Das gewöhnliche Unwesen. – Drei Exempel zum Umgang mit Schuld

„Heutzutage bietet uns der Beruf des Heuchlers die größten Vorteile (…) nur die Heuchelei ist ein privilegiertes Laster, das mit eigner Hand der ganzen Welt das Maul stopft und sich einer behaglichen Straflosigkeit erfreut (…) So nutzt man die Schwächen der Menschen aus und so paßt sich ein kluger Kopf den Lastern seines Zeitalters an.“[1]

Die Dialektik des Schuldumgangs

Man kann weithin unwahrhaftig mit der eigenen Schuld umgehen: man kann sie leugnen oder abstreiten, sie verhehlen und totschweigen, man kann sie machtvoll verdrängen, sie zuweisen oder übertragen, man kann sie planvoll untergliedern und aufteilen, sie kunstvoll tarnen und verbergen, man kann sie stilvoll fälschen und unkenntlich machen, sie prachtvoll verfremden, verkleiden und verschleiern, man kann sie zuchtvoll einhüllen, vermummen und ummanteln, sie verdecken und verpacken, sie maßvoll verwischen und vertuschen, man kann sie glanzvoll verzerren und entstellen, sie weihevoll einnebeln und verdunkeln, überspielen und tünchen, man kann sie schönen und ausschmücken, verzieren und verbrämen, sie taktvoll klein reden, verklären und verharmlosen, man kann sie verwalten, einordnen und aussondern, man kann sie wonnevoll genießen, auskosten und ausleben – und nicht zuletzt kann man sie gehaltvoll verkaufen oder verwerten, um alles in allem vermeintlich einen Nutzen zu erlangen.
Man kann aber auch wahrhaftig mit ihr umgehen: man kann sie bekennen oder bekunden, sie gestehen und benennen, sie wortlos erinnern, bedenken und betrachten, man kann sie restlos ergründen, untersuchen und erforschen, man kann sie rückhaltlos ermitteln und feststellen, sie anstandslos eröffnen, enthüllen und aufdecken, sie entkleiden und bloßlegen, man kann sie rastlos aufspüren und aufklären, sie arglos bekräftigen, bezeugen und bestätigen, man kann sie hilflos aufgreifen, erfassen und hervorholen, entfalten und ausbreiten, sie freudlos beleuchten und erhellen, man kann sie sprachlos aushalten und hinnehmen, sie durchstehen, dulden und ertragen, man kann ihr aussichtslos trotzen und standhalten, sich ihr kraftlos unterwerfen und ergeben, fügen und beugen, sie mutlos bereuen und bedauern, man kann sie trostlos beklagen, beweinen und betrauern, sie formlos bearbeiten und verwinden – und nicht zuletzt kann man sie zweifellos büßen und sühnen, ohne alles in allem tatsächlich einen Nutzen zu erzielen.

