Christian Lindner verkörpert Authentizität

Christian Lindner, Foto: Stefan Groß

in Berlin verließ, um das Ende der Sondierungsgespräche zu verkünden, setzte er die Republik vor eine Unmöglichkeit. Die größte Fraktion des Bundestages findet keine Regierungsmehrheit. Und ebensowenig die Opposition. Mathematisch gesehen ist die Situation unmöglich, politisch aber real und nur schwer auflösbar: Ein Durcheinander aus Koalitionsabsagen, politischen Differenzen und nicht zuletzt verhältniswahlrechtlich bedingtem Pluralismus brachte dem Wähler am neunzehnten September ein streitlustiges Parlament, aber keine handlungsfähige Regierung.

Die Widersprüchlichkeit der Situation lässt sich adäquat als klassische Krise des Politischen Systems verstehen. Nicht deshalb, weil die Republik auf einem Abgrund zusteuern würde; Deutschland wird weiterhin formal von einer geschäftsführenden Bundesregierung repräsentiert. Auch nicht aus dem Grund irgendwelcher krisenhafter Zustände im alltäglichen Bürgerleben; die Fußgängerzonen sind weiterhin ordentlich gefüllt, das Weihnachtsgeschäft boomt und auch die Arbeitsniederlegungen dürften sich in Grenzen halten. Auch nach dem vierundzwanzigsten November 2017 gilt: Weder Bonn noch Berlin sind Weimar. Trotzdem ist der Krisenbegriff nicht übertrieben. In einer Krísis (κρίσις) befindet sich ein System, wenn es nicht ohne weiteres im normalen Ablauf fortgesetzt werden kann. Eine nicht-normale Entscheidung muss herbeigeführt werden, um seinen veränderten Fortgang zu gewährleisten. In der Bundesrepublik liegt diese Entscheidung aller Voraussicht nach bald in den Händen Präsidenten: Minderheitsregierung oder Auflösung und Neuwahl des Parlaments? Beides ist dem Politischen System der Bundesrepublik bisher praktisch fremd – nur theoretisch kennt es die Möglichkeiten aus der Verfassung. So oder so: Die Optionen verlaufen jenseits der Routinen. Und die Krise drängt zur Entscheidung.

Vielleicht ist es kein Zufall, dass der Krisenzustand an diesem Sonntagabend ein Gesicht bekam. Und nicht nur ein Gesicht. Auch einen Anzug, ein Auftreten, eine Stimme und ein Pressestatement: »Lieber nicht regieren, als schlecht regieren«. Lindner, der im Wahlkampf mit nachdenklichem Blick und moderner Smartphone-Pose das zentrale Bildmotiv seiner Partei war, stellte die Prinzipien derselben nun über die Regierbarkeit des Landes. Um das zu verstehen, muss man den Typ begreifen, den der Parteichef seit seinem Amtsantritt zu verkörpern versucht. In seinem Buch Schattenjahre zeichnet er seine Züge dem Leser transparent vor – und wiederholt damit im Vorgang der Veröffentlichung ein Merkmal seines Wesens: »Ich bin unverstellt. Ich bin echt!«. Es begann für die FDP und Christan Lindner 2013 nach eklatanten Wahlniederlage, die das Ende der traditionsreichen Bundestagsfraktion bedeutete. Die Unternehmensberater von der Boston Consulting vollzogen im Auftrag des Vorstandes eine Art Markenanalyse, die der Partei eine Erneuerung ihres Markenkerns mit entsprechender Umkleidung empfahl. Das Ergebnis dieses Prozesses war ein Leitbild, das in den Motiven des Selber-Machens und Ärmel-Hochkrempelns gründet. Gewissermaßen eine geschickte positive Wendung der liberalen Leistungsmaxime, deren Wesenskern noch ein fordernder war. Für Lindner ging es nun darum dieses Bild der Partei auch »ästhetisch verdichtet zu kommunizieren«. Die Kreuzberger Agentur Heimat entwarf eine Marketingstrategie, die die Routinen traditioneller Parteidarstellung sprengen sollte: Bunte Farben, Modernität, Identifikation mit der Marke, Konsumorientierung. Idee, Bild und Inhalt verlangten aber nach Repräsentation. Jedoch nicht wie in Parteien üblich, den langwierigen und organisationaufwendigen Linien des Apparates folgend, sondern frisch und echt. Diesen Platz nahm Christan Lindner ein. Er führt die Partei an allen Fronten, ob medial oder politisch. Auf dem traditionellen Dreikönigstreffen redete er frei, ohne Standmikrofon und beweglich auf einer Bühne, die man ohne zweiten Bick auch problemlos für eine Präsentation des neuen I-Phones hätte halten können. »Idealerweise verstärken sich die Partei- und die Personenmarke gegenseitig«, schreibt Lindner selbst. Denn auch Spitzenpolitikern würden »Eigenschaften zugeschrieben, die ihnen den Charakter einer Marke geben«.

