Eines der Hauptanliegen der 1789 von der französischen Nationalversammlung verkündeten Allgemeinen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte war der Schutz Einzelner gegen staatliche Willkür. Zwar waren die Bürger auch unter der absoluten Monarchie von Gottes Gnaden nicht gänzlich schutzlos. Was ihnen aber fehlte, war das Recht auf freie Meinungsäußerung. Doch gerade dieses Recht wird heute von dem zur obligatorischen Zivilreligion erhobenen Humanitarismus (Menschenrechtsideologie) in Frage gestellt und in der gerichtlichen Praxis immer häufiger mit Füßen getreten. Es geht dabei vor allem um die Respektierung der Rechte einer Religion, die gar keine sein will und kann, weil ihr sogar ein Begriff für Religion fehlt.
Die Rede ist hier, wie man sich denken kann, vom Islam. Wer sich untersteht, darauf hinzuweisen, dass der Islam ein Rechtssystem darstellt, das nicht wie das Christentum zwischen zeitlichen und ewigen, irdischen und himmlischen, individuellen oder politischen Belangen unterscheidet, der muss über kurz oder lang mit der Rassismus- bzw. Islamophobie-Keule Bekanntschaft machen. Denn heute gilt das Dogma des postmodernen Relativismus, wonach alle Mythen, Religionen und Kulturen der Welt als prinzipiell gleichwertig zu gelten haben. Demnach soll es auch egal sein, mit welchem „Menschenmaterial“ die in Westeuropa durch den unbekümmerten Einsatz der „Pille“ durch die hedonistisch ausgerichtete 68er Generation entstandene demografische Lücke geschlossen wird. Denn nach diesem Menschenbild sind die Menschen grundsätzlich austauschbar. Statt als genetisch einzigartige Individuen und Träger einer historisch über Jahrhunderte bis Jahrtausende gewachsenen einmaligen Kultur werden die Menschen in der Tendenz nur noch als Strichmännchen behandelt.
Gerechtfertigt wird die durch politische Feigheit (oder Kalkül) ausgelöste Massen-Invasion ungebildeter junger Muslime aus dem Nahen Osten oder aus Afrika mit dem Hinweis auf das christliche Liebesgebot. In der Bibel ist allerdings nur von konkreter Nächstenliebe, nicht von abstrakter Liebe des ganzen Menschengeschlechts die Rede. Das in Form einer juristischen Vorschrift formulierte Liebesgebot geht vielmehr auf eine Verwechslung zwischen Christentum und Gnosis zurück. Nur wer, wie etwa der Gnostiker Marcion in der Spätantike, davon ausgeht, dass alle Menschen von Natur aus unschuldig sind und das Böse in der Welt lediglich von widrigen Umständen herrührt, kann Millionen von Männern im wehrfähigen Alter unkontrolliert die Staatsgrenzen passieren lassen. Im Gegensatz zu Marcion (ca. 85 – 160 n. Chr.), der die Schlechtigkeit in der Welt für das Werk des Demiurgen Jahwé, des „bösen“ Gottes des Alten Testaments, hielt und die Menschen zu Opfern der Umstände erklärte, geht das authentische Christentum davon aus, dass das Böse infolge der Ursünde in den Menschen selbst steckt. Anthropologen und Ethnologen bestätigen uns heute, dass so gut wie alle Kulturen auf Kannibalismus zurückgehen. Dessen bis heute am weitesten verbreitete Form ist die Sklaverei. Von diesem Übel können die Menschen sich auch durch kollektive Anstrengung nicht selbst erlösen und Gutes bewirken, sondern nur individuell mithilfe des leiblich zum Menschen gewordenen Gottessohnes Jesus Christus, der sich am Kreuz geopfert hat, um die Menschen zu erlösen. Das Menschenbild der Christen ist also grundsätzlich pessimistisch. Zuversicht und Optimismus erwachsen ihnen allein aus der individuellen Nachfolge Jesu Christi.
Diese Rolle des Gottessohnes scheint Marcion, dessen Schriften von den römischen Christen komplett vernichtet wurden und deshalb nur in Form einzelner Zitate seiner Gegner überliefert sind, jedoch nicht akzeptiert zu haben. Für ihn war Jesus ein von Gottvater gesandtes, nur mit einem Scheinleib ausgestattetes Geistwesen, die Liebe in Reinform, jedenfalls kein Mensch aus Fleisch und Blut, der wie andere Menschen in Zorn geraten, leiden und sterben konnte. Den Menschen blieb, sofern sie Marcion glaubten, nichts anderes übrig, als selbst Gott zu spielen und sich allein durch den Glauben an einen guten Gott der Liebe auf dem Weg der Überwindung alles Materiellen selbst zu erlösen. Mit dem gerechten und strengen Gott des Alten Testaments, der den Juden am Berg Sinai die Zehn Gebote verkündete, konnte Marcion offenbar wenig anfangen. Marcion wurde so – ob gewollt oder ungewollt – zum Urvater aller Versuche, im Kollektiv das Himmelreich auf Erden zu errichten. Nicht zufällig finden sich auch im Koran etliche Anklänge an Marcions Häresie. Das dort verkündete Ziel der Geschichte, die ganze Welt zum Haus des Islam (Dar al-Islam) zu machen, erscheint als durchaus weltlich. Der Islam kennt im Grunde keine Heilsgeschichte, sagt der christliche Philosoph Rémi Brague. Sein jüngerer Fachkollege Harald Seubert ist deshalb der Meinung, Platon und Aristoteles hätten den Islam als atheistisch eingeschätzt, wenn sie darüber hätten befinden können.
