Darüber sprechen wir bei der Leitkultur-Debatte eben nicht!

Walhalla, Foto: Stefan Groß

Die Leitkultur-Debatte krankt an ihren Voraussetzungen. Und zwar nicht etwa, weil Thomas de Maizière damit passgenau neben „Innere Sicherheit“ einen für viele Wählerschichten zentralen Punkt im Superwahljahr 2017 auf die Agenda der Union gesetzt hat. Nein, sie krankt an ihren Voraussetzungen, weil sie geschichtsvergessen ist.

Nun könnte man vielen Kritikern folgen, und sagen, dass „christlich geprägt“ eine Abgrenzungsformulierung zu „muslimisch“ ist und es im Kern um eine innerdeutsche Auseinandersetzung über die Begegnung mit Migranten aus islamisch geprägten Gesellschaften geht. Es ist unbestritten, dass unser Land „christlich geprägt“ ist, wie der Bundesinnenminister feststellt. Knapp 46 Millionen Bundesbürger gehören nachwievor einer christlichen Konfession an und laut Umfragen glauben 58% der Deutschen an einen – in Zeiten dogmatischer wie spiritueller Kirschenpflückerei wie auch immer definierten – Gott. Die Debatte krankt jedoch an einem anderen Punkt, denn sie spitzt zu oft die komplexe Geschichte des deutschen Nationalstaates und unserer Gesellschaft auf einen einzigen Faktor zu, den einer nicht näher definierten „christlichen Prägung“.

Tatsächlich krankt die Leitkulturdebatte an drei problematischen Faktoren: der ahistorischen Behauptung eines uniformen Christentums, dem Übergehen anderer zentraler Prägefaktoren der europäischen Moderne und der Überbetonung von Einheitlichkeit „deutscher“ Identität, der Behauptung eines deutschen Wesenskerns. Zudem verdrängt die Zuspitzung von Identität zur Bekenntnisfrage das Grundproblem, wie man eine politische Bürgeridentität stiften kann (Kurzantwort: mit Geld, nicht mit Papier).

 Verdrängte Konfessionskonflikte

Erstens sollte gerade im „Lutherjahr 2017“ zur Differenzierung angemahnt werden. Die konfessionellen Bruchlinien zwischen Protestanten und Katholiken waren für die Gesellschaftsgeschichte des deutschen Nationalstaats ebenso prägend wie das Chiffre „Luther“ und der von ihm geprägte Protestantismus als ein Baustein der allmählichen Genese deutscher nationaler Identität im 19. Jahrhundert begriffen werden muss und 2017 zugleich als solcher inszeniert wird. Selbst heute ist es für tief überzeugte Katholiken oder Protestanten nur schwer zu ertragen, in einen Topf geworfen zu werden. Die teils erheblichen konfessionellen Unterschiede, ihre Auswirkungen auf regionales Brauchtum und konstitutive Weltsichten der „Deutschen“ werden in der impliziten Pauschalbehauptung verdeckt, „Christ“ sei „Christ“. Verdrängt werden so die aus dem konfessionellen Mit- und Gegeneinander hervorgehenden Konflikte und angestoßenen Aushandlungsprozesse gesellschaftlicher Ordnung, die sich von den Religionskriegen bis hin in die Nationalstaatswerdung und in die Bundesrepublik manifestierten. Dieses Mit- und Gegeneinander zwischen Protestanten und Katholiken war prägend für das Ringen um Macht und Einfluss über Jahrhunderte deutscher Geschichte, das in der heutigen ökumenischen Eintracht (wenn nicht verklärender Gleichmacherei), aus einer für religiöse Belange zunehmend blinden, rein säkularen Perspektive wie auch in der Abgrenzungsabsicht nach außen einfach hinfort gewischt wird. Ganz zu schweigen von verdeckten Schattenseiten wie etwa einem religiösen begründeten, spezifisch „christlichen“ Antijudaismus.

