Stefan Groß trifft Markus Gabriel: Was verstehen Sie unter „Neuem Realismus“?

Rechte: Prof. Dr. Markus Gabriel

Er ist der neue Star der deutschen Philosophen-Szene. Der Begründer des „Neuen Realismus“, Professor Markus Gabriel spricht mit Stefan Groß über die aktuellen Trends der Gesellschaft und ihrer Wahrheitssuche.

 

Fichte sagte einmal: „Was für eine Philosophie man wähle hängt davon ab“, so ungefähr, „was für ein Mensch man ist.“ Was ist Markus Gabriel für ein Mensch?

Das ist eine schwierige Frage – in gewisser Weise gebe ich Fichte recht mit seinem berühmten Satz. Allerdings erwägt Fichte bekanntlich an der Stelle auch nur zwei Optionen. Die eine Option ist der Idealist. Also Jemand, der Fichte folgt. Das ist der gute Mensch. Und der böse Mensch, das ist das, was wir heute den Naturalisten nennen würden. Der böse Mensch ist jemand, der nicht fähig ist, so Fichte, seine eigene Freiheit als Wesen, das außerhalb der Natur existiert, zu verstehen. Und der Idealist ist jemand der sehr wohl der Meinung ist, dass er ein freies Wesen ist. Wenn ich dazwischen zu wählen hätte, wäre ich jedenfalls auf der Freiheitsseite.

Akademisch kommen Sie aus der Tradition des Deutschen Idealismus und der Antike, also von Schelling und der antiken Skepsis. In wie weit prägen Sie beide Denkrichtungen heute noch? Sind Sie ein Skeptiker?

Man hat öfter gesagt, so zumindest die Kritiker, dass in der Tat eine Spannung zwischen dem Skeptizismus und dem Idealismus in meiner Arbeit steckt. Ich glaube aber, dass die beiden zu vereinen sind. Ich würde die kritischen Energien des Skeptizismus für eine positive Theoriekonstruktion einsetzen. Insofern bin ich kein Skeptiker. Dennoch glaube ich, dass der Skeptizismus eine geeignete Waffe gegen alle falschen Philosophien ist. Das heißt, diejenigen Philosophien, die scheitern, scheitern immer daran, dass sie letztlich unter der Hand vom Skeptiker ausgehebelt werden. Die Aufgabe jeder gelungenen philosophischen Theorienkonstruktion ist, dem Skeptiker auf Augenhöhe zu begegnen, und ihn dann aus dem Raum zu schicken.

Vor welcher Herausforderung steht die Philosophie im 21. Jahrhundert? Ihre Leitfunktion, wie in Zeiten der Aufklärung, hat sie ja verloren, oder?

Das glaube ich nicht. Wer der Meinung ist, dass die Leitfunktion der Philosophie verloren gegangen ist, wünscht, dass sie keine Leitfunktion mehr hat. Ob die Philosophie ihre Leitfunktion hat oder nicht, liegt daran, ob sie sie ausübt. In der Sache hat sie sie. Warum? Weil eine entscheidende Frage für das 21. Jahrhundert die ist, wie wir uns eigentlich den Zusammenhang des menschlichen Geistes mit der nicht geistfreundlichen Umgebung vorstellen. Wir wissen alle: das Universum ist überwiegend, außerhalb des Planeten Erde, nicht besonders geistfreundlich. Und dies heißt wiederum: Geist unserer Art jedenfalls existiert nirgendwo in unserer kosmischen Nachbarschaft. Es sieht so aus, als wären wir ein Fremdling in der Natur. Eine große Frage des 21. Jahrhunderts ist, auf welche Weise stellen wir uns das Verhältnis des menschlichen Geistes zur nicht geistigen Umgebung vor, zu dem, was wir die Natur nennen. Das ist jetzt nicht die beste Art und Weise das Problem zu formulieren, aber ich glaube, das ist das Problem. Deswegen wird es immer die einen geben die sagen, dass es Gott geben muss, das Göttliche, die Wiederkehr der Religion, und die anderen, die einen groben Atheismus predigen. Das Richtige liegt in der Mitte. Deswegen ist auch der deutsche Idealismus so aktuell. Weil die Systeme des deutschen Idealismus genau versucht haben, einen Weg zwischen einem stumpfen Atheismus und einer abergläubischen Religion zu finden. Das ist in der Tat eines der Hauptprobleme unserer Zeit. Und das kann ausschließlich die Philosophie angemessen behandeln.