Das Prinzip der Doppelmoral

Die Vielzahl aller Optionen und Varianten kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es im Umgang mit der eigenen Schuld schlussendlich bei der Alternative zwischen „wahrhaftig“ und „unwahrhaftig“ bleibt. Da man sich so gesehen doch für eine der beiden Umgangsweisen entscheiden muss,eignet dieser Wahl moralische Brisanz. Denn wie immer man entscheidet, fest steht natürlich, dass man in einer konkreten Lebenssituation nur eine einzige Wahl treffen kann. Diese indes ändert weder etwas an der Schuld noch an dem Fehler, der ihr vorausliegt: sie bleiben beide bestehen – unabhängig davon, wie man mit ihnen verfährt. So resultieren sie stets aus dem einen und selben Leben, das man führt, und das nur in seiner Gesamtdimension real ist, das heißt: in seiner Dimension von persönlichem und öffentlichem Lebensraum sowie von vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger Lebenszeit.
Die Einheit und Ganzheit des Lebens bildet insofern paradigmatisch nur ab, was für alle seine Ergebnisse – so auch für die Schuld, die man trägt -, zutrifft. Sowenig es darum der Realität des Lebens entspricht, seine Dimensionen voneinander zu scheiden, statt sie zu unterscheiden, so widerstrebt es zugleich einer redlichen Moral, einen Fehler und eine Schuld zu spalten und
als gleichsam getrennte Größen auf die einzelnen Raum-Zeit-Dimensionen zu verteilen. Es sei denn, man unterschlägt im Umgang mit Schuld die Normen empirischer Realität und etabliert solche der Doppelmoral. Was im Prinzip bedeutet, dass man Schuld nicht als eine fixe Größe versteht, die an allen Orten und zu allen Zeiten des Lebens die eine und selbe bleibt, sondern als eine variable Größe, mit der man nach eigenem Kalkül und Gutdünken verfahren kann: die sich also an das Leben und seine Umstände situativ anpassen lässt.
Die jeweilige Aktion der Anpassung mag dabei zwar gesellschaftlich gefordert sein. Nur muss man klarstellen, dass nicht etwa die Gesellschaft, sondern jeder selbst für diese Deformation der Schuld verantwortlich zeichnet. Ja, tatsächlich entspricht es doch ganz dem Anspruch auf Autonomie, alleine zu entscheiden: erstens, in welchem Raum man eigene Fehler und Schuld anerkennt – ob nur im persönlichen vor sich selbst oder auch im öffentlichen vor anderen; und zweitens, zu welcher Zeit man sie eingesteht – ob unmittelbar nach ihrem Auftreten oder erst, wenn man sich aus welchen Gründen auch immer dazu veranlasst sieht. Hinzu kommt noch, dass der Anspruch auf einen autonomen Umgang mit Schuld durch die Empirie des Lebens je und je bestätigt wird. Denn sofern man schon für Fehler und Schuld Kritik hinnehmen muss, so will man doch seinen eigenen Einfluss darauf so weit als möglich zur Geltung bringen.
Der spezifische Gebrauch einer Doppelmoral mutet freilich bislang ziemlich abstrakt an. Um etwas Persönliches wie Schuld thematisch zu machen, bedarf es eines konkreten Beispiels aus dem Lebensalltag. Im Folgenden wird darum der mögliche Umgang mit Schuld anhand dreier Lebensszenen einer Hauptfigur gleichsam diskurspraktisch entfaltet. Dabei stehen ihre ersten beiden Verläufe exemplarisch für einen unwahrhaftigen und der dritte exemplarisch für einen wahrhaftigen Umgang mit Schuld. Allen drei Verläufen liegt die gleiche Ausgangssituation zugrunde, die vorweg skizziert wird: ihre je anschließenden Fortsetzungen und deren Folgen lassen sich so objektiv auf ihre moralische Qualität hin vergleichen. Nicht zuletzt sei erwähnt, dass die Szenen natürlich frei erfunden sind. Falls sich dennoch Assoziationen zu Personen und Ereignissen der Zeitgeschichte einstellen, so liegt das allein in der Natur der Sache.

Das Quantum der Norm

Die Ausgangssituation reflektiert folgende Begebenheit. Der Bürgermeister einer Kleinstadt – nennen wir ihn Adam Muster – trifft sich nach einer Gemeinderatssitzung mit vier Mitgliedern seiner Fraktion zu einem Gespräch in einem örtlichen Wirtshaus. Thema der Zusammenkunft ist die in knapp zwei Wochen anstehende Bürgermeisterwahl, die in der Gemeinde verstärktes Interesse erzeugt. Zwar gelten die Chancen des Amtsinhabers auf eine Wiederwahl als gut – doch weiß man auch um seine eher mäßige Erfolgsbilanz. Sein Hauptvorteil gegenüber dem einzigen Mitbewerber besteht noch in seiner persönlichen Integrität, die ihm hohes Ansehen jenseits der Parteigrenzen einträgt – letztlich gründet seine Bewerbung ganz in ihr.
Das Treffen der Parteifreunde endet wie so oft in den letzten Jahren erst spät. Und wie immer hat man auch Alkohol getrunken; an diesem Abend waren es bei Adam Muster drei Bier und drei Schnäpse. Da er – auch durch sein Amt bedingt -, durchaus regelmäßig Alkohol zu sich nimmt, verfügt er über eine gewisse Trinkfestigkeit. Er fühlt sich darum an jenem Abend auch nicht betrunken, als er sich von den anderen verabschiedet, um mit seinem Auto nach Hause zu fahren. Überhaupt denkt er sich auch nichts dabei, zumal sein Haus im gleichen Ort liegt – nur unweit entfernt. Wie oft hat er sich trotz Alkoholkonsums noch ans Steuer gesetzt. Doch dieses Mal kommt er nicht weit. Bereits nach kurzer Zeit gerät er in eine Polizeikontrolle.

