Dank eines freundlichen Hinweises von Timon Graewert (@curioustimotius) bin ich auf einen höchst interessanten Vortrag des Philosophen Christoph Menke an der Humbolt-Universität Berlin gestoßen. Der Leser möchte meine Unkenntnis der Person verzeihen, aber mir war sein Gedankengang in dieser Systematik vollkommen neu. Worum geht es Menke? Um nichts Geringeres als eine Kritik des Liberalismus. Eine Entscheidung, die in Zeiten grassierender anti-liberaler Bewegungen befremden kann – allerdings nur dann, wenn man nicht begreift, dass es eine Kritik des Liberalismus in liberaler Absicht geben kann.
Ich möchte den Gedankengang Menkes hier einmal in Kürze zitieren und leicht verständlich zusammenfassen, weshalb ich bitte etwaige philosophische Ungenauigkeiten frei heraus zu korrigieren oder andernfalls zu ignorieren. Was ist der Liberalismus? Er ist »eine Theorie und Praxis der öffentlichen Ordnung, die das Gemeinwesen auf einen ganz anderen Grund stellt als alle Konzeptionen, die ihm geschichtlich vorhergehen (und ebenso die, die sich ihm entgegensetzen). Der Liberalismus geht vom Faktum der individuellen Freiheit aus; die Freiheit des Einzelnen gilt ihm als eine Tatsache, die er voraussetzt. Aber genau darin gründet zugleich die Krise des Liberalismus, auf deren Aufweis seine Kritik zielt. Diese Kritik will zeigen, dass sich der Liberalismus in ein Dilemma verstrickt. Er setzt die Freiheit voraus, aber er kann sie mit seinen eigenen Mitteln, den Mitteln des liberalen Rechts, nicht sicherstellen.« Wieso ist das so? Die Form der Politik des liberalen Staates ist die individueller, oder subjektiver Rechte. Diese Rechte sind aber nicht »reflexiv gebunden«; sie sind in ihrer ermöglichenden Form willkürlich. Das heißt, die Inanspruchnahme dieser Rechte durch die Bürger des liberalen Staates kann den Fortbestand des liberalen Staates nicht selbst (!) garantieren. Mit Böckenförde: »Das ist das große Wagnis, das er um der Freiheit willen eingegangen ist«.
So folgt aus dieser Regierungspraxis der Rechte des liberalen Staates zwangsläufig eine nicht-liberale Politik. Erstens im Bereich der Kultur, die also für die Hervorbringung staatserhaltender Subjekte verantwortlich ist, ohne dass sie vom liberalen Staat dafür in Verantwortung gezogen werden könnte. Hegels »Religion der Freiheit« wäre eine solche Kultur. Sie muss allerdings wiederum selbst hervorgebracht werden. Etwa durch Erziehung, Bildung, Subjektveränderung. Kurz: Diese liberale Kultur, die notwendig ist, ohne staatlicherseits notwendig gemacht werden zu können, ist selbst in ihrer Praxis nicht-liberal. Sie kann den rohen Menschen nicht gewähren lassen wie im dünkt. Sie muss aus ihm ein Subjekt machen. Ein Subjekt des liberalen Staates. Zweitens im Bereich der Organisation sozialer Ordnung. Dieses »dritte Feld« zwischen Gesellschaft und Staat ist ebenso den liberalstaatlichen Maßnahmen entzogen. Marktorganisation, Kultur (jetzt im engeren Sinn), Zivilgesellschaft, Versicherungswesen – all diese sozialen Erscheinungsformen sind politisch, das heißt sie entscheiden über die Auslebung der staatlicherseits gewährten subjektiven Rechte. Doch sie selbst sind staatlicherseits nicht an diese Rechte gebunden. Damit überlässt der liberale Staat die Organisation der bürgerlichen Gesellschaft, die er voraussetzt, sozialen Kräften und Mächten, die an seine Liberalität nicht gebunden sind. Im besten Fall entsteht daraus eine produktive, kreative Ordnung, im schlechtesten Fall ein Kräfteverhältnis, das den liberalen Staat mitsamt seiner Normen in den Abgrund reißt.
»Am Tag der Krise« – das ist das Gedankenexperiment das diese liberale Aporie auf die entscheidende Pointe bringt. Was wenn diese Paradoxie des Liberalismus zur logischen Bedingung seiner realen Bedrohung wird? Um Menkes Ausführungen praktisch zu machen, könnte man die gegenwärtigen Krisen der Ökonomie, der Migration, des Nationalstaates als Beispiele heranziehen. Während die Ökonomie mit ihren destruktiven Tendenzen ihre eigene Möglichkeitsbedingung und die soziale Ordnung im liberalen Staat gefährdet, steht der Diskurs um Migration und Identität für eine nicht-liberale Politik (Grenzregime, Leitkultur, Assimilation) in (vermeintlich) liberaler Absicht. Beide Beispiele schießen in diese »Lücke des Liberalismus« – beide befördern seinen Untergang. Der aufkommende (religiöse, politische, rassistische) Fundamentalismus fällt in diese Problemlage. »Deshalb muss man den Fundamentalismus immer doppelt lesen: Er ist ein Symptom für ein wirklich bestehendes Problem im Liberalismus – und zugleich eine vollkommen falsche und gefährliche Antwort. Seine Kritik ist berechtigt, weil sie darauf hinweist, dass der Dreiklang aus Kapitalismus, Demokratie und Recht, überwölbt oder begründet durch Kultur, heute nicht mehr funktionieren kann. Aber der Fundamentalismus verwechselt die Kritik an den inneren Spannungen des Liberalismus mit der an der inneren Zerrissenheit und Entfremdung als solcher.«
Für mich ist der Vortrag enorm aufschlussreich. Er scheint mir einen inneren Widerspruch des Liberalismus zu systematisieren, der bislang nur polemisch (Armin Mohler) oder affirmativ (Böckenförde) gefasst wurde. Ich selbst habe versucht, mehr intuitiv und kaum systematisch, den liberalen Widerspruch anhand der neuen Kulturfrage zu beschreiben. Vielleicht habe ich aber auch nur anderes, besseres übersehen. So oder so, für eine Diskussion all derer, die sich als Humanisten verstehen, kann er als fruchtbare Ausgangsposition dienen; und speziell für Liberale als Diagnose ihres selbst geschaffenen Problems.
Literatur
Menke, Christoph, 2017: Unsere Zerrissenheit ist doch das Beste an der Moderne, was wir haben!. In: Die ZEIT 20/2017, online unter: http://www.zeit.de/2017/20/christoph-menke-liberalismus-populismus-interview/komplettansicht.
Menke, Christoph, 2017: Philosophiekolumne. Am Tag der Krise. In: Merkur 820.
Quelle: Oliver Weber
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