Sie sind ein Vertreter und Mitbegründer des Neuen Realismus. Was ist darunter konkret zu verstehen? Bloß eine Alternative zum Konstruktivismus, der die Welt bewusstseinstheoretisch vermittelnd interpretiert?

Der neue Realismus vereint zwei Thesen: Erstens verneint der neue Realismus, dass es eine allumfassende Wirklichkeit, die Welt im Singular gibt. Zweitens bestreitet er aber überhaupt nicht, dass wir das Wirkliche in seinen vielfältigen Ausgestaltungen genauso erkennen können wie es ist. Einerseits bin ich der Meinung, dass wir die Dinge an sich, also so wie sie auch unabhängig von uns wären, erkennen können. Wenn ich zum Beispiel herausfinde, dass es mehr als eine Milliarde Galaxien gibt, finde ich heraus, wie die Dinge auch gewesen wären, selbst wenn ich es nicht herausgefunden hätte. Und zwar ganz unproblematisch. In dem Fall durch die Methoden der Wissenschaft kombiniert mit vernünftigem Nachdenken usw. Das können wir. Menschen sind Wesen, die Wissen erlangt haben und ihr Leben an dieser Tatsache ausrichten. Wir wissen nicht nur, sondern wir wissen sogar, dass wir wissen. Andererseits folgt daraus nicht, dass es nun genau eine Wirklichkeit gibt, zu der alle Phänomene oder alles was existiert gehören. Das Neue am neuen Realismus ist, dass er eben nicht annehmen muss Realismus bedeutet, dass wir die Welt erkennen. Und deswegen kommen wir aus der Alternative raus zwischen Konstruktivismus, der glaubt, in der Philosophie stellen wir eine Welt her, und einem naiven oder alten Realismus der glaubt, in der Philosophie bilden wir die Welt ab.

Was unterscheidet den neuen Realismus vom alten – von der klassischen Metaphysik und Ontologie: Menschen brauchen Ideale, seien diese auch religiöser Natur oder hypothetischer Natur wie bei Kant. Ein neuer Realismus will ohne Weltbilder auskommen, wie soll das lebenspraktisch funktionieren?

Lebenspraktisch funktioniert das so, dass das, was die Weltbilder traditionell wollten, eine Rechtfertigung unserer Lebensform ist. Weltbilder traditionell sagen ja, die Welt insgesamt ist ungefähr so oder genau so oder so. Das Weltbild erzählt also die Story, wie die Welt ist. Ob das der Urknall, die Evolution, intelligent gewordene Affen oder eine andere Story ist, in der Gott der Materie Leben einhaucht, spielt letztlich keine Rolle. Es sind beides Weltbilder. Diese Weltbilder rechtfertigen gegenwärtige Handlungsoptionen. Wenn ich den Urknall nötig habe, um zu rechtfertigen, was ich heute tue – Vegetarier sein oder nach München ziehen – dann ist etwas schief gelaufen. Die Rechtfertigung meiner Handlungen braucht eben keinen Umweg über Weltbilder. Alles was wir brauchen, zum Bespiel für die Ethik oder für die Politik ist eine universale Menschenvernunft. Die ist aber nicht schwer zu kriegen, weil wir die schon haben. Die Frage lautet nur, warum heute viele Menschen es lieber hätten, keine universale Vernunft zu haben. Das kann nur eine pathologische Angst vor der Wahrheit sein, wie Hegel das schon genannt hat.

Ihre beiden populärwissenschaftlicheren Bücher sorgten für Furore, „Warum es die Welt nicht gibt“ und „Ich ist nicht Gehirn“. Warum gibt es die Welt nicht und was ist damit gewonnen, wenn wir den Begriff der Totalität der Welt eliminieren?

