Tochter des Diktators – Ines Geipel legt mit ihrem neuen Roman ein Meisterwerk über die Arroganz der Macht und die Unschärfen der Liebe vor

Tochter des Diktators, Quelle: Klett-Cotta

Ines Geipel hat mir ihrem neuen Roman ein Meisterwerk über die Arroganz der Macht und die Unschärfen der Liebe geschrieben

Später kam mir der Gedanke, dass er nichts anderes versucht hatte, als im Sprechen seine Angst loszuwerden. Dass er immer weiter gesprochen und gestikuliert hatte, weil die Angst nicht aus ihm weiche wollte, weil sie nicht wegging, weil er wusste, in welcher Gefahr sie beide waren, und dass sie keine Chance haben würden.

Jahre später hört Anni die ganze Geschichte beim Wiedersehen mit dem schwer gezeichneten Ivano. Am Anfang steht das Bombenattentat der linksextremen Roten Brigaden auf dem Marktplatz von Cigoli, ihrem Heimtdorf, dessen Opfer die minderjährige Rosa wird. Das zwölfjährige Mädchen hatte keine Chance. Das Ende mündet im Mord an der Adoptivtochter des SED-Großwesirs Walter Ulbricht und dessen Frau Lotte in wiederveeinigten Berlin. Auch ihr bleibt nicht der geringste Ausweg. Es geht um eine Politik in der Zeit des Kalten Krieges. Es geht um die Chancenlosigkeit einer Liebe in den Zeiten des permanenten Selbstbetrugs kommunistischer Herrschaft. Die Folgen sind nicht absehbar.

Ines Geipel rollt mit viel literarischem Geschick die Etappen der geschehenen Geschichte auf.. Die historischen Tatsachen führen nach Ostberlin, Leningrad, Rom und Paris. Das epische Zentrum aber befindet sich jenem toskanischen Dorf in der Provinz Pisa, am Arno, aus dem „allerhand Stimmen“ aufsteigen. Es sind die Stimmen derer, „die nicht mehr da sind“, die zwischen die Lager gerieten. Das Buch führt von der Zeit nach dem Krieg bis in die Gegenwart.

Es ist eine von den krachenden Gegensätzen ihrer Zeit aufgeriebene Personnage, die in der Erzählerin Anni Paoli, die sie alle kennt, ihre Bewahrerin vor der Mythologisierung historischer Tatsachen findet. Sie jedenfalls will „zusammentragen, was [sie] weiß“. In der Kindheit hatte sie mit Ivano Matteoli, dem Schustersohn, auf den Dächern der alten Häuser des Dorfes gesessen und den Männern beim Bocciaspielen zugesehen.

Ivano, sagt Anni, hatte immer einen Plan, damit die beiden sich jederzeit auskennen und zurechtfinden. Die Prüfungen und Gefahren sowie ihre Auswirkungen gehen der Wahrscheinlichkeit aus dem Weg. Wie die Nazis terrorisierten bald die Roten Brigaden ganze Kleinstädte und Dörfer: Rosa wird eines ihrer jüngsten Opfer. Doch die Gerichte zeigen sich milde, Belastungszeugen haben es allemal schwerer. Zwar gehören die unter Verdacht stehenden Attentäter einer kommunistischen Zelle an, doch sind es allesamt ehrbare Mitbürger mit geachteten handwerklichen Berufen. Der Anführer der mutmaßlichen Attentäter ist Ivanos Vater und bringt es später zum Amt des Bürgermeisters.

Was sollen die Anwohner dagegen tun? Im Dorf will man das alte Leben zurück. Die Kirche und der Madonnen-Kult – das über Jahrhunderte tradierte Bild der alles erduldenden Frau – bleiben, von kurzen Phasen hereinbrechender Trends wie den „Klimalüftern“ abgesehen, das geistige Zentrum dieses Dorfes. Der Aufbruchstimmung des Sommers 1949, als jene „wahren Helden der neuen Zeit“ von den Decken klappernd bisher Geheimgehaltenes auf den Markt bliesen und die Anwohner in heiteren Aufruhr versetzten, nie mehr an etwas festzuhalten, „was [vielleicht ihr] Unglück ist“, folgte die blutgetränkten Kontrollnahme durch die Terrorbrigaden.