Christian Lindner verkörpert damit einen neuen Politikertyp, dessen primäres Wahlargument weder Kompetenz noch Staatsmännigkeit, Aufbruchstimmung oder Charisma ist, sondern Authentizität. Lindner ist ganz der, für den man ihn halten soll. Optimistisch, technik-affin, jung, erfolgreich, fleißig, weltoffen, selbstbewusst, prinzipienfest: Politik-Lindner und Privat-Lindner sind nur zwei Versionen derselben unverrückbaren Marke. Das ist der Grund warum er bei einer bekanntgewordenen Rede in nordrheinwestfälischen Landtag den Hinweis auf seine gescheiterte Gründer-Existenz in einen Imagegewinn umformen konnte – und warum die Veröffentlichung eines Fernsehbeitrags, das den achtzehnjährigen Lindner als leistungsfixierten Yuppie zeigt, ihm keineswegs schadete. Unverstellt zeigt sich die Marke in der Person – und die Person zeigt sich unverstellt in der Marke.

Der Wahlerfolg der FDP mit Lindner an der Spitze bei der Bundestagswahl im September sprechen für das Konzept und für den Typ des authentischen Politikers. Aber das Phänomen ist keine Eigenkreation der Liberalen. Nachdem Gabor Steingart zu Beginn des Wahlkampfes Martin Schult damit kritisierte, kein Abitur gemacht zu haben, machte die SPD-Führung daraus ein Argument für ihren Kandidaten: Unverfälscht sei er eben, geradlinig, ganz er selbst. Und damit dem Bürger näher als die Konkurrenten – und vor allem näher als gutverdienende studierte Volkswirte in Wirtschaftsredaktionsstuben. Die Idee hinter der vielbeachteten Spiegel-Reportage von Markus Feldenkirchen folgt demselben Muster. Der Journalist durfte Martin Schulz in den privatesten und kritischsten Momenten des Wahlkampfes begleiten und ausführlich darüber berichten. Ärger, Wut, Verzweiflung, Streit – Schulz zeigte sich offen. Es galt dem Leser nicht nur den Politiker aus der Nähe zu zeigen, wie es schon lange gute journalistische Tradition ist. Vielmehr ging es darum den Politiker Schulz zu zeigen, unverstellt und authentisch, wie er eben ist. Dass die Geschichte letztendlich ein großes Scheitern präsentierte, war nicht geplant. Schadete der Intention aber nicht – im Gegenteil.

Authentizität ist das zentrale Konzept dieses neuen Politikstils. Der Begriff verbindet eine ethische, politische, private und ästhetische Komponente. Weil die Sphären nicht mehr zu trennen sind. Unverfälscht und ganz bei sich ist eben nur der, der handelt wie er ist, spricht wie er ist und aussieht wie er ist. Deswegen schubste die Marke Christian Lindner – telegen und prinzipienfest – am diesem Sonntagabend die Republik authentisch in die Unregierbarkeit.

Es wäre nicht verfehlt, die gesamte Rhetorik populistischer Parteien und insbesondere der AfD ebenfalls als ein Abzielen auf Authentizität zu bezeichnen. Authentisch sollen in diesem Verständnis allerdings nicht nur die Politiker sein. Vielmehr geht es um die Repräsentation des authentischen Wählers, der direkt seine Meinung kundtut. Auch wenn die Forderungen hochideologisch sind: das Beharren auf den angeblichen »Mut zur Wahrheit«, das Durchbrechen einer vermeintlichen »Politischen Korrektheit« zielt auf die freie Bahn für den unverfälschten Wähler. Frei von allen moralisch-politischen Erziehungsvorgaben und jeglicher Systemopportunität. Ganz bei sich ist der Wähler nur, wenn er seinen Vorurteilen und Ressentiments freien Lauf lassen kann. Authentisch vertritt er seine unbeliebte Meinung. Und authentisch vertritt sein gewählter Volksvertreter diese Direktheit im »Altparteienkartell«.

