von Çağıl Çayır
In seinem Essay „Warum die Technik ein Gegenstand der Ethik ist: Fünf Gründe“ behauptet H. Jonas, dass die Technik „einen neuen und besonderen Fall“ für die Ethik bildet.[1]
Als eine „Form des Handelns“ sei die Technik wie „alles menschliche Handeln moralischer Prüfung ausgesetzt“ und daher „ganz allgemein“ ein Gegenstand der Ethik. Als „gesteigerte menschliche Macht“ ließe sich auch Technik zum „Guten wie zum Bösen benutzen“ und man könne „bei ihrer Ausübung ethische Normen beachten oder verletzen“.
Allerdings bilde die Technik einen „besonderen Fall“ für die Ethik, der Überlegungen erfordere, die sich von bisherigen ethischen Denkweisen „um jedes menschliche Handeln“ unterscheiden.[2] Um die Neuartigkeit der Technik als ethischen Gegenstand zu beweisen führt Jonas fünf Gründe an, die im Folgenden erläutert werden. Diese werden anschließend besprochen. Abschließend werden die Ergebnisse zusammengetragen.
- Ambivalenz der Wirkungen
Als ersten Grund, weshalb die Technik einen besonderen Fall für die Ethik bilde, benennt Jonas die „Ambivalenz der Wirkungen“.[3] Nach Jonas sei es naheliegend die moderne Technik als Fähigkeit zu betrachten, dessen gutwilliger und legitimer Gebrauch in jedem Fall auch sich steigernde schlechte Wirkungen mit sich führe, „die untrennbar mit den beabsichtigten und nächstliegenden »guten« Wirkungen verbunden sind und diese am Ende vielleicht weit übertreffen?“ In der Technik herrsche eine „innere Mehrdeutigkeit“, welche bei ethischer Betrachtung notwendiger Weise zu erkennen sei.
Im Gegensatz zu Fähigkeiten wie zum Beispiel der „Macht des Redens“ sei die Technik nicht „an sich“ gut und nur bei Missbrauch schädlich, sondern habe auch bei gutwilligem Einsatz „eine bedrohliche Seite an sich“. Der „eigentliche“ und legitime Zweck“, nämlich der gutwillige Einsatz der Technik sei so vorantreibend, dass sie eine „innere Dynamik“ bewirke. Dies sei besonders gefährlich, weil das „Schädliche“ der Technik „angeboren“ sei und langfristig das „Gute“ und „Nützliche“ zu übertreffen drohe. Hier hebt Jonas das „Risiko des Zuviel“ hervor, was durch das Vorantreiben des „Guten“ in der Technik bewirkt werde. So läge die Gefahr „mehr im Erfolg als im Versagen“ technischer Fähigkeiten. Der „Druck“ menschlicher Bedürfnisse mache den technischen Erfolg jedoch notwendig. Deshalb müsse die ethische Auseinandersetzung mit Technik die „Ambivalenz der Wirkungen“ beachten und sich auf Mutmaßungen über langfristige Folgen „einlassen.“[4] Die von Jonas benannten Aspekte, werden angesichts der „Zwangsläufigkeit“ ihrer Anwendung schwerwiegender.