Zunächst einmal ist es so, dass viele Pathologien unseres Zeitalters, wissenschaftliche Pathologien, also Grenzfragen der Wissenschaft sind, wo es einfach keine passenden Antworten gibt. Wie passt das Bewusstsein in die Natur und gibt es Gott eigentlich? Viele dieser Grenzfragen entstehen dadurch, dass man eine Totalität an der falschen Stelle annimmt. Dagegen können wir die Wissenschaft radikal reformulieren, wenn wir die Annahme, dass es genau eine Welt gibt, die die Wissenschaft untersucht, einfach raus streichen. Die Totalitätsannahme ist auch deswegen schädlich, weil sie in der Regel nur dazu dient, uns selber zu eliminieren, uns aus der Welt zu streichen. Das heißt, wenn ich annehme, es gibt eine Totalität, wird dabei in der Regel unterstellt, dass man selber irgendwie nicht wirklich zu dieser Totalität gehört. Die Annahme der Totalität ist tendenziell auch die Annahme eines erdrückenden Ganzen, in dem man sich nicht wirklich zurecht findet. Und mit der These, dass es die Welt nicht gibt und den dazu gehörenden Argumenten, wird die Totalität aus dem Weg geräumt.

Mit Ihrem Buch „Ich ist nicht Gehirn“ kritisieren Sie den Neurozentrismus, die Naturwissenschaft als das Erklärungsmodell der Welt. Was unterscheidet ihren Ansatz von der Naturwissenschaft?

Der entscheidende Unterschied ist, dass ich in dem Sinne Metaphysiker bin, dass ich davon ausgehe, dass es vieles gibt, was nicht physikalisch untersuchbar ist. Die Metaphysik ist ja unter anderem die Annahme, dass es vieles gibt, was nicht physikalisch zugänglich ist. Und der Standpunkt, meine Ontologie, ist eben eine, die uns erlaubt, mit sehr vielen Entitäten zu rechnen, die überhaupt nicht physikalisch sind, und die auch insgesamt nicht durch irgendeine Naturwissenschaft untersuchbar sind. Nehmen wir Beispiele: Zahlen, moralische Werte oder Landtagswahlen. Also welche naturwissenschaftliche Untersuchung würde denn eine legitime Wahlanalyse liefern? Wie würde man Wahlen naturwissenschaftlich untersuchen? Das ist völliger Unsinn. Dies kann man allein mit den Methoden der Soziologie, mit den Methoden der politischen Wissenschaft, des allgemeinen Menschenverstandes oder der öffentlichen Meinung usw. Wir haben sehr viele Zugangsweisen zum Phänomen einer Landtagswahl, aber keine von diesen ist naturwissenschaftlich. Und es ist überhaupt gar nicht abzusehen, wie eine naturwissenschaftliche Untersuchung einer Landtagswahl aussehen sollte.

Was verstehen Sie unter dem Begriff ontologischer Pluralismus? Und was unterscheidet diesen eigentlich vom Pluralismus der Postmoderne?

Unter einem ontologischen Pluralismus verstehe ich die These, dass dasjenige, was existiert, also das, was es wirklich gibt, zu verschiedenen Bereichen gehört. Das heißt, es gibt wirklich Zahlen, es gibt wirklich derzeit genau eine Bundeskanzlerin, es gibt wirklich den Freistaat Bayern und wirklich die Vergangenheit. Diese Gegenstände, die es wirklich gibt, gehören aber verschiedenen Bereichen an, die sich nur teilweise überlappen. Das ist die Annahme des ontologischen Pluralismus. Dieser unterscheidet sich dann vom Pluralismus der Postmoderne dadurch, dass die Pluralität nicht dadurch in die Wirklichkeit kommt, dass wir sie machen oder uns einbilden. Die Wirklichkeit wird nicht zum Plural durch menschliche Aktivitäten irgendeiner Art, durch Sprachspiele, Denkformen, Zeichenketten, Symbolwelten oder was auch immer. Das heißt: Der gemeinsame Nenner von ontologischem Pluralismus und Postmoderne ist, dass wir dasselbe Phänomen erklären wollen, nur macht das die Postmoderne schlecht, indem sie das Phänomen über menschliche Aktivitäten erklärt.

Sie sprechen auch in Ihrem neuen Buch von Existenz und Sinn: Ist damit eine Philosophie der Existenz angedacht, eine Lebensphilosophie gemeint?

