Robin Alexander, Die Getriebenen – Merkel und die Flüchtlingspolitik

Feuerwehr Notschalter: Foto: Stefan Groß

Ich lese sehr viele politische Bücher, doch dies ist das mit Abstand Beste, das ich seit Jahren gelesen habe. Wer dieses Buch nicht gelesen hat, kann über Angela Merkel und die Flüchtlingskrise nicht mitreden.

Robin Alexander, Die Getriebenen. Merkel und die Flüchtlingspolitik: Report aus dem Innern der Macht, Siedler, München 2017, 286 Seiten.

Seit ich acht Jahre alt bin, interessiere ich mich für Politik. Aber erst als ich dieses Buch gelesen habe, wurden mir viele Mechanismen und Abläufe der Politik wirklich klar. Der Untertitel „Report aus dem Innern der Macht“ verspricht keineswegs zu viel, denn der Leser erhält Inneneinsichten, die selbst für denjenigen, der – so wie ich – täglich mehrmals Nachrichtensendungen schaut und Zeitung liest, sehr viel Neues.

Gauweiler plante bundesweite CSU

Neu war für mich beispielsweise, wie konkret Vorbereitungen zur bundesweiten Ausdehnung der CSU getroffen worden waren. Die bundesweite CSU sei „kein bloßes Gedankenspiel“ gewesen. Peter Gauweiler habe bereits Zusagen für die Finanzierung eines solchen Projektes von namhaften bayerischen Familienunternehmern gehabt (S. 10). In der bayerischen Landtagsfraktion habe es auf dem Höhepunkt der Anti-Merkel-Stimmung eine breite Mehrheit gegeben, die zum offenen Bruch mit der CDU bereit gewesen wäre. „Gauweiler ist bereit, dieses Risiko einzugehen, um Angela Merkel zu stoppen. Seit drei Monaten sind Deutschlands Grenzen offen und die Kanzlerin unternimmt nichts, sie wieder zu schließen. Mit Merkel gehe das nicht. Und mit der CDU, die sie nicht stürzen will, auch nicht, argumentiert Gauweiler. Also müsse es die CSU allein versuchen.“ (S. 150) Auch Edmund Stoiber und Markus Söder seien zu dem Schritt bereit gewesen – aber Seehofer, der zunächst nicht abgeneigt gewesen sei, habe gezaudert: „Der Mann, der Angela Merkel in der Flüchtlingskrise zusetzt wie kein anderer, will sie nicht stürzen.“ (S. 151) Seehofer erscheint in dem Buch in keinem guten Licht. Jedenfalls hat sich meine eigene Bewertung (ich fand sein Agieren in der Flüchtlingskrise vor Lektüre des Buches insgesamt gut), deutlich eingetrübt, nachdem ich das Buch gelesen habe.

Die Schwäche der Merkel-Kritiker in der Union

Trotz seiner markigen Kritik an Merkel agierte Seehofer unentschlossen und inkonsequent, ließ sich von Merkel hinhalten: So kündigte er immer wieder an, das Bundesverfassungsgericht gegen die Politik der offenen Grenzen anrufen zu wollen. „Er setzt Merkel eine Frist bis Anfang November, um die angeblich rechtsfreie Situation an den Grenzen in Ordnung zu bringen. Die Frist verstreicht ohne Reaktion. Auch der Ende November von Seehofer angedrohte Rückzug der CSU-Minister aus dem Bundeskabinett wird nie Realität…. Stattdessen lässt er sich von Merkel wochen- und schließlich monatelang hinhalten.“ (S. 158 f.)

Mitte Oktober wurde die Kritik in der Unionsfraktion an Merkel immer entschiedener. Auf einer Fraktionssitzung fragte Merkel genervt: „Oder glaubt hier jemand ernsthaft, dass wir Flüchtlinge an der Grenze zurückweisen können?“ Daraufhin riefen gleich mehrere Abgeordnete spontan „Ja“. Der Abgeordnete Clemens Binninger, früher selbst Polizist, meldete sich und widerlegte Merkels Angaben mit zahlreichen Beispielen aus der Praxis der Nachbarstaaten. Der Abgeordnete Armin Schuster, ein langjähriger Bundespolizist, erklärte, Grenzkontrollen ohne die Möglichkeit der Zurückweisung hätten gar keinen Sinn. „Merkel wurde von den beiden regelrecht vorgeführt, berichten entsetzte Abgeordnete anschließend.“ Die Debatte dauerte mehrere Stunden. Der CSU-Politiker Hans Peter Uhl stellte sogar offen Merkels Kanzlerschaft in Frage und meinte, wenn es zu keiner Lösung komme, werde es eine „Regierungsabwahl“ geben. (S. 125)