Die bürgerliche Vergangenheit, die Scheusale wie Hitler und Mussolini hervorgebracht hatte, sollte ein für allemal zerschlagen werden. Mit diesem „roten Stern an der Jacke“ zieht es Anfang der Sechziger Jahre Annis Freund Ivano, den sie liebt und auf den sie bis zuletzt hofft, zum Studium nach Leningrad, wo er Beate „Bea“ Ulbricht kennenlernt -, während Anni nach Paris zieht und sich an der Sorbonne einschreibt.

Es sind zwei Wege im latenten Gegensatz zwischen Ost und West. Doch haben die Anfeindungen, die das Leningrader Liebesverhältnis bald erdulden muss, hier nichts mit dem kontrollwütigen Kommunismus (was er war!) zu tun, sondern mit der engstirnig-konspirativen Gesinnung eines regierenden Ehepaars. Zu finden bereits in uralten Märchen und Mythen, bedroht diese Konstellation auch die Wirklichkeit in „grausamer“ Weise.

Denn trotz der nach außen beschworenen internationalen Solidarität, sollte das oberste Staatskind der DDR sich auf keinen Fall auf einen kleinen unbedeutenden italienischen Kommunisten einlassen. Die frisch Verliebten erleiden aufgrund des Festhaltens an ihrer Partnerschaft unerträgliche Situationen. So werden schwelende Konflikte zwischen den Partnern geschürt: Auseinandersetzungen von Auge zu Auge werden von Staatsoberhaupt und Gemahlin unerbittlich geführt, Widerspruch nicht geduldet.

Zwar scheitern der Ulbrichts Bemühungen, die Ehe endgültig zu verhindern, doch rächen sie sich um so unerbittlicher an Tochter und Schwiegersohn. Selbst Kommunisten bleiben sie ihrem unerwünschten kommunistischen Schwiegersohn gegenüber unversöhnlich feindselig. Bekommen die Helden der Mythen von ihren Peinigern Aufgaben gestellt, um sich zu irgendwie doch noch retten, so wurde diese Möglichkeit sogleich in Abrede gestellt.

Selbst Ivano, der sonst immer einen Plan hat, wird damit jeder Handlungsspielraum genommen. Jahre später hört Anni die Geschichte beim Wiedersehen in Ciglio. In Paris gehörte sie 1968 zu den studentischen Aktivisten, doch die Liebe zu Ivano blieb ungetrübt. Ivano erwidert ihre Liebe für einen Tag, dann geht er wieder weg. Er schreibt ihr aus Rom. Und wieder und wieder hört sie auch von Bea Ulbricht: Dass sie neu heiratete, Mutter wurde, nach Ostberlin zurückkehrte und ihr die Eltern das Kind entrissen, so wie sie einst einer herzlich sorgenden Adoptivmutter aus Dresden weggenommen wurde.

Den Schmerz betäubt Beate Ulbricht mit Alkohol. Nach der Wende erzählt sie einem Bloulevardblatt von ihrem Schicksal und bezahlt dafür mit ihrem Leben. Alle sterben. Und Anni erzählt ihre Geschichte.

Ines Geipel ist mit „Tochter des Diktators“ ein Meisterstück über die Arroganz der Macht und die Unschärfen der Liebe gelungen. Mit sparsamen Mitteln stellt die Autorin dar, „wie das Autoritäre ins intimste Innere des Lebens eindringt“. Und auch die wie nebenher erzählte „Amour fou“ im politischen Minenfeld Ost- und Westeuropa „zwischen Paris, Leningrad, Rom, Ost-Berlin und dem erzkatholischen Cigoli“ hinkt dem qualitativ nicht nach.

 

Ines Geipel. Tochter des Diktators, Roman, 198 Seiten, Klett-Cotta, Stuttgart 2017. ISBN 978-3-608-98311-1. 20 Euro.

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Über Axel Reitel 36 Artikel
Axel Reitel (*1961); 1982 Freikauf/Ausbürgerung; seit 1982 Hamburg, dann Westberlin; 1983 literarisches Debüt; 1985-1990 Studium (Kunstgeschichte/Philosophie); seit 1990 freischaffender Autor (u. a. Jugendstrafvollzug der DDR; Theorie vererbter Schuld); seit 2003 freier Mitarbeiter der ARD. Lebt in Berlin.

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