Authentische Politikkonzeptionen sind zweifelsfrei eine funktionierende Wahlkampftrategie. Aber ihre mal stärker, mal schwächer ausgeprägte Übernahme in die Kommunikation aller anderen Parteien spricht dafür, ihr auch eine gewisse Notwendigkeit zuzuschreiben. Warum muss Politik, warum müssen Politiker authentisch sein? Reicht es nicht, wenn sie ein Set von kohärenten Argumenten, Kompetenz und ein geschicktes Machtbewusstsein verbinden, deren Totalidentität mit der Person des Politikers nebensächlich ist? Offenbar lautet die Antwort der wählenden Bevölkerung in zunehmendem Maß: »Nein, das reicht nicht«. Darauf weisen auch die zahlreichen Einzel-Talkshowformate hin; neben unzähligen Hausbesuchen von Journalisten inklusive Familien-Pressefoto am gedeckten Frühstückstisch. Der Wähler und Medienkonsument will offenbar sichergehen, dass der Gewählte mitsamt seiner Partei nicht nur das vertritt, das er für richtig hält, sondern es authentisch vertritt: als Biographie, als Charakter als Lebensstil. Vertrauenswürdig ist nur der, der keine Chance hat mein Vertrauen zu missbrauchen. Keine Chance hat er nur dann, wenn er mit meinem Anliegen identisch ist. Ich wähle keinen Parteikorps und Repräsentanten, sondern das Gewünschte selbst und möglichst unverstellt direkt. Wer sich hinter Partei- und Parlamentsabläufen versteckt, wer sich den Luxus widerstreitender Standpunkte leistet, wer öffentlich als womöglich anderer auftritt als privat, ist nicht vertrauenswürdig – er ist nicht authentisch.

Authentizität als politische Kategorie erfüllt damit die Funktion, die das generelle Vertrauen in das Politische System einnahm, ehe es in einer Entwicklung von kritischer Distanziertheit zu offener Politikverdrossenheit in der Wählerschaft größtenteils verloren ging. Vertraute man der Funktionsweise der legislativ-exekutiven Ordnung (und wenn schon nicht dieser so zumindest dem Macht- und Repräsentationswillen der Parteien), so richtet sich die Vertrauensdelegation jetzt auf die Unverstelltheit des Politikers, den ich kennen muss, ehe ich ihn wähle. Anstelle des Vertrauens in das Politische System tritt das Vertrauen in die Authentizität von Politikern.

Als die FDP die Sondierungsgespräche abbrach, zeigte sich, dass Authentizität und Systemvertrauen aber keine Funktionsäquivalente sind. Erstere ist nicht  systemgebunden, sie äußert sich frei nach ihrem So-Sein. Wenn daraus authentisch eine Regierungskoalition bilden, so erfüllt sie ihre kritische Funktion in der Delegationskette der Politischen Systems. Erzwingt die Authentizität des Politikers jedoch eine (den Routinen folgend) ausweglose Situation, wird die gewollte Unverstelltheit zum Problem. Der Imperativ der prinzipientreuen Inszenierung in den Medien stellt sich der Erhaltung und Weiterführung der politischen Ordnung vornan. Ja mehr noch, dass Christian Lindner aus Prinzip eine staatspolitische Krise nicht vermied, gerät zum besonderen Ausweis seiner Echtheit.

Der Ruf nach Authentizität erscheint damit als Symptom und Ursache zweier Krisen des Politischen Systems, das Systemvertrauen durch Charaktervertrauen ersetzt hat. Fraglich bleibt, ob authentische Politik zur Überwindung der Krise imstande ist, wie es die französische »En Marche«-Bewegung derzeit andeutet, oder in ihrer medialen Inszeniertheit die Funktionsbedingungen des Systems selbst noch untergräbt. Dass sie ein stabilitätsorientiertes System wie die Bundesrepublik leichtfertig in die Unregierbarkeit schubste, ist jedenfalls kein gutes Zeichen.

Literatur

Lindner, Christian, 2017: Schattenjahre. Die Rückkehr des Politischen Liberalismus, Stuttgart: Klett-Cotta.

Schmid, Manfred G., 2017: Das Politische System Deutschlands, Schriftenreihe bpb.

Hinweis

Eine ausgearbeiteter, fundierter Widerspruch zur generellen These, authentische Politikkonzeptionen würden an Gewicht gewinnen, findet sich bei: Manow, Philip, 2017: Die zentralen Nebensächlichkeiten der Demokratie, Hamburg: Rowohlt.

Quelle: Oliver Weber

Authentizität und Krise

Über Oliver Weber 12 Artikel
Oliver Weber wurde 1997 in Kelheim geboren. Er schreibt als freier Journalist für diverse Online- und Printpublikationen. Im Zentrum seiner Analysen, Kommentare und Essays steht das tagesaktuelle Geschehen aus Politik, Wirtschaft und Kultur."

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