Vergessene Moderne

Zweitens ist dieses Land ebenso vom Zeitalter der Aufklärung, der Enstehung, Ausdifferenzierung und steten Modifizierung wissenschaftlichen Denkens, von Erfindergeist, der technisch-industriellen Revolution, den Folgen von Urbanisierung und transnationaler wie -kontinentaler Vernetzung, von Liberalismus, Sozialdemokratie, sozialistischen, kommunistischen, anarchistischen und anderen Weltbildern und politischen Programmen, mehrfachen Grenzverschiebungen wie auch den Folgen von NS- und DDR-Diktatur und zwei verheerenden Weltkriegen geprägt worden – kurz, den breiten kulturellen, sozialen und ökonomischen Umwälzungen der europäischen Moderne. Viele dieser Ideen und Entwicklungen standen teils in massivem Gegensatz zu anderslautenden dogmatischen Leitvorstellungen. Vieles, was wir als prägend für das heutige Deutschland empfinden, haben wir nicht wegen sondern trotz althergebrachter institutioneller oder gruppenspezifischer Überzeugungen erreicht, erfahren können – oder müssen. Auch dieses zentrale Faktum wird in der Verabsolutierung der christlichen Prägung unseres Landes zum Ausgangspunkt einer Debatte über „Leitkultur“ übertüncht. Gleichzeitig schreibt, das muss auch festgestellt werden, ein säkularer Fortschrittsnarrativ zu oft die jeweilige religiöse Identität vieler relevanter Protagonisten heraus. Wie sehr man mit dem „Abendland“-Begriff oder der eigenen – wie auch immer gearteten – „Christlichkeit“ abgrenzend nach außen im Jahr 2017 agieren kann, zeigt jedenfalls, wie wenig wir in der breiten Masse über uns und unsere Geschichte selbst wissen oder wissen möchten.

 Identität in der „föderativen Nation“

Drittens ist einmal mehr zu fragen, was heißt da eigentlich „deutsch“? In der Entstehungsgeschichte des deutschen Nationalstaates standen kleinstaatliche, politisch-konfessionelle Gebilde am Anfang, während eine vergleichsweise starke zentralstaatliche Instanz ergänzend zur föderalen Struktur erst 1871 erreicht wurde. Nur im Nationalsozialismus war die föderale Ordnung als wohl größte strukturelle Kontinuitätslinie des deutschen Nationalstaats zeitweise außer Kraft gesetzt. Zu Recht sprechen Historiker wie Dieter Langewiesche und Georg Schmidt von der „föderativen Nation“. Entgegen einer zentralistisch und auf Einheitlichkeit abzielenden „deutschen Leitkultur“ ist es gerade die starke Partikularität regionaler Identitäten, die uns auf der Suche nach einem sinnvollen Integrationsrahmen helfen kann. Während die freiheitlich-demokratische Grundordnung, übergeordnete nationale Symbolik und eine bundesweit organisierte und vernetzte mediale Öffentlichkeit einen – auch in Integrationskursen – übergeordneten Rahmen bietet, bleibt dieser äußerst abstrakt und flüchtig.