Das Exempel der Verdeckung

Der weitere Handlungsverlauf im Anschluss an diese Ausgangssituation gestaltet sich für den Bürgermeister in ihrer ersten Fortsetzungsversion überaus glücklich. Einer der Polizeibeamten erkennt Adam Muster, grüßt ihn respektvoll und signalisiert ihm sodann, dass er die Kontrolle ohne weiteres passieren dürfe. Der Bürgermeister bedankt sich auch freundlich und gelangt so
mühelos nach Hause. Er stellt sein Auto in der Garage ab, begibt sich in sein Haus und hält sich dort noch eine Weile im Wohnzimmer auf; um dann in die Küche zu gehen und ein Glas Wasser zu trinken. Sein Blick schweift über den Küchentisch, auf dem seine Frau schon alles für das Frühstück mit ihren drei gemeinsamen Kindern gerichtet hat. Er ist zufrieden mit sich und dem, was er in den letzten Jahren beruflich und persönlich erreicht hat. Nach dem Gang ins Badezimmer sucht er nur mehr das Ehebett auf. Schon im Einschlafen begriffen, fragt ihn seine Frau, ob alles in Ordnung sei, was er verbindlich bejaht. Der Abend sei gut verlaufen, fügt er an, bevor sie beide einnicken. Die baldige Wahl um das Amt gewinnt er denn auch mit 58 % der Stimmen deutlich – ein „solides Ergebnis“ zum Auftakt seiner dritten Amtsperiode, wie die Lokalpresse meldet, die ihn seit je her als integere Persönlichkeit illustriert.
Diese erste Version der weiteren Handlung liefert ein idealtypisches Bild bürgerlicher Welt: die Momentaufnahme einer gewöhnlichen Figur und ihrer gewöhnlichen Lebensverhältnisse. Nur zu leicht mag man sich vorstellen, welche Normen und Ideale diese Welt kennzeichnen und welche Regeln der Bürgermeister und seine Familie befolgen, um ihnen im Mindesten zu entsprechen. Und so leicht man sich diese schlichte Welt vorstellt, so einfach meint man auch, sich über sie und ihre engmaschigen Konventionen erheben zu können. Insgeheim wähnt man sich darum nicht nur in gesicherter Distanz zu Adam Muster, sondern aus der Distanz heraus auch zu überlegener Kritik an ihm und seinem Mikrokosmos berechtigt. Denn so oder ähnlich ersteht er doch im eigenen Auge und Vorurteil: der Typ eines Provinzpolitikers, dessen Erfolg weniger auf harter Arbeit beruht, als vielmehr auf seiner milieuspezifischen Kompetenz, eine Fassade der Wohlanständigkeit zu errichten.