- Zwangsläufigkeit der Anwendung
Im Unterschied zu Fähigkeiten im allgemeinen, erlauben nach Jonas technische Fähigkeiten keine herkömmliche Trennung zwischen „Besitz“ und „Ausübung“. Um das Verhältnis von „Können und Tun, Wissen und Anwendung, Besitz und Ausübung einer Macht“ zu verdeutlichen, führt er die Beispiele des Sprechens und Wissens an. Der Gebrauch dieser und jener Fähigkeit werde durch den „Wunsch“ und das „Ermessen“ des Subjekts bestimmt und könne auch gänzlich vorbehalten werden. Die Technik hingegen sei eher vergleichbar mit dem „Verhältnis des Atmenkönnens und Atmenmüssens“. Sie habe es an sich, „ihre Anwendung im großen und immer größeren zu erzwingen und diese Anwendung zu einem dauernden Lebensbedürfnis zu machen.“[5]
Jonas zeigt dabei eine Entwicklung auf, die „im kleinen“, „meist in der Wissenschaft“, beginnt und in „permanenter Tätigkeit“ stetig in den Alltag unserer Gesellschaft, dem „Blutstrom kollektiven Handelns“ eingeht. Daher trage bereits die „Aneignung neuer Fähigkeiten“ eine „ethische Bürde“ mit sich, „die sonst nur auf den einzelnen Fällen ihrer Anwendung lasten würde.“[6]
Jonas unterscheidet die Technik von anderen Fähigkeiten dadurch, dass sie unaufhaltsam voranschreite und nur durch etwas fähigeres ersetzt werden könne und daher bereits die Eröffnung technischer Möglichkeiten ethische Denkweisen erfordere. Dieser Aspekt hänge allerdings im Wesentlichen mit dem Verhalten unserer Gesellschaft zusammen, in welcher Technik zum elementaren Bestandteil des modernen Alltags geworden ist und ständig die Aktualisierung der technischen Möglichkeiten gesucht wird.
- Globale Ausmaße in Raum und Zeit
Nachdem Jonas im Rahmen der ersten beiden Aspekte das Verhältnis vom Besitz und Gebrauch von Technik behandelt hat, widmet er sich dem „Wirkungsbereich“ der Technik.
„Das Ausmaß und der Wirkungsbereich der modernen technischen Praxis als ganzer und in jedem ihrer einzelnen Unternehmungen sind so, daß sie eine ganz neuartige Dimension in den Rahmen ethischer Rechenwerte einbringen, die allen früheren Handlungsarten unbekannt war.“[7]
Nach Jonas bildet die Technik ein „ethisches Novum“. Er führt an das ihr aktueller Gebrauch massiven Einfluss auf das Leben an fernen Orten und in der Zukunft bewirke. Dadurch trete mit der modernen Anwendung von Technik der Aspekt der „Verantwortung“ in einer neuartigen Tragweite hervor. Die Technik bringe neue „Größenordnungen der Macht“ mit sich, wodurch ferne, zukünftige und globale Dimensionen in „alltäglichen, weltlich-praktischen Entscheidungen“ enthalten seien. Jonas formuliert hierzu die These: „Die Anforderungen an die Verantwortlichkeit wachsen proportional zu den Taten der Macht.“[8]
- Durchbrechung der Anthropozentrik
Die neuen Größenordnungen menschlicher Macht und ihre zuvor nie da gewesene Reichweite, erfordern die Erweiterung des „ethischen Blickfeldes“ und der menschlichen Verantwortung auf „die gesamte Biosphäre des Planeten mit all ihrer Fülle von Arten […].“ Der Wirkungsbereich der Technik verleihe dem Menschen „eine planetarische Macht ersten Ranges“, weswegen der Mensch „nicht mehr nur an sich selbst denken“ dürfe. Deswegen erfordere die Technik eine ethische Betrachtungsweise, die nicht mehr anthropozentrisch ist. Jonas macht darauf aufmerksam, dass die drohende Zerstörung des Ganzen, die Erkenntnis über die „neuenthüllte Verletzlichkeit“ der Natur und damit die menschliche Solidarität mit ihr bewirke.