Wirklich gefährlich wurde der Marcionismus, wie der emeritierte Pariser Jura-Professor Jean-Louis Harouel in einer 2016 veröffentlichten Abrechnung mit der Menschenrechts-Zivilreligion zeigt, erst durch seine Verbindung mit den geistesverwandten Strömungen des Manichäismus und des Millenarismus. Kennzeichen des Manichäismus, dessen zentrale Denkfiguren viel älter sind als die Schriften des Religionsstifters Mani (216–276) und das Neue Testament, ist die schroffe Gegenüberstellung von „Gut“ und „Böse“, Licht und Finsternis und die damit unmittelbar zusammenhängende Anmaßung moralischer Überlegenheit. Mit dem Millenarismus eines Joachim von Fiore (ca. 1130 – 1202) und seiner geschichtstheologischen Drei-Zeiten-Lehre wurde schließlich die Vorstellung eines irreversiblen Fortschreitens der Geschichte in Richtung auf ein „Drittes Reich“ des heiligen Geistes nach den Zeitaltern des Vaters (Altes Testament) und des Sohnes (Neues Testament) massenwirksam. Alle späteren Theorien bzw. Ideologien des gesellschaftlichen Fortschritts knüpften mehr oder weniger offen daran an.
Als „gut“ galt bei den Anhängern dieser mechanistischen Geschichtsauffassung nur noch, was dem (vermeintlichen) Fortschritt in Richtung auf Dematerialisierung und Vergeistigung bis zur Selbstaufgabe diente. Dabei erwiesen sich die im Dekalog des Alten Testaments verankerten Tabus wie vor allem das Tötungs-, Diebstahls- und Ehebruch-Verbot nicht selten als hinderlich. Also wurden diese nach der Devise „Der (gute) Zweck heiligt die Mittel!“, wenn es sich anbot, bedenkenlos übertreten. Besonders toll trieben es dabei in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts die Wiedertäufer von Münster. Sie verboten nicht nur das Privateigentum, sondern führten auch die Vielweiberei ein. Wer sich widersetzte, wurde aus der Stadt vertrieben oder getötet. (Nachzulesen bei Igor Schafarewitsch: „Der Todestrieb in der Geschichte“)
Ähnlich gehen heute die konsequentesten Verfechter der juristisch-zivilreligiös vorgeschriebenen Pflicht zur universellen Menschenliebe vor. Wer sich ihnen widersetzt, wird zwar nicht sofort getötet, wohl aber mit sozialer Ausgrenzung und der Zerstörung seiner wirtschaftlichen Existenz, d.h. mit dem „sozialen Tod“ bestraft. Gleichzeitig wird den „Guten“, wie das Beispiel des zur Ikone erhobenen Massenmörders Che Guevara zeigt, beinahe alles verziehen. Heute kommen junge muslimische Einwanderer, die bei uns wegen Körperverletzungen angeklagt werden, fast regelmäßig mit lächerlich geringen Bewährungsstrafen davon. Wie schon bei den marcionistischen Sekten in der Spätantike kommt es bei den Verfechtern der postmodernen Menschenrechts-Zivilreligion zur Umwertung aller Werte: Verbrecher werden glorifiziert, während verantwortungsbewusste Bürger kriminalisiert werden.
Kein Zweifel: Sehr viele von denen, die sich Christen nennen und sich als solche aktiv an der staatlich verordneten „Willkommenskultur“ beteiligen, sind in Wirklichkeit Gnostiker. Waren gnostische Einflüsse schon in der französischen Aufklärung unübersehbar (für die schottische Aufklärung trifft das weniger zu), so ist die Gnosis inzwischen in Gestalt der Menschenrechts-Zivilreligion offiziell zur Staatsräson erhoben worden. Geflissentlich übersehen wird dabei, dass man mit einklagbaren subjektiven Menschenrechten wie dem Recht auf „Ehe für alle“, dem Recht auf Abtreibung, dem Recht auf Geschlechtsumwandlung, dem Recht auf grenzenlose Einwanderung, dem Recht auf ein bedingungsloses Grundeinkommen usw. keine Gesellschaft zusammenhalten kann. Tatsächlich erweisen sich solche „Rechte“ schon heute als zerstörerisch für die Familie als Grundzelle der bürgerlichen Gesellschaft. Im Gegensatz dazu eignen sich die Zehn Gebote des Alten Testaments ohne weiteres als Verfassung für das dauerhafte Zusammenleben von Menschen in kleinem wie in großem Rahmen. Wenn es schon nicht möglich ist, den Irrtum der französischen Revolution rückgängig zu machen, dann sollten die Europäer wenigstens anerkennen, dass die Menschenrechte den Zehn Geboten in jedem Augenblick untergeordnet bleiben müssen. Es wäre dann zum Beispiel nicht mehr möglich, Rechte zu proklamieren, die Menschen Ansprüche auf das Privateigentum anderer verleihen.