die Zahl der Unpünktlichen sogar zunimmt. Denn freiwillig das Rechte zu tun ist etwas anderes, als etwas tun, um eine Strafe zu vermeiden. Der rLPFC kann offenbar nicht beides gleichzeitig steuern.