Eigentlich nicht. Ich glaube die richtige Lebensphilosophie, also die Verankerung der Frage nach dem Sinn des Lebens in einem philosophischen Denken, wird immer eine theoretische sein. Das heißt, die richtige Annahme darüber, wie wir uns das Wirkliche in seinen verschiedenen Zusammenhängen verständlich machen, ist zugleich auch schon die Annahme darüber, wie ein Leben sinnvoll sein kann. Das heißt, der Sinn unseres Lebens, also das, was die Existenzphilosophie als Frage formuliert (man denke hier an Camus’ Grundfrage: sollen wir leben oder uns umbringen), ergibt sich daraus, dass die Dinge so liegen, wie sie ein gesundes Leben darstellt. Irgendwann liegen sie vielleicht nicht mehr so, dann werde ich mich entweder umbringen, hoffentlich komme ich nie dahin, oder ich werde irgendwie sterben. Das heißt, wir müssen keine Energie aufwenden, um dem Leben einen Sinn zu stiften. Das Leben hat schon seinen Sinn, es fehlt ihm nichts. Der Nihilismus unterstellt ja, dass die Dinge irgendwie sinnlos sind. Das ist schon genau die Vorstellung einer Totalität, die von sich her keinen Sinn hat. Und wir müssen dann Sinn über die nackten Tatsachen legen. Das ist alles verworren und falsch. Und genau dagegen biete ich diese neue Ontologie auf.

Die Erkenntnistheorie ist eine Teildisziplin der Philosophie. Ethik, Politik, Recht, andere. Inwiefern ist der neue Realismus eine praktische Philosophie?

Insofern als die theoretischen Annahmen, die ich begründen möchte, eine weitere Annahme stützen, die mir extrem wichtig ist, und die im Hintergrund wirksam ist. Nämlich die Annahme eines moralischen Realismus. Moralischer Realismus ist die Annahme, dass unsere am besten begründeten moralischen Urteile, die Dinge so erfassen wie sie sind. Wenn ich zum Beispiel verstehe, dass eine freiheitlich demokratische Grundordnung besser ist als die derzeitige nordkoreanische Staatsverfassung, dann begreife ich, wie die Dinge sind. Ich muss mich nicht für die freiheitlich demokratische Grundordnung entscheiden, sondern in diesem Fall nur einsehen, dass und warum sie besser ist. Es ist nicht so, als ob ich jetzt eine Wahl hätte, soll ich jetzt die nordkoreanische Staatsverfassung gut finden oder lieber doch die freiheitlich demokratische Grundordnung. Was spricht denn für das eine was spricht für das andere? Was für die freiheitlich demokratische Grundordnung spricht, ist die freiheitlich demokratische Grundordnung. Da brauche ich nicht weitere Gründe. Das ist der moralische Realismus. Das heißt dasjenige, was das Richtige ist, ist von sich her das Richtige und nicht erst dadurch, dass wir es für das Richtige halten. Es gibt moralische und politische Tatsachen. Tatsachen sind das, woran sich unsere Meinungen zu orientieren haben. Und das gilt meines Erachtens auch im moralischen und politischen Bereich. Natürlich würde man jetzt einwenden, ja aber wir diskutieren doch, haben wir nicht eine Debattenkultur? Klar! Aber was ist das Ziel unserer Debatten? Meines Erachtens ist das Ziel unserer Debatten herauszufinden, was zu tun ist, und nicht, immer nur irgendeine Entscheidung zu finden, die eine Kompromissbildung ist zweier gegeneinander kämpfender Parteien. Demokratie ist eben durchaus kompatibel mit Wahrheitsfindung und bedeutet nicht, dass man sich mit Worten die Köpfe einschlägt, wie dies drastisch Donald Trump vorführt.

Das Interview führte Stefan Groß

Prof. Dr. Markus Gabriel war mit 29 Jahren der jüngste Philosophieprofessor Deutschlands. An der Universität Bonn ist er zuständig für Erkenntnistheorie und lehrt dort seine Philosophie des Neuen Realismus. Mit seinen beiden Büchern „Ich ist nicht Gehirn“ und „Warum es die Welt nicht gibt“ sorgte er national und international für Aufmerksamkeit.

Quelle: The European

Über Stefan Groß-Lobkowicz 2157 Artikel
Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".

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