Das gewähnte Recht, eine Person mit solcher Hochkompetenz kritisch zu betrachten, versteht sich hierauf ohnehin als Pflicht des aufgeklärten Geistes. Schon um der Wahrheit willen kann er nicht anders – er muss hinter jede Außenfront schauen, um alle rückräumigen Kulissen zu erfassen. Diese Pflicht legt ihm schon die Fassade selbst auf: ihre bloße Erkenntnis erzwingt bereits, sie unbedingt zu benennen und also zwischen ihr und der Wahrheit zu unterscheiden. Der Generalverdacht, dem der Mikrokosmos des Adam Muster anheimfällt, umschließt daher dessen vollständiges Interieur – mitsamt allen einzelnen Normen und Idealen. Dass man indes, was nun die eigene Person angeht, wenigstens formal ebenfalls nichts als Normen und Idealen anhängt, die ihrerseits nur die vorgestanzten Maßeinheiten eines anderen, nämlich des eigenen Mikrokosmos darstellen – das will man freilich nicht wahrhaben. Zumal man dann unmöglich umhinkäme, das Leben des Adam Muster als Paradigma des eigenen anzusehen.
Die Distanz zur Lebenswelt des Bürgermeisters, die möglicherweise entstanden war, erscheint mit dieser Einsicht aufgelöst. Betrachtet man sein Leben aber als paradigmatisch, so drängt es sich auf, die Schuld für sein Fehlverhalten und den Umgang mit ihr analog zu verstehen. Nur, wie stellt sich die Schuld exakt dar, als dass sie sich klar identifizieren ließe? Hier eine simple Antwort zu erwarten, hieße einer Illusion zu erliegen. Vergleichsweise einfach lässt sich zwar die Normativität der Schuld klären, insofern die Alkoholfahrt ein eindeutiges juristisches und ihr Verschweigen mindestens dem Polizeibeamten und der Ehefrau gegenüber wenigstens ein moralisches Vergehen anzeigen. Ungleich schwerer gibt sich jedoch die Faktizität der Schuld zu bestimmen, da es zwischen einer objektiv gegebenen und einer subjektiv erkannten Schuld
zu unterscheiden gilt – wobei sich letztere nochmals in eine gegebenenfalls von Adam Muster persönlich erkannte und eine jedenfalls öffentlich unerkannte Schuld aufgliedert.
Der Unterschied zwischen gegebener und erkannter Schuld bildet nun aber eben jenen Faktor, der es dem Bürgermeister ermöglicht, im Verborgenen zu agieren und mindestens vor anderen als Unschuldiger zu erscheinen. Trotzdem er insofern eine faktische Schuld trägt – unabhängig davon, ob er sie vor sich persönlich eingesteht oder nicht -, gilt er doch zur gleichen Zeit vor anderen öffentlich als unschuldig. Ja, aus Sicht des Polizeibeamten und seiner Ehefrau besteht nichts außer seiner faktischen Unschuld! Denn solange jene Fassade der Anständigkeit intakt ist und die Unschuldsvermutung nährt, verdeckt sie die Sicht und gewährt Adam Muster allen Freiraum einer unschuldigen Person: und zwar exakt solange, wie ihm entweder andere seine Schuld nachweisen oder er selbst beschließt, seine Schuld zu bekunden – was in dieser ersten Fortsetzungsversion beides nicht geschieht. In ihr obsiegt noch seine Unschuld und begünstigt so seinen Wahlsieg, weil seine Schuld – wiewohl sie vorhanden ist -, unbemerkt bleibt.

