In und um Europa herum brennt die Hütte: Der Terror zieht seine Blutspur von Manchester bis Barcelona. Türkei-Zuchtmeister Erdoğan giftet gallig gegen Gegner, ruft zum Wahlboykott im NATO-Partnerland Deutschland auf. An der EU-Außengrenze lässt Kreml-Kaiser Putin an die 100.000 Soldaten zum Großmanöver aufmarschieren. In Polen drückt eine mit absoluter Mehrheit regierende Partei dem Rest des Landes ein autoritäres Staatssystem auf die Augen. Der Europäische Gerichtshof verurteilt Ungarn und die Slowakei dazu, Flüchtlinge gemäß beschlossener Verteilungsquote aufzunehmen. In Spaniens reichster Region Katalonien wird die Unabhängigkeit vorangetrieben. Und über allem schwebt der Brexit… Sorgen über Sorgen!
Trotz der tollen Turbulenzen: im deutschen Wahlkampf spielt das Schicksal von Europa eine merkwürdig untergeordnete Rolle. Und wenn, dann fast nur im Zusammenhang mit einem ganz, ganz kitzligen Thema, nämlich dem elenden Ersaufen tausender Menschen im Mittelmeer, die ausgezogen waren, bei uns das große Glück zu finden. Die größte Sorge vieler Wahlkämpfer ist aber weniger die Frage, was kann Europa gemeinsam für verzweifelt geflohene Migranten tun, als vielmehr: wie halten wir uns die Überlebenden vom Hals?
Dabei wäre es bitternötig, grundsätzlich Stellung zu beziehen: wie halten wir es eigentlich künftig mit Europa? Denn davon hängt das Schicksal Deutschlands ab. Für die größte Volkswirtschaft im Staatenverbund ist es überlebenswichtig, dass die politische Stabilität und Sicherheit zwischen Portugal und Polen weiterhin garantiert bleibt. Keine andere europäische Nation profitiert so sehr von Reisefreiheit, Binnenmarkt und Euro, wie Deutschland. Die Bundestagswahl wird mit darüber entscheiden, wie es weitergeht, denn EU-Reformen können nur dann kommen, wenn der Europäische Rat als Vertretung der Mitgliedsregierungen sie anschiebt.
Freilich: um die vielen Vorteile der Europäischen Union zu sichern, bedarf es eines Neustarts der EU. „In dem Zustand, in dem die EU jetzt ist, kann sie nicht überleben,“ bilanziert Guy Verhofstadt, der sich als Fraktionschef der Liberalen im EU-Parlament zu einem Vordenker Europas entwickelt hat. Frankreichs Präsident Macron sagt es pathetischer, beschwört die Notwendigkeit einer europäischen „Wiedergeburt“: Ziel müsse ein „souveränes Europa“ sein, „weil die Nationalstaaten nicht mehr auf der Höhe der Herausforderungen sind.“
Tatsächlich sind die bisherigen Strukturen und Mechanismen Europas in die Jahre gekommen. Viele Fragen stellen sich:
Wollen wir eine weitere Integration Europas, also mehr Zusammenrücken? Auf welchen Politikfeldern soll die EU mit einer Stimme sprechen? Wo sollen die Mitgliedsstaaten weiterhin eigene Hoheit besitzen? Brauchen wir ein Europa der „zwei Geschwindigkeiten“ und wie wäre das zu organisieren? Welche Rechte soll das Europäische Parlament bekommen? Muss die Einstimmigkeit im Rat weg? Brauchen wir eine Europäische Armee? Ist eine Fiskalunion nötig? Wie sichern wir die historische Errungenschaft offener Binnengrenzen? Und: wie überwachen wir zugleich effektiv unsere langen Außengrenzen (48.000 km Küste, 9400 km Land, 460 Flughäfen)?
Fragen über Fragen, auf die deutsche Politiker durchaus Antworten haben (so ist es ja nicht). Die aber sind versteckt in ihren Partei- und Wahlprogrammen. In kaum einer Fernsehdebatte wird dargelegt, wie die kriselnde EU erneuert werden soll. Weinige Wahlplakate greifen das Thema auf. Es fragt allerdings auch kaum ein Journalist danach. Das ist ein Fehler.
Vielleicht lässt sich das Ausklammern des Themas damit erklären, dass die Deutschen in Sachen EU so friedfertig sind. Die Stimmung im Lande steht auf „Einigkeit und Zufriedenheit in Zeiten des Umbruchs“, ergibt eine aktuelle Umfrage. Die Bundesbürger sind demnach auffallend positiver gestimmt als ihre europäischen Nachbarn. Noch. Denn in eineinhalb Jahren schon sind Europawahlen. Und bis dahin kann sich die Stimmung der Deutschen ändern.
Es wäre gut, wenn die letzte Phase des Wahlkampfes von den Bundestagskandidaten aller Parteien dazu genutzt würde, darzulegen, wie das europäische Deutschland der Zukunft aussehen soll. Wir brauchen dazu eine breite Debatte. Damit ein neues Europa der Bürger entstehen kann.
Wolf Achim Wiegand ist Journalist und Auftrittsberater in Hamburg. Er ist in der FDP aktiv, unter anderem im Bundesfachausschuss für Internationale Politik. Außerdem ist er Country Coordinator und Europadelegierter der paneuropäische ALDE Party. Veröffentlichte Meinungen sind seine persönlichen.
Kommentar hinterlassen
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.