Das Buch verdeutlicht, dass die Stärke der Machtstellung von Merkel vor allem auf der Schwäche ihrer Kritiker beruht: „Merkel hat im elften Jahr ihrer Kanzlerschaft die CDU viel stärker auf ihre Person als Regierungschefin zugeschnitten, als dies unter Helmut Kohl je der Fall war.“ (S. 144) Da gibt es einerseits die Merkelhörigen wie Altmaier, der „auch im Gewitter mit klugen Worten darauf bestehen würde, es scheine die Sonne, wenn die Behauptung seiner Kanzlerin nützt“ (S. 144). Dann gibt es Personen wie Schäuble, der Merkels Politik kritisch gegenüberstand und sie ja auch öffentlich kritisierte, letztlich aber vor der Konsequenz zurückschreckte. Dennoch war es Schäuble – und dies ist ihm als Verdienst anzurechnen -, der eine Kehrtwende in der Flüchtlingspolitik bewirkte, wie der Autor zeigt (S. 135 ff.).

Sicherheitsdienste verstört über Merkels Politik

BND, Verfassungsschutz, BKA und Bundespolizei, so zeigt Alexander, reagierten „geradezu verstört“ auf Merkels Politik der offenen Grenzen. Man hielt diese Politik für gefährlich. „Und Merkels Begründung, man könne heutzutage keine Grenze mehr sichern, rührt beinahe an der Berufsehre. Der Unmut der Sicherheitsdienste über die Regierung reicht so weit, dass sie – ein einmaliger Vorgang in der Geschichte der Bundesrepublik – einen Gegenentwurf zur Politik der Regierung öffentlich zur Diskussion stellen. Offiziell tritt ein Ehemaliger als Absender auf: der Ex-BND-Chef und frühere Innenstaatssekretär August Hanning.“ (S. 145 f.) Er legte ein Papier vor, das die Meinung der Chefs der Sicherheitsdienste wiedergab: Die Kanzlerin solle sofort erklären, dass die Aufnahmefähigkeit der Bundesrepublik erschöpft sei, Asylbewerber seien an der Grenze zurückzuweisen und der Familiennachzug zu beschränken. „Zwischen dem Kanzleramt und den Sicherheitsdiensten herrscht daraufhin Eiszeit: Henning wird zur Persona non grata, der Austausch mit den amtierenden Chefs beschränkt sich auf das notwendige Minimum.“ (S. 146.)

Die Rolle der Medien

Obwohl all das gar nicht lange her ist, reibt man sich die Augen, wenn man liest, was die Medien in den euphorischen Tagen schrieben und aussendeten. Die Euphorie erfasste fast alle Medien – von SPIEGEL bis BILD. In einer Titelstory des SPIEGEL – und diese stand für den gesamten Medientenor damals – wurden die Flüchtlinge verklärt zum „Erlöser von schrecklicher deutscher Vergangenheit, von peinlichen ostdeutschen Landsleuten und überhaupt allen schlechten deutschen Gewohnheiten“ (S. 71). „Vergangenheitsbewältigung durch Flüchtlingshilfe“ – dieses Motiv habe auch bei Angela Merkel eine wichtige Rolle gespielt (S. 71). Tenor der Medien: „Die Flüchtlinge sollen die Deutschen nicht nur von ihrer unseligen Vergangenheit erlösen, sondern auch von ihrem zukünftigen Schicksal als überaltertes Volk… In diesen Wochen entsteht in vielen Köpfen die Vorstellung, dass es sich bei den Flüchtlingen nicht um Erschöpfte, Kranke, Traumatisierte und teilweise Radikalisierte handelt, sondern um eine Armee von fröhlichen Landärzten und künftigen Facharbeitern, die sich im Anmarsch befindet, um die Deutschen gerade rechtzeitig noch aus der demographischen Falle zu retten.“ (S. 73 f.) Natürlich stimmen auch führende Wirtschaftsvertreter naiv oder einfach opportunistisch in die Willkommenseuphorie ein. Daimler-Chef Zetsche prophezeite eine Woche nach der Grenzöffnung: „Im besten Fall kann es auch eine Grundlage für das nächste deutsche Wirtschaftswunder werden.“ (S. 74)