Es wäre also wesentlich sinnvoller, die Vielfalt regionaler Identitäten und die Situation vor Ort als ganz konkreten Ausgangs- und Fluchtpunkt von Integrationsbemühungen zu wählen, anstatt sich im Abstrakten zu verlieren. Jemand der nach Nürnberg zieht, sollte zuvorderst Nürnberger Bürger, Franke und vielleicht – meine fränkischen Landsleute werden protestieren – politischer Bayer werden, bevor man das tiefe Fass des „Deutsch-seins“ öffnet. Nicht umsonst war nach dem Zweiten Weltkrieg „Heimat“ ein gefragter und leicht abrufbarer Gegenbegriff zur Nation – lokal begrenzt, vertraut, überschaubar, irgendwie harmlos und weitgehend apolitisch. „Deutsch“, das ist ein allgemeingültiger Kanon aus Literatur, Musik und den jeweiligen Klassikern, die durch die flächenmäßige Rezeption durch die Bevölkerung zu einem vorgestellten kulturellen Kollektivsingular des „Deutschen“ (im Sinne einer Rezeptionsgemeinschaft) beiträgt – noch neben den Effekten der im 19. Jahrhundert aufkommenden Massenmedien. Die Vorstellung einer objektiv gegebenen nationalen Kultur mit einem definierbaren Wesenskern gehört zu den vielen „erfundenen Traditionen“ (Eric Hobsbawm) der Entstehung der europäischen Nationalstaaten im 19. Jahrhundert. Kurzum: Es gibt keine „deutsche Identität“ ohne eine regionale Identitätsebene, von der aus man über genau jene deutsche Identität hadern kann.

Reden kostet nichts, Handeln schon

Was hat dies nun alles mit der „Leitkultur“-Debatte zu tun? Sie ist verlogen, weil sie die Komplexität unserer eigenen Geschichte und Gegenwart einkocht auf ein paar gängige Schlagworte und der weiten Mehrheit einleuchtenden (weil letztlich banalen) Verhaltensregeln für „die da“. Sie ist aber auch billig, nicht etwa wegen der Einfachheit der hier vertretenen Positionen, sondern weil sie nichts kostet und von einer wesentlich größeren Frage ablenkt, namentlich der historischen und politischen Bildung als Grundvoraussetzung der Herausbildung einer Bürgeridentität für alle Menschen in diesem Land. Anstatt über Verhaltensregeln für Dritte (Leitkultur) oder aber Sprechverbote (offenes Miteinander) zu diskutieren, sollten wir uns in Zeiten von Trollen, Populismus, Reichsbürgern, Salafisten und Fake News fragen, wie wir Demokratie und Aufklärung in diesem Land als gelebte Werte verankern können.

Bürger- statt Leitkultur

Aufklärung und Demokratie müssen immer wieder neu begründet, immer wieder neu verhandelt und immer wieder verteidigt werden, sonst verliert man sie. Hierzu gehört, dass alle Staatsbürger gleich welchen Bildungsabschlusses bis zu ihrem 18. Lebensjahr Unterricht über unser politisches System, die politische Kultur, große gesellschaftliche Fragen und die deutsche Geschichte erhalten müssen und zwar deutlich intensiver, als dies bis jetzt der Fall ist. Das heißt: mehr Lehrer, kleinere Klassen und – mehr Geld. Das heißt, auch über die Schulbänke hinaus den Wert gesellschaftlicher und politischer Partizipation, einer Bürgeridentität in diesem Land stark zu machen. Dazu gehört auch, dass wir uns fragen müssen: wie viel Zeit gebe ich von dieser Woche für mein Umfeld? Wie viel Anteil nehme ich an dem, was um mich herumgeschieht? In Zeiten überbordernder Konsum- und Freizeitangebote sind die Antworten darauf unbequem.

Wir müssen uns diesen unbequemen Fragen individuell und als Gesamtgesellschaft stellen – nicht nur mit Bekennerschreiben, sondern mit Investitionswillen und -bereitschaft. Wir müssen eine Bürgerkultur schaffen. Wenn das gelingt, brauchen wir in zehn bis fünfzehn Jahren keine fadenscheinigen Leitkultur-Debatten mehr.

Andreas Plöger

Kurzvita

Geb. 1987. Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und Neuesten Geschichte an der FAU Erlangen-Nürnberg. Tätigkeit als Übersetzer, freier Journalist und Grafikdesigner. 2013-2015 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Universitätsklinikum Erlangen. Seit 2014 Laufendes Promotionsprojekt zu „China in westdeutschen Weltordnungskonzepten“ an der KU Eichstätt-Ingolstadt, seit 2016 gefördert mit einem Promotionsstipendium der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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