Brauchen wir eine Verbrecher- bzw. Extremistendatei in Europa?

Europa-Fahne in Muenchen, Foto: Stefan Groß

Reflexartig fordern Politiker bei Terror und anderen schweren Gewalttaten eine europäische Verbrecher- bzw. Extremistendatei. Damit, so wird der erschrockenen Öffentlichkeit suggeriert, könne man rasch und einfach anreisewillige Straftäter schon im Vorfeld identifizieren und vor dem Trip stoppen. Doch eine länderübergreifende Liste kann derzeit in der EU gar nicht aufgebaut werden. Warum?

Nach den Hamburger G20-Gewalttaten, an denen sich politisch motivierte Kriminelle aus ganz Europa beteiligt hatten, erscholl wieder der Ruf nach einem länderübergreifenden Verdächtigenregister. „Wir haben im Extremistenbereich keine ausreichende Datengrundlage in Europa“, klagt Justizminister Heiko Maas. Eine solche Datei werde es den Behörden ermöglichen, „bei solchen Ereignissen einen besseren Überblick zu bekommen und Leute an den Grenzen abzuweisen“ In der Union nannte man den SPD-Vorschlag „sehr sinnvoll und unterstützenswert“.

Die Wahrheit ist: ein EU-Index gewaltbereiter Personen liegt in weiter, weiter Ferne. Denn die 28 Mitgliedsregierungen leiden an notorischer Eigenbrötelei und verhindern so den einleuchtend klingenden Plan. Die größte Hürde bauen also ausgerechnet jene auf, die Forderungen nach einer EU-weiten Extremistendatei bei jeder sich bietenden Gelegenheit lautstark in die Öffentlichkeit posaunen. Noch in keiner einzigen EU-Hauptstadt hat man sich bequemt, nationale Namensspeicher mit denen der anderen 27 Länder zu vereinheitlichen. So klingt die Forderung nach einer Extremistendatei zwar gut, ist aber nur eine populäre Worthülse.

Wer in ein Verbrecherverzeichnis aufgenommen wird und wer nicht, das ist zwischen Stockholm und Sizilien völlig unterschiedlich geregelt. Was in Berlin als speichernswert gilt, ist für Bratislava bedenklich oder gänzlich ausgeschlossen. Auch wie lange Daten gespeichert werden sollen – und nach welchen Kriterien man sie wieder löschen kann – ist strittig. Keine Harmonie zudem in der Frage, welche Fakten eigentlich miteinander verknüpft werden sollen und dürfen.

Der politische Wirrwarr frustet die bestehenden, aber machtlosen Sicherheitsstellen der EU-Staaten. Das europäische Polizeiamt Europol (Sitz: Warschau) etwa hat vor und während des G20-Desasters über sein Analyseprojekt „Dolphin“ viele Fakten über umherreisende „Krawalltouristen“ geliefert. Doch selbst eingreifen konnte Europol nicht, weil es dafür kein Mandat hat. Und so blieb dem Amt letztlich nur zuzuschauen, ob und was die nationalen Polizeien mit den Europol-Faktendossiers machten – und was nicht.

Genervt sind auch Mitarbeiter beim Schengener Informationssystem (SIS) in Straßburg. Hier lagern gut 50 Millionen Datensätze, darunter über unerwünschte Personen. Ob die SID-Belege abgerufen und verwertet werden, das liegt auch hier ausschließlich bei den nationalen Sicherheitskräften. Nicht anders ist es beim Europäischen Informationssystem über Strafregister (Ecris), das Daten zu vorbestraften Personen sammelt und hütet.

Insider sagen, die mangelnde Datenerfassung und -auswertung sei eine Folge von „Misstrauen“ zwischen den beteiligten Behörden. Nicht jedes Amt wolle ausländischen Sicherheitsdiensten den Zugriff auf das nationale System gestatten. Zu gut Deutsch: EU-Fahnder befürchten gegenseitigen Datenklau – oder verbergen sich dahinter womöglich schlichte Besitzstandswahrungen? Solch krämerseelige Eigenbrötelei können wir uns in Europa nicht leisten – zu groß sind die Herausforderungen.

Kritiker begründen ihr Veto gegen Verbunddateien unter anderem mit dem Trennungsgebot zwischen Polizeien und Geheimdiensten. Die Linie könne unterlaufen und Unschuldige erfasst werden. Diese Befürchtung ist ernst zu nehmen. Jedoch kann eine clevere Gesetzgebung den Schutz der Bürger und die Wahrung der individuellen Freiheit verknüpfen.

Gerade wenn wir Europäer das Prinzip offener EU-Grenzen beibehalten wollen, dürfen unsere Regierungen es nicht nur auf den wirtschaftlichen Binnenmarkt einengen. Wir brauchen zugleich einen homogenen EU-Sicherheitsraum. Deshalb kann die Antwort in Zeiten vernetzt vorgehender ein- und durchreisender Gewalttäter nur die Gründung eines schlagkräftigen „europäischen FBI“ sein.

Europol muss ähnlich wie die US-Bundespolizei operative Befugnisse bekommen. Das Amt muss nationalen Strafverfolgungsbehörden bei der Bekämpfung schwerer internationaler Kriminalität nicht nur helfen, sondern es muss mit einem eigenen Apparat von sich aus EU-weit tätig werden können.

Ja, das bedeutet Mut zur Abgabe nationaler Kompetenzen und deren gezielte Überführung in eine innereuropäische Sicherheitsarchitektur. Europol solle „mit den nationalen Polizeibehörden zusammen gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität kämpfen“, fordert der FDP-Europaabgeordnete Alexander Graf Lambsdorff. In der Polizei- und Justizpolitik sei Europa bisher „ein zahnloser Tiger“.

Lambsdorff geht noch weiter: zu einer europäischen Sicherheitsarchitektur gehöre ferner eine Europäische Staatsanwaltschaft. Der Gedanke dabei ist die schnellere und effektivere Vorbereitung von Urteilen gegen Straftattouristen. Neuerdings wollen 20 Mitgliedstaaten, darunter Deutschland, der sogenannten „Einheit für justizielle Zusammenarbeit der Europäischen Union“ (Eurojust) mehr Kompetenzen zugestehen. Freilich nur bei Vergehen mit Auswirkungen auf das EU-Budget, wie Mehrwertsteuerbetrug. Das ist weit entfernt von einer europäischen Anklagebehörde.

Und so warten wir also weiter auf einen großen Wurf der EU-Regierungen zum Thema innere Sicherheit. Kommt der nicht, werden Schweizer Extremisten bei nächster Gelegenheit erneut ungehindert einen Sonderzug ins Tatgebiet organisieren können. Britische Linkschaoten werden wieder mit dem gecharterten Minibus kommen, um zuzuschlagen. Und deutsche Anarchos werden gleichgesinnte Zerstörungswütige aus Frankreich, Belgien, Spanien, Griechenland oder Italien nochmals zu einem Festival der Straftaten einladen.

Europas innere Sicherheitspolitik geht zu langsam voran. Das zeigte erneut die Konferenz der EU-Innen- und Justizminister wenige Tage nach den Hamburger G20-Auschreitungen. Dabei berieten die Politiker lange über Vernetzungen von Reise-, Visa- und Fingerabdruckdateien. Doch auch das ist letztlich Stückwerk und passt zur unglaubwürdigen Forderung nach einer derzeit unrealistischen Datenbank über EU-Extremisten.

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