Das Exempel der Verkennung

Die weitere Handlung der zweiten Fortsetzungsversion nimmt im Vergleich zur ersten einen völlig anderen, für den Bürgermeister allseits misslichen Verlauf. Im Anschluss an die gleiche Ausgangssituation erkennt ihn einer der Polizeibeamten, um ihn dieses Mal jedoch nicht nur zu grüßen, sondern sich zu seinem Wagen zu begeben und sich mit ihm zu unterhalten. Da er im Zuge dessen eine Alkoholfahne wahrnimmt, bittet er ihn um einen förmlichen Kontrolltest. Notgedrungen willigt der Bürgermeister ein und muss zur Kenntnis nehmen, dass er mit 0,92 Promille unterwegs war. Kaum, dass das Ergebnis vorliegt, bezichtigt er sich laut vernehmlich der Dummheit. Er ahnt die Folgen seines Verhaltens, noch bevor auf der Polizeidirektion sein Blutalkoholwert nachgeprüft wird. Wieso musste das gerade mir passieren und warum heute -denkt er? Da bin ich einmal zur falschen Zeit am falschen Ort: und prompt schuldig. Von nun an, das spürt er, vermag er seine Integrität in der letzten Phase des Wahlkampfs nicht mehr als Trumpf auszuspielen. Was ihn einst auszeichnete, lastet nun auf ihm und droht seine gesamte Amtszeit zu verdunkeln. Schließlich unterliegt er bei der Wahl deutlich, als er nur mehr 42 % der Stimmen erzielt. Die Lokalpresse, die ihn einst feierte, rückt eilig von ihm ab.
Diese zweite Version der weiteren Handlung lässt nicht bloß die Fassade eines bis dahin wohl gefügten Kosmos einstürzen, sondern diesen selbst gerade mit. Kein Stein bleibt hier auf dem anderen – nichts währt, wie es war. Der Moment der Kontrolle, so scheint es, initiiert geradezu eine Kettenreaktion, deren Effekte weit über die Person Adam Musters hinausreichen und im Grunde die ganze Gemeinde betreffen. Dabei gewährt auch diese Szene reichlich Gelegenheit, sich über den Bürgermeister zu erheben und sich so von ihm zu distanzieren: sei es, dass man sich über seine Alkoholfahrt entrüstet und darum Genugtuung über sein Scheitern empfindet; sei es, dass man ihm unterstellt, seine Karriere gründe ohnehin wesentlich auf einer Fassade. Doch gerade wegen solcher Versuche, Distanz zu wahren, stellt sich hartnäckig die Frage, ob Adam Musters Umgang mit seiner Schuld – wie bereits in der ersten Version – nicht wiederum formal nur ein Paradigma des je eigenen Schuldumgangs darstellt.
Der Gedanke des Bürgermeisters, sich eben „zur falschen Zeit am falschen Ort“ befunden zu haben, belegt jedenfalls ein Verständnis von Schuld, das letztlich kein anderes wiedergibt, als das geläufige juristische. Ungeachtet seiner regelrecht mythischen Logik, leistet es obendrein untergründig einer Doppelmoral Vorschub. Von Adam Muster stellvertretend mitgeteilt, gibt es sich darin zu erkennen, dass man den Schuld- und Unschuldsstatus zu seinen zeitlichen und örtlichen Parametern in Beziehung setzt: als sei man nicht deswegen schuldig, weil man zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort schuldhaft gehandelt hat, sondern deswegen, weil Zeit und Ort des eigenen Handelns oder – wie im Falle Muster – des eigenen Aufenthalts nach der Tat, derart „falsch“ gewesen seien, dass infolgedessen auch das Handeln selbst strikt zu einem schuldhaften habe werden müssen. Nun – man mag selbst beurteilen, inwieweit man dieses Schuldverständnis teilt oder nicht – frei davon ist wohl niemand.
Der mentale Unterbau für ein derartiges Verständnis geht vorrangig aus der Unterscheidung zwischen gegebener und erkannter Schuld hervor. Letztlich vermag man sich um ihretwillen sogar einzubilden, dass die eigene Tat – obwohl sie bereits gegeben ist -, erst und nur darum zu einer schuldhaften werden würde, weil sie „zur falschen Zeit am falschen Ort“ geschehen wäre oder – wie es der Bürgermeister meint -, erkannt worden wäre. Auch hier erhält man in Gestalt seiner Person nur ein Spiegelbild der eigenen, wie selbstverständlichen Mentalität, das Gegebene und das Erkannte – als seien sie beziehungslos -, voneinander zu scheiden. Weshalb man daraus folgert, für sich und für andere nur das als gegeben erachten zu müssen, was auch als solches erkannt worden ist. Mit anderen Worten: ein Fehlverhalten und also eine Schuld, die unbemerkt ist, versteht man de facto als irreal. Oder – aus der Perspektive Adam Musters – gedacht: sie gilt solange als nicht gegeben, solange sie nicht erkannt ist.
Die mögliche Genugtuung darüber, dass selbst eine exzellent präparierte Fassade niemals auf Dauer besteht, erweist sich darum geradewegs als perfektes Indiz eigener Doppelmoral. Denn insgeheim hängt man allemal nur der gleichen Haltung an: nämlich einerseits eine Schuld erst und nur dann als gegeben zu betrachten, wenn man öffentlich als Schuldiger überführt wird; und anderseits im Falle einer Veröffentlichung sich noch vorzumachen, dass im eigenen Fall die räumlich-zeitlichen Umstände der Tat oder ihrer Erkennung die Schuld überhaupt erst zu einer solchen haben werden lassen. Dabei sind solche Abgründe einer Doppelmoral erst dann vermessen und ausgeleuchtet, wenn man anerkannt, dass man besondere Umstände allererst für die eigene Person reklamiert, während man für Andere, insbesondere für Fremde die volle Härte des Gesetzes fordert. Deswegen entgeht man allen Abgründen idealerweise nur, wenn und indem man – wie die dritte Version zeigt -, weder sich noch anderen etwas vormacht.