- Die Aufwerfung der metaphysischen Frage
Die „Ambivalenz“ und „Größe“ der Technik verleihen dem Menschen erstmals die Verantwortung für „die Zukunft des Lebens auf Erden“. Das „apokalyptische Potential“ der Technik wirft dabei die metaphysische Frage auf, „warum es eine Menschheit […], warum es überhaupt Leben geben soll.“ Mit dieser Frage war „die Ethik nie zuvor konfrontiert.“ Jonas führt an, dass die Beantwortung dieser Frage bedeutsam dafür ist, welche Risiken erlaubt und welche unzulässig sind. Er behauptet:
„Wenn es ein kategorischer Imperativ für die Menschheit ist zu existieren, dann ist jedes selbstmörderische Spielen mit dieser Existenz kategorisch verboten, und technische Wagnisse, bei denen auch nur im entferntesten dies der Einsatz ist, sind von vornherein auszuschließen.“[9]
Jonas verdeutlicht die von ihm benannten Gründe, weshalb Technik einen besonderen Fall für die Ethik bildet an einigen Beispielen. Seine Darlegungen zeigen, dass auch vermeintlich gute und relativ gewaltfreie technische Mittel eine „apokalyptische Drohung“ enthalten und langfristig ebenso gefährlich sein können wie eine offensichtlich schlechte Anwendung von Technik. Die Schädlichkeit des böswilligen Gebrauchs von Technik könne dabei leichter erkannt und vermieden werden, als die Gefahr, die bei gutwilligem Gebrauch von Technik vorhanden ist. Jonas macht darauf aufmerksam, dass das Voranschreiten der Technik bereits Grenzwerte erreicht habe und dringend verändert werden müsse. Jedoch seien die „glänzende Seite der technischen Errungenschaften“ und „nahe Gewinne“ täuschend und bestechend, so dass gegenwärtigen Bedürfnissen Priorität beigemessen und die Nachwelt vernachlässigt, sogar belastet werde. Selbst ohne diese „Fernsicht“ sei das „tyrannische Element“ in der heutigen Technik Herr der Menschen geworden, indem sie diese dazu zwinge sie zu vervielfachen. Damit beraube die Technik den Menschen seiner „Autonomie“ und „Würde“. Dieser Umstand verpflichte den Menschen den „technologischen Galopp unter außertechnologische Kontrolle“ zu bringen.[10]
Besprechung
Jonas fordert eine Ethik, bei dem nicht mehr der Mensch allein in Zentrum steht. Ein moderner kategorischer Imperativ sollte nach Jonas die Erhaltung aller Arten und den besonderen Schutz der gefährdeten beinhalten, sprich die Vielfalt in der Natur wahren und schützen. Dabei sei jede Handlung zu vermeiden, die langfristig anderen Lebewesen oder existierenden Dingen schaden, oder sogar vernichten könnte.
Jonas Aussagen zur Technik beziehen sich auf die moderne Gesellschaft. Die kritischen Aspekte der modernen Technikpraxis hängen dabei nicht mehr vom Individuum ab. Hiermit appelliert Jonas indirekt an die Wissenschaft, als wesentlicher Urheber technischer Möglichkeiten, sowie Politik. Die Wissenschaft hat die erst Macht, gefährliche technische Möglichkeiten zu vermeiden. Der Staat verfügt über legislative Möglichkeiten zur entscheidenden Beeinflussung der gesellschaftlichen Technikpraxis gemäß moralischer Grundsätze.
Technik ist insbesondere im Zeitalter der Globalisierung ein in Wissenschaft und Politik viel behandeltes Thema. Eine Schwierigkeit, die sich zur Verwirklichung moralischer Grundsätze im Umgang mit Technik eröffnet, ist die globale Einigung aller Gesellschaften. Denn selbst, wenn ein Teil der Welt der durch Diskurse erlangten Technikethik zustimmt, kann ein andere Teil der Welt weiterhin in ihrem Technikgebrauch modernen moralischen Werten widersetzen und den Weltfrieden weiterhin gefährden. Technik erfordert somit nicht nur neue ethische Blickwinkel, sondern auch die weltweite moralische Einigung hinsichtlich ihrer Verwendung.
Ein in dieser Hinsicht geeigneter Leitsatz ist die Konjunktion „Frieden in der Heimat, Frieden in der Welt.“[11] Mit diesem Satz formulierte Mustafa Kemal Atatürk im Jahre 1931 das Handlungsprinzip seiner politischen Partei. Atatürk fasste die historischen Erfahrungen zu beginn des 20. Jahrhunderts dahingehend zusammen, dass die Eigenschaft des Friedens notwendiger Weise nur dann existiert, wenn sie bei jedem, das heißt im eigenen Staat und in allen anderen Staaten existiert. Die Begründung dafür, dass es keinen Frieden in der „Heimat“ geben kann, wenn es Unfrieden an einem anderen Ort gibt, ist, dass der Unfrieden des einen Staats früher oder später den Frieden des anderen Staats stören, sogar vernichten kann.
Im Bezug zu Jonas Argumentation bietet sich der benannte Leitsatz an, da er sich auf kein individuelles Subjekt oder eine Art beschränkt, sondern eine Auslegung auf alle existierenden Dinge zulässt, welche die Eigenschaft des Friedens haben können.
Fazit
Technik ist ein ethisches Novum. Sie berührt viele wichtige Fragestellungen bisheriger ethischer Denkweisen, aber erfordert auch neuartige Überlegungen. Das Tempo und das Ausmaß des modernen Technikgebrauchs und ihre langfristigen Folgen bedrohen die Menschheit und das Leben auf dem Planeten. Es ist dringender Handlungsbedarf erforderlich. Zur angemessenen Handlungsweise, sind die entsprechende moralische Grundlagen notwendig. Dabei hängt die Zukunft des Lebens auf der Welt nicht mehr von Individuen ab, sondern bedarf der gesellschaftlichen Ordnung. Dabei ruft die moderne Technik alle Gesellschaften der Welt zur moralischen Einigung und Reflexion. Der metaphysische Aspekt der Technik überträgt dem Menschen weiterhin die Verantwortung in seinen Handlungen alle existierenden Dinge und Lebewesen zu achten. Eine Missachtung anderer Dinge und Lebewesen, kann früher oder später dem eigenen Leben schaden. Um die eigene Gesellschaft und nachfolgende Generationen nicht zu belasten, bedarf es umfassender und teilweise auf lange Sicht mutmaßlicher ethischer Überlegungen. Der globale und metaphysischeAspekt laden die Ethik hierbei ein, auch auf fremde Perspektiven besondere Rücksicht zu nehmen und fremde Lebenswelten kennen zu lernen um sie in ihre ethischen Überlegungen aufzunehmen. Somit erfordert die Technik die Auseinandersetzung mit der gesamten Welt. Denn die Technik übt ersichtlichen Einfluss auf die gesamte Welt aus. Ein in diesem Zusammenhang geeigneter Leitsatz kann der von Atatürk formulierte Spruch sein. Als Handlungsprinzip greift die Konjunktion „Frieden in der Heimat, Frieden in der Welt“ genau die Bedingungen auf, die Jonas von einer Technikethik fordert. Nämlich, dass unsere Handlungen dem Frieden aller dienen und niemandem auf der Welt auf kurze oder lange Frist schaden. Besonders auf lange Frist sei der Gebrauch von Technik gefährlich und bei gutwilligem und kurzfristig profitbringendem Einsatz trügerisch. Um den Bedürfnissen und Süchten der modernen Gesellschaft zu genügen, ohne wissentlich eine selbstmörderische und apokalyptische Kultur zu betreiben, bedarf es daher künftig der Technikethik. Jonas Konzept bietet eine gute Orientierung, indem es die Technik als „menschliche Handlung“ und „menschliche Macht“ begreift und wesentliche Eigenschaften ihrer Verwendung betrachtet.
Bibliographie
Jonas, Hans, Warum die Technik ein Gegenstand für die Technik ist: Fünf Gründe, in: Lenk, H./Ropohl, G., Technik und Ethik, Stuttgart 21987, S. 81-91.
[1] Jonas, Hans, Warum die Technik ein Gegenstand für die Technik ist. Fünf Gründe, in: Lenk, H./Ropohl, G., Technik und Ethik, Stuttgart 21987, S. 81-91, S. 81.
[2] Ebd.
[3] Ebd.
[4] Ebd., S. 82.
[5] Ebd., S. 83.
[6] Ebd.
[7] Ebd., S. 84.
[8] Ebd., S. 85.
[9] Ebd., S. 87.
[10] Ebd., S. 91.
[11] «yurtta sulh, cihanda sulh» (türk.).
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