Für einen liberalen Neuaufbruch in Europa!

Gruene Ampel, Foto: Stefan Groß

Johannes Cornelis „Hans“ van Baalen ist ein bedächtiger Mann. Theatralisches Auftreten ist nicht das Ding des 57jährigen Europapolitikers aus den Niederlanden. Doch van Baalen hat Großes vor: er will die Liberalen bei der Europawahl 2019 zur entscheidenden politischen Kraft der EU machen. „Wir können die stärkste europäische Partei werden“, erklärte van Baalen bereits vor einem Jahr.

Der Aufbruch zum Durchbruch soll am ersten Adventswochenende beginnen. Dann möchte der Reserveoffizier beim Jahreskongress der liberalen Dachpartei ALDE (Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa) in Amsterdam den Marschbefehl zum Sturm geben – als alter und vermutlich erneuter ALDE-Party-Vorsitzender. Ziel des Angriffs ist die in Europa tonangebende „ewige große Koalition“. Sie hält seit Jahrzehnten alle Oppositionsparteien im Europäischen Parlament in Schach

Das regelmäßige Überstimmt-Werden im Europäischen Parlament nervt die Liberalen. Hoffnung auf Besserung schöpft van Baalen nun unter anderem durch den gesamteuropäischen Niedergang der Sozialdemokraten, die auf Europaebene als SPE/PES firmieren. Zugleich ist das Lager der christdemokratischen und konservativen Parteien (EPP/EVP) zersplittert und vom Rechtspopulismus angenagt. Die Liberalen wollen jetzt die frische Kraft werden, die an der Spitze eines Neustarts in Europa steht – proeuropäisch aber reformbereit.

Nachwuchs für liberale Parteienfamilie

Zusätzlich nährt sich der liberale Optimismus aus spürbarem Zuwachs für die liberale Parteienfamilie. Seit der vorigen Europawahl im Jahre 2014 haben sich in mehreren EU-Ländern neue liberale Parteien gebildet. Sie sind die Gegenbewegung zu den überall aufgetauchten Populisten.

In Spanien etwa stößt seit 2015 die Bürgerpartei Ciudadanos unter dem alerten katalanischen Jungpolitiker Albert Rivera (39) in die Mitte der spanischen Gesellschaft vor. Sie zielt gleichermaßen gegen die regierende und sehr konservative Volkspartei PP von Ministerpräsident Mariano Rajoy (62) wie gegen die Partei Podemos des sehr linken Pferdeschwanztribuns Pablo Iglesias (39).

In Polen ist die klassisch-liberale Partei Nowoczesna (Die Moderne) unter dem 45-jährigen Ökonomen Ryszard Petru ebenfalls seit 2015 aktiv. Sie kämpft für Bürgerrechte und Freiheit und gegen die Verletzung von Rechtsstaatregeln durch die erznationalistische Regierungspartei Prawo i Sprawiedliwość (PiS, „Recht und Gerechtigkeit“) unter Jarosław Kaczyński (68). Petru wirft dem starken Mann Polens „totalitäre Methoden und Praktiken des Nazismus, Faschismus und Kommunismus“ vor.

Es gibt auch Problemkinder

Für van Baalen gibt allerdings nicht nur Felder zu beackern, über denen eitel Sonnenschein liegt. So in seiner Heimat, den Niederlanden. Er selbst kommt aus der konservativ-liberalen Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD), die bei der vorigen Wahl Federn lassen musste. Erstarkt sind dagegen die rivalisierenden linksliberalen Democraten 66 (D66) unter Alexander Pechtold (51), wie die VVD ein Kind der ALDE-Familie. Van Baalen darf die D66 nicht verprellen, obwohl diese deutlich gegen seine VVD und gegen van Baalens Parteifreund Mark Rutte (50) opponieren, der als niederländischer Regierungschef in Fragen der EU-Integration skeptisch ist.

Ein besonders schwieriges Kind der Parteienfamilie ist die tschechische Partei ANO 2011 („akce nespokojených občanů“, Aktion unzufriedener Bürger). Die populistische teils EU-skeptische Bewegung hat gerade die Wahlen in Prag gewonnen. Ihr umstrittener Vorsitzender ist der schwerreiche Chemie- und Medienunternehmer Andrej Babiš (63), der bei der Justiz wegen Verdachts auf Steuerbetrug und Beeinflussung von Medien im Visier ist.

Babiš versucht gerade eine Koalition zu schmieden und Regierungschef von Tschechien zu werden. Er wäre der achte liberale Ministerpräsident in der 27-Staaten-EU (ohne Großbritannien). Damit zöge ALDE mit den Regierenden aus der christdemokratischen Volkspartei EVP gleich als stärkste Parteienblock im Europäischen Rat. Die Sozialdemokraten stellen nur sieben Sitze.

Liberale Einzelmitglieder machen Druck

Dass Parteien wie ANO nicht nur zur ALDE Party gehören, sondern auch zur Fraktion der Liberalen im Europäischen Parlament, stößt besonders in Kreisen der „Individual Members“ (IM) auf Unwillen. Diese Gliederung innerhalb der ALDE Party ist insofern eine Besonderheit, weil ALDE als erste nach europäischem Recht anerkannte internationale Partei die Einzelmitgliedschaft eingeführt hat. Das bedeutet, dass jeder EU-Bürger ein ALDE-Mitglied werden kann, auch wenn er keiner liberalen Partei auf Nationalebene angehört.