Das Exempel der Bekundung

Die dritte Fortsetzungsversion ergänzt nun das Spektrum eines unwahrhaftigen Umgangs mit Schuld um die Option eines wahrhaftigen. Im Fortlauf der vorab skizierten Eingangshandlung wird Adam Muster auch hier zunächst von dem Polizeibeamten erkannt. Bevor der ihn jedoch anspricht, ergreift der Bürgermeister in dieser Version von sich aus das Wort. Ihm ist bewusst, dass er sich in einer schwierigen Situation befindet – und es kein Zurück gibt: kurz besonnen, teilt er noch vor einer Kontrolle mit, drei Bier und drei Schnäpse getrunken zu haben. Damit zeigt er sich – zum Erstaunen des Beamten – absolut offen und unterzieht sich dann auch dem fälligen Alkoholtest anstandslos. Ich muss das eben hinnehmen – denkt er sich. Noch auf der Polizeidirektion ruft er seine Ehefrau an und schildert ihr das Geschehene. Sie bestätigt ihn darin, die Gemeinde selbst über die Presse von seiner Alkoholfahrt zu unterrichten. Als er das umsetzt, entwickelt sich der Wahlkampf darüber prompt zur Kontroverse: während ihm die einen vorwerfen, stets nur seine Fassade wahren zu wollen, schätzen andere seine Ehrlichkeit. Schlussendlich verliert er die Wahl ganz knapp mit 48 % der Stimmen. Seine Fraktion ernennt ihn gleichwohl zu ihrem Vorsitzenden. Die Lokalpresse berichtet mit Respekt darüber.
Diese dritte Version der Geschichte lässt Bürgermeister Adam Muster in einem anderen Licht erscheinen. Sein Verhalten ermöglicht erstmals, sich seiner Person anzunähern, anstatt sie nur abzuweisen und stetig auf Distanz zu halten. Dabei ändert sich an der Faktizität seiner Schuld schlechterdings nichts: er ist eben trotz Alkoholkonsums Auto gefahren. Die Abweichung von den anderen Versionen besteht einzig – wiewohl fundamental – darin, wie er mit seiner Schuld umgeht. Denn nun übt er sich nicht mehr in Ignoranz, um seine Trunkenheit nur zu verdecken oder zu verkennen – und wenn überhaupt für sich zu behalten: nun deckt er sie auf und holt sie hervor, indem er sie und somit auch sich selbst öffentlich anzeigt. Im juristischen Sinne bleibt er insofern zwar schuldig, eröffnet sich aber moralisch die Option, trotz und mit seiner Schuld offensiv aufzutreten. Adam Muster, der bisher nicht erkannte oder der entlarvte Täter, wandelt sich so zum Täter, der sich als solcher selbst erkennt und selbst entlarvt.
Das Gemeindevolk indes erweist sich über den hiesigen Sinnes- und Verhaltenswandel völlig uneins; obgleich die Kontroverse, die es austrägt, nur verständlich ist. Sie spiegelt allein jenes Misstrauen, das in einem selbst entflammt, wenn vornehmlich Berufspolitiker medienwirksamkundgeben, sich überhaupt der Wahrheit zu verpflichten. Darauf reagiert man schon reflexhaft mit tiefer Skepsis – als stünde mindestens der Vollzug dieser Pflicht in totalem Widerspruch zu ihrem Berufsstand. Den Unwillen, sich offen und ehrlich zu verhalten, den man Politikern bereitwillig attestiert, unterstellt man aber umso hartnäckiger, wenn es nicht nur um irgendein Sachthema geht, sondern – wie im Falle Muster – um eine höchstpersönliche Sache wie eigene Schuld. Doch Vorsicht: solche Unterstellungen indizieren keine tatsächlich überlegene Moral, sondern wiederum eine gewöhnliche Doppelmoral, der man sich vor allem schon darum leicht unterwirft, weil sie die Bewertung selbst komplexer Phänomene enorm vereinfacht.
Die Skepsis, die man selbst mit einem Großteil der Gemeinde Adam Muster entgegenbringt, wirft nämlich die Frage auf, wie man an seiner Statt gehandelt hätte. Was anderes würde man eigentlich für richtig und geboten halten, als das, was er in jener dritten Version vorexerziert hat – zumal man doch aus objektiver Sicht kein anderes Handeln als vorbildlich ansieht? Aber exakt dieses Handeln gerät unter Kritik: weil man einem Politiker im Zweifel nicht vertraut – weil man ihm, obwohl er eben das tut, was man für sich selbst und überhaupt für das Richtige hält, unterstellt, er täte es aus ganz anderen Motiven und Intentionen als man selbst. Nun, wie anders ließe sich das bezeichnen als Doppelmoral? So verständlich und erforderlich es darum ist, einer Person wie Adam Muster mit Vorbehalt zu begegnen, so steht man umgekehrt auch in der Pflicht, diesem Bedenken nicht freien Lauf zu lassen, um sich nicht schnurstracks in die Fänge bigotter Moral zu begeben – und sich in ihnen noch überlegen zu wähnen.
Der offene Umgang mit Schuld, den der Bürgermeister demonstriert, ist insofern zunächst als der moralisch einzig gebotene auch anzuerkennen. Wobei die Tatsache der Alternativlosigkeit keinesfalls besagt, dass allein ein offener Schuldumgang unbedingt auch ein wahrhaftiger ist: er erhöht vielmehr bloß die Wahrscheinlichkeit auf einen wahrhaftigen Umgang, ohne seine Tatsächlichkeit zu belegen, noch auch belegen zu können. Denn genauso unmöglich es jedem selbst ist, das Misstrauen Anderer damit restlos zu entkräften, dass man die eigene Schuld von sich aus nur offen eingesteht, genauso unmöglich ist es eben Anderen, das Gewissen, das nur einem selbst eignet, restlos daraufhin zu erkunden, welche Motive das Eingeständnis prägen. Ob also Adam Muster mit seiner Schuld tatsächlich wahrhaftig umgeht und er auch als Person vertrauenswürdig ist, lässt sich objektiv nicht verifizieren: einen Beweis hierfür kann es nicht geben – und doch wünscht man ihn herbei. Seine Illusion ist jetzt Sache eines Exkurses.

Das Diktat des Rücktritts

Die strittige Frage der Wahrhaftigkeit im Umgang mit Schuld erfährt heute in der öffentlichen Diskussion eine Antwort, die im Grunde einem Diskussionsverzicht gleichkommt. Ja, letztlich scheint die Frage selbst nicht einmal strittig! Zumal sie – kaum dass sie nur gestellt ist -, schon die Behauptung erzeugt, dass einzig der Amtsrücktritt eines Amtsinhabers einen wahrhaftigen Schuldumgang beweist. Nicht zuletzt die Medien, die sich bereits als Heimstätten der Moral verstehen, favorisieren den Rücktritt höchstrichterlich als wahren Ausweg aus der Schuld – als ob sie nur damit vollständig eingestanden und zugleich teilweise abgetragen sei. Dass jedoch ein Rücktritt auch ansatzweise kein Eingeständnis, geschweige denn einen Abtrag von Schuld bedeutet, noch auch bedeuten muss, kommt zumeist niemand in Sinn: so sehr ist man darauf fixiert, endlich den Rücktritt des Schuldigen zu erwirken. Nur, was macht einen Amtsrücktritt derart sinn- und wertvoll, als dass man versucht ist, ihn schon blindlingsals einