Sonne, Licht und berstende Fenster oder Das Glück wenden

„Alles Geschriebene ist Schweinerei.
Die Leute, die das Unbestimmte verlassen, um zu versuchen, irgend etwas von dem, was in ihrem Geist vorgeht, zu präzisieren, sind Schweine.
Das ganze Literatenvolk ist schweinisch, und besonders dasjenige dieser Zeit.“

Dieses Zitat des französischen Künstlers Antonin Artaud (1896 – 1948) stellt der in Chile geborene, in Mexiko aufgewachsene und in Spanien zu literarischem Weltruhm gelangte Roberto Bolaño seinem letzten, kurz vor seinem Tode geschriebenen Buch voran. Es scheint wie ein Signal, wie ein Omen zu fungieren, denn über dem nur 110 Seiten langen Text (spanischer Originaltitel: „Una novelita lumpen“), der eher als Novelette als ein Roman avanciert, schwebt etwas latent Unbestimmtes. Schon der erste Satz offenbart eine diffuse Aussage: „Jetzt bin ich Mutter und auch eine verheiratete Frau, aber vor gar nicht langer Zeit war ich eine Kriminelle“. Seine Protagonisten zeichnet Bolaño gleichfalls in einer schwammigen, schwer greifbaren Konsistenz und auch das Ende lässt freien Assoziationsspielraum.
„Zusammenstöße verformen die Farbe oder verformen die Art, wie wir Farbe wahrnehmen.“ Einen dramatischen Zusammenstoß gab es. Die Eltern von Bianca – der Ich-Erzählerin – und ihrem Bruder kommen bei einem Verkehrsunfall ums Leben. „Von dem Moment an veränderten sich die Tage. Oder vielmehr, es veränderte sich der Lauf der Tage. Oder vielmehr das, was den einen und den anderen Tag verbindet und zugleich eine klare Grenze zwischen beiden zieht.“ Die zwei jungen Menschen geraten aus der Spur ihres bis dato bürgerlich geordneten Lebens. Sie gehen nicht mehr in die Schule, vertreiben sich ihre Zeit mit Quizshows im Fernsehen und Pornos aus der Videothek. Um „die wenigen Dinge zu vergessen, die ich wusste“, stellt Bianca fest. Mit billigen Hilfsjobs überleben beide mehr recht als schlecht.
„Zusammenstöße verformen die Farbe oder verformen die Art, wie wir Farbe wahrnehmen.“ Biancas Tage haben ihre Helligkeit und Farbe verloren, die Handlungsräume erscheinen abgedunkelt und verwischt. Die Nacht jedoch empfindet die junge Frau als Dauerzustand von Sonne und Licht. Diese Gestimmtheit ändert sich auch nicht, als ihr Bruder eines Tages zwei nebulöse Typen anschleppt, die sich fortan in der Wohnung einquartieren und abwechselnd das Bett mit der apathischen jungen Frau teilen. Eine Wendung nimmt das Geschehen, als die Drei einen perfiden Plan aushecken, um zu Geld zu kommen. Bianca soll als Gespielin eines abgehalfterten, blinden Bodybuilding-Weltmeisters dessen Anwesen nach einem angeblich versteckten Tresor ausspionieren, um „das Glück zu wenden“. Nur kann man das Glück einfach so wenden? „,Das Glück wenden‘, eine Redensart, die für mich keinen Sinn ergab, so sehr ich mir auch darüber den Kopf zerbrach, denn das Glück lässt sich nicht wenden, entweder ist es da oder es ist nicht da, und wenn es da ist, gibt es keinen Weg, es zu wenden, und wenn es nicht da ist, geht es uns wie den Vögeln in einem Sandsturm, wir wissen es nur nicht…“
„Als stiege aus der Tiefebene Nebel auf und hüllte den ganzen Bahnhof ein, ohne dass es jemand merkte“, so wirkt auch Roberto Bolaños „Lumpenroman“ auf den Leser. Sein nüchterner Duktus, die beinahe emotionslose, registrierende und nicht wertende, fast staccato-artige Sprache mit von Zeit zu Zeit eingestreuten blumigen Umschreibungen, verdeutlichen die Diskrepanz der morbiden Gesellschaft und lassen die Situation der jungen Menschen auf drastische Art und Weise lebendig werden. Nicht ohne Grund scheint Bolaño sein Geschehen in Rom angesiedelt zu haben, obwohl der Ort beliebig austauschbar wäre. Meisterlich versteht er es, scheinbar merkwürdige Dinge auftauchen zu lassen, „wenn man am wenigsten damit rechnet, und die in Wirklichkeit immer Vorwände für etwas anderes sind, für andere Dinge (für durchführbare, nicht für undurchführbare Dinge)…“
„Bücher sind Wege, die nirgendwohin führen, auf die man sich aber dennoch begeben muss, um sich zu verirren und wieder zu finden oder um etwas zu finden, was auch immer, ein Buch, eine Geste, einen verlorenen Gegenstand, irgendetwas, vielleicht eine Methode, mit etwas Glück: das Neue, das, was immer schon da war.“, schrieb der Autor in seinem hellsichtigen Essay „Literatur+Krankheit=Krankheit“. Bolaño zu lesen ist mit Sicherheit immer wieder ein brillantes Abenteuer, weil es keinen typischen Bolaño-Ton gibt, weil er formale Offenheit praktiziert, erwartete Begegnungen stets ausbleiben und klug ausgelegte Spuren ins Nichts führen.


Roberto Bolaño
Lumpenroman
Originaltitel: Una novelita lumpen
Aus dem Spanischen von Christian Hansen
Carl Hanser Verlag, München (August 2010)
112 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3446235469
ISBN-13: 978-3446235465
Preis: 14,90 EURO

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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