Den IM treten freiheitlich gesinnte Menschen bei, denen Illiberalität ein Dorn im Auge ist. Sie stellen beim ALDE-Parteikongress drei europaweit gewählte Delegierte. Die Basis sind meist jüngere EU-Anhänger, etliche aus Ländern wie Frankreich, wo es bisher keine wirklich liberale Parteientradition gibt. ALDE streut also via IM europaweit Samen aus, aus denen Parteigründungen wachsen könnten wie Italiens buntliberale Partito Radicali.

Die ALDE Party Individual Members sind quasi der paneuropäische „Bürgerarm“ der Liberalen, deren europäischer Dachverband bis vor einigen Jahren nur aus offiziellen Repräsentanten der Mitgliedsparteien bestand – von der deutschen und schweizerischen FDP über die österreichischen NEOS bis zu den britischen LiberalDemocrats. Mit den IM lebt ALDE den Gedanken einer grenzüberwindenden Föderation praktisch vor. Weil sie keiner Länderpartei verbunden sind bestimmt diese Gliederung ihren Vorstand und ihre Parteitagsdelegierten via Onlinewahl transnational auf gesamteuropäischer Ebene.

Kein Wunder, dass die Individual Members die sofortige Einführung transnationaler Listen für die kommende Europawahl fordern. Denn noch werden die 751 Mandate für die oberste Volksvertretung der EU in 27 nationalen Wahlen bestimmt, eine paneuropäisches Votum gibt es nicht. In den Augen der IM ist das eine Missachtung des EU-Vertrages von Lissabon, der die EU-Europäer erstmals als gleichberechtigte „Unionsbürgerinnen und Unionsbürger“ definiert (Art. 14 Abs. 2 EUV).

FDP ist Sorgenkind, Macron ist Wunderkind

Ein ganz neues Sorgenkind der europäischen Liberalen ist die FDP. Am Beginn des furiosen Christian-Lindner-Wahlkampfs hatte man zunächst gehofft, ein Freier Demokrat als deutscher Außenminister werde starke Impulse für einen Neustart der EU einbringen. Doch diffuse Äußerungen aus der FDP-Spitze zum Fortbestand der EU-Sanktionen gegen Russland säten Missstimmungen. Dann wunderten Etliche Europaliberale sich über schroffe Töne gegen die Reformvorschläge des EU-Hoffnungsträgers Emmanuel Macron.

Dass es nun durch den jähen Stopp der Berliner Sondierungsgespräche auf absehbare Zeit keine gestalterische Kraft der FDP durch Regierungshandeln in der Europapolitik kommen wird, bedauern viele. Van Baalen selbst unterstützt den Beschluss der FDP und machte das auf Twitter deutlich: „Couragierte Entscheidung von Christian Lindner!“ Dennoch fragen Manche: Verspielt die Partei der leidenschaftlichen europäischen Vordenker Hans Dietrich Genscher und Walter Scheel gerade ihren guten Ruf bei reformbereiten liberalen Partnerparteien in Europa?

Indessen hat bei den Europa-Liberalen nur ein Mann echten Kultstatus: Guy Verhofstadt, ALDE-Fraktionschef im Europäischen Parlament ist. Der impulsive, rhetorisch glänzende und streitbare 64jährige Vollblutpolitiker ist in der ALDE Party das Korrektiv zum eher vorsichtig agierenden van Baalen. Neun Jahre stand Verhofstadt, ein erklärter Europa-Föderalist, als Premierminister an der Spitze Belgiens. In legendären Reden kanzelte Verhofstadt im EU-Parlament den linken griechischen Regierungschef Alexis Tsipras (43) und Ungarns rechtspopulistischen Premier Viktor Orbán (54) ab – in deren Anwesenheit.

Zum Flopp freilich wurde Verhofstadts Versuch, die EU-kritische und rechtspopulistische italienische Partei Movimento 5 Stelle (M5S / Fünf-Sterne-Bewegung) in die ALDE-Fraktion einzuverleiben – die eigenen Leute rebellierten gegen den kalten machttaktischen Pakt. Um seine 68köpfige bunte Gruppe zusammenzuhalten, zu der auch vier ANO-Abgeordnete gehören, muss Verhofstadt sein ganzes Geschick aufbieten. Momentan haben sich die spanischen Fraktionsmitglieder in den Haaren: Politiker von Ciudadanos, die am spanischen Staatsgefüge nichts ändern wollen, sitzen neben unabhängigkeitsbestrebten Katalanen der Partei PDeCAT, deren Vorsitzender und abgesetzter Regionalpräsident Carles Puigdemont gerade vor der spanischen Justiz nach Brüssel geflüchtet ist. Verhofstadt hat sich auf die Seite Madrids geschlagen, bleibt Meister der politischen Taktik und die herausragende liberale Führungsfigur in Europa.

Beim bevorstehenden Europakongress der ALDE Party in Amsterdam (1. bis 3. Dezember 2017) wird sich zeigen, wie weit sich die Liberalen von Portugal bis Polen und von Sizilien bis Stockholm spreizen wollen, um dumpfem nationalistischem Populismus eine breite proeuropäische Reformbewegung entgegenstellen zu können. Bis zur Europawahl im Mai oder Juni 2019 stehen noch stimmungsmäßig wichtige Urnengänge bevor: in Italien, Ungarn, Schweden, Lettland, Belgien, Slowenien und Luxemburg. Die drei Letzteren dürften in liberaler Hand bleiben.

Der größte liberale Coup wäre jedoch, wenn van Baalen den ALDE-Beitritt der Macron-Partei „La République en Marche!“ verkünden könnte. Ausgeschlossen ist das nicht. Die Drähte zwischen dem Elysee Palast in Paris und dem ALDE-Hauptquartier in Brüssel glühen. Man wird sehen.

 

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