Die Fakten sprechen lauter als Urteile

Das Buch ist eine vernichtende Kritik an Merkel, an der politischen Klasse und auch an den Medien – und zwar gerade deshalb, weil der Autor sich mit wertenden Urteilen zurückhält. Dabei hat er durchaus eine eigene Meinung, die er auf S. 66 so umschreibt: „Nicht die Grenzöffnung, nicht die humanitäre Tat war ein Fehler, sondern das Versäumnis, direkt danach ein Zeichen zu setzen, dass Deutschland nicht alle Flüchtlinge aufnehmen kann. Manche glauben, es hätte Zurückweisungen an der Grenze geben müssen, andere meinen, zu diesem Zeitpunkt hätte ein einziges deutliches Fernsehstatement gereicht. Weil Merkel dieses Zeichen nicht gibt, wird die Ausnahme zum Ausnahmezustand, der fünf Monate dauern wird. Dieses Signal hätte von Merkel persönlich kommen müssen, damit es von Menschen in all jenen Ländern vom Balkan bis nach Bangladesch verstanden wird, die sich aufmachen, weil sie sich von Merkel und den jubelnden Münchnern eingeladen fühlen.“ (S. 66 f.)

Das ist eine der wenigen Stellen, wo der Autor dezidiert selbst Stellung bezieht. Aber dies ist erfreulicherweise kein Meinungs-, sondern ein Tatsachenbuch: Er breitet die Fakten aus, rekonstruiert das Geschehen in den Monaten der Flüchtlingskrisen 2015 oft minutengenau – und diese sachliche Darstellung führt aus meiner Sicht zu einem vernichtenden Urteil über Angela Merkel und weite Teile der politischen Klasse, ohne dass es dazu dezidierter Bewertungen des Autors bedürfte.

Ein Beispiel, wie sich der „Welt“-Journalist selbst zurückhält und doch allein die Fakten eine entlarvende Sprache sprechen: Er zeigt, wie immer wieder Merkels Begründungen für ihre Flüchtlingspolitik wechselten. So erklärte sie in einem Fernsehinterview, wenn die arabischen Flüchtlinge irgendwann in ihre Heimat zurückkehrten, hätten sie westliche Werte in ihrem Gepäck. Dann, so Merkel, werde „Demokratie über unsere Grenzen hinaus Akzeptanz finden – dann gibt es vielleicht weniger Kriege“. Der Autor kommentiert trocken: „Flüchtlingspolitik als Demokratie-Export – es war die bisher mutigste Überhöhung der Politik der offenen Grenzen.“ (S. 160) Zu Merkels Aussage in einem TV-Interview, „Sie können die Grenzen gar nicht schließen“, merkt Alexander an, diese „verlangt auch merkeltreuen Abgeordneten in den kommenden Wochen einiges an kommunikativer Disziplin ab“ (S. 111).

Fazit

Der Autor erklärt in der Vorbemerkung, sowohl Merkel-Fans wie Merkel-Hasser würden von dem Buch enttäuscht sein: „Es erzählt weder eine Heiligengeschichte noch ein Schurkenstück.“ (S. 8). Ich finde jedoch, es ist gerade die Mäßigung im Ton und die Zurückhaltung mit dezidierten eigenen Bewertungen, die Merkel und große Teile der politischen Klasse viel schlechter dastehen lassen als wenn der Autor auf jeder Seite plakativ Abscheu vor Merkels Politik bekunden würde. Wenn die Fakten selbst eine so klare Sprache sprechen, dann erübrigt sich eine Bewertung durch den Autor.

Ich bin von meiner Berufsausbildung Historiker. Was ich jetzt schreibe, habe ich noch nie über ein politisches Buch geschrieben: Dieses Buch wird mit Sicherheit noch in 100 Jahren von Historikern als wichtige Quelle herangezogen, wenn sie die Flüchtlingskrise des Jahres 2016 und Angela Merkels Politik analysieren. Das Buch hätte einen Preis verdient.

Der Text erschien zuerst auf „The European“

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