Warum unterwerfen sich Frauen freiwillig der Verschleierung?

Muslime in Deutschland, Foto: Stefan Groß

Es gibt im Koran zwei Suren die eine Forderung zur Verschleierung von Frauen formulieren:
24:31 und 33:59 (laut anderen Quellen lässt sich auch 7:27 entsprechend interpretieren)

24:31 „Und sag den gläubigen Frauen, sie sollen ihre Augen niederschlagen, und ihre Keuschheit bewahren, den Schmuck, den sie tragen, nicht offen zeigen, soweit er nicht normalerweise sichtbar ist, und ihre Tücher über ihre Busen ziehen.“

33:59 „O Prophet, sag deinen Gattinnen und deinen Töchtern und den Frauen der Gläubigen, sie sollen etwas von ihrem Überwurf über sich herunterziehen. Das ist eher geeignet, daß sie erkannt und so nicht belästigt werden. Und Allah ist Allvergebend und Barmherzig.“

Je nach Übersetzung und Auslegung lassen sich aus diesen Suren offenbar folgende Handlungsweisen ableiten:

  1. keine Verschleierung
    2. lose getragenes Kopftuch (Schaila)
    3. streng getragenes Kopftuch (Hidschab, Al-Amira, Chimar)
    4. Vollverschleierung (Tschador, Nikab, Burka)

Die Entscheidung für das Tragen eines Kopftuchs würde ich somit (in absteigender Reihenfolge) als zunehmend konservative Position bezeichnen (gegenüber der liberalen Position keine Verschleierung zu tragen).

Warum trifft eine Frau aber überhaupt die Entscheidung ihre Handlungen von oben genannten Zeilen beeinflussen zu lassen? Die Verse sind in den breiteren Kontext des Koran eingebettet.
Neben der oftmals wiederholten Behauptung das absolute, direkte und unfehlbare Wort Gottes wiederzugeben (beispielhaft: 3:7, 10:15, 10:37, 11:1, 33:36), enthält dieser zahlreiche weitere Regeln für das Verhalten derjenigen die an die Wahrheit des Buches glauben.

Im Folgenden stellen sich (unter anderen) diese Fragen, die sich jeder stellen sollte, der das Kopftuch als Symbol der Freiheit bezeichnet:

Glaubt eine Frau, die bereit ist ihre Kleidung der Aussage eines Buches unterzuordnen, an die Richtigkeit des Inhalts des Buches?
Wie interpretiert eine Frau, die eine konservative Auslegung der Bekleidungsvorschriften praktiziert
– die Verse die die Stellung der Frau im Weiteren regeln (2:228, 4:11, 4:34)
– die Verse, die es verbieten sich mit Ungläubigen freundschaftlich einzulassen (2:221, 3:28, 4:89, 5:51, 9:23, 33:60, …)
– die Verse, die über die Behandlung von Apostaten sprechen (3:90, 4:89, 16:106)
– den Vers der die Bestrafung von Dieben regelt (5:38)
– die Verse, die den Kampf gegen Ungläubige fordern (2:89, 2:191, 4:76, 9:5, 9:14, 9:29, 9:123, 33:61, 47:4, 58:14, …)

Mögliche Einwände

Zwei mögliche Einwände möchte ich hier im Vorhinein behandeln:

  1. Die Verse können unterschiedlich interpretiert werden
    Das stimmt, mein Beispiel zur Verschleierung der Frau zeigt das deutlich. Man kann sich (aus eigener Sicht, nicht aus der Sicht konservativer Ausleger) als Muslima bezeichnen und kein Kopftuch tragen.
    Aber offensichtlich tun das viele nicht.
    Man kann also vermutlich den Vers 5:38 auch liberal auslegen (auch wenn das im Kontext der Unfehlbarkeit des Koran schwer fällt). Vielleicht ist hier Abschlagen mehrfach übersetzbar und man könnte sagen, man macht die Hände des Diebes nur unfähig zu stehlen.
    Und das wiederum kann man als Metapher sehen und so interpretieren, dass die Hände ja auch unfähig sind, wenn sie durch weltliche Gesetze davon abgehalten werden.
    Ähnliches wird ja auch mit dem Dschihad versucht, auch wenn die Verrenkungen hier ähnlich schwierig sind.
    Tatsache ist aber, dass die Verse von vielen Menschen nicht liberal sondern konservativ interpretiert werden. Das führt dann dazu, dass Verse wie 5:38 in manchen Ländern dieser Erde geltendes Recht (in ihrer wortwörtlichen Auslegung) sind.
    Gleiches gilt für Vers 4:89 zur Apostasie. Offensichtlich kann man versuchen den Vers liberal auszulegen. Nichtsdestotrotz ist der Glaubensabfall in zahlreichen islamischen Ländern mit Strafen (bis hin zum Tod) bedroht. Auffällig hier auch die Korrelation zur Verschleierungspflicht.
  2. Die Verse sind nur selektiv ausgewählt
    Auch das stimmt, ich habe nicht den kompletten Koran wiedergegeben, sondern nur besonders herausstechende Verse ausgewählt.
    Schnell wird hier die Sure 109 „Die Ungläubigen“ genannt werden, mit dem berühmten 6. Vers: „Euch eure Religion und mir meine Religion“.
    Um hieraus im Kontext des gesamten Koran eine Botschaft der unbedingten Toleranz herauszulesen, ist man gezwungen weite Teile des Koran zu ignorieren oder umzuinterpretieren.
    Umgedreht ist es aber dann ebenso möglich Sure 109 zu ignorieren und damit die Aussage des Koran grundlegend zu verschärfen. Wenn das eine möglich/erlaubt ist, warum nicht das andere?

Der Islam in der Welt

Tatsache ist, dass der Koran in seiner konservativen Interpretation in Ländern mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit einen gewaltigen Einfluss auf die Gesetzgebung ausübt.
In 70% der rund 50 Länder werden Schwule gesetzlich verfolgt. In 9 davon gilt die Todesstrafe, in den übrigen kommt man „nur“ ins Gefängnis (Im Vatikan ist Homosexualität übrigens legal, obwohl sie in der Bibel mit Strafe bedroht ist).
In zwölf der Länder steht die Todesstrafe auf die Abkehr vom islamischen Glauben.
Die Korrelation zwischen islamischem Bevölkerungsanteil und weiblicher Genitalverstümmelung ist erschreckend, wenn auch hier durchaus andere Faktoren ihren Anteil haben mögen.
57% der Länder werden als autoritäre Regime geführt, ganze 8% erreichen den Status der unvollständigen Demokratie (Demokratieindex).
Ähnlich ist das Bild für andere Indizes wie den „Global Gender Gap“, den „Failed State Index“, …
Besorgniserregend auch Umfragen wie diese: http://www.pewforum.org/2013/04/30/the-worlds-muslims-religion-politics-society-overview/

Die Daten stammen grossteils von Wikipedia und anderen öffentlichen Quellen, diese Texte sind keinesfalls unfehlbar. Ich mag auch die ein oder andere Zahl vertauscht, mich verrechnet oder gerne auch unbewusst manipulliert haben.

Niemand muss meine Ausführungen für richtig halten, aber jeder der meine Interpretation für falsch, böswillig oder tendenziell hält, sollte vor einem abschliessenden Urteil zumindest
1. den Koran lesen (kritische Verse in mehreren Übersetzungen). Eine Diskussion über ein Thema zu führen, ohne die zugrundeliegende Agenda zu kennen, ist fahrlässig.
2. die Lage der mehrheitlich islamischen Staaten ansehen. Auch wenn andere Ursachen zur Bestrafung von Schwulen (Tuvalu, Bhutan) führen können, auch wenn die Genitalverstümmelung kein ausschliesslich (aber weitgehend) islamisches Phänomen ist und auch wenn es nicht-islamische autoritäre Regime gibt, bedeutet das keineswegs, dass kein Zusammenhang zwischen dem Islam und den Phänomenen bestünde.

Warum dieser Text?

Die Recherche habe ich begonnen, um mir selbst ein Bild in dieser undurchschaubaren und ideologiebesetzen Debatte zu verschaffen.
Das Resultat hat mit meiner ursprünglichen Einstellung weniger gemein, als ich mir anfangs eingestehen wollte.
Wichtig wäre es aber nun, die andere Seite zu hören.
– Wo irre ich mich?
– Was übersehe ich?
– Wie lässt sich eine liberale Interpretation des Islam rechtfertigen?
– Warum würde ich bei einem vergleichbaren Text über Christen- oder Judentum mit meinem echten Namen unterschreiben, verzichte in diesem Fall aber lieber darauf?

Viele der Argumente, die ich NICHT hören möchte, habe ich bereits selbst angeführt. Ich bin auf die anderen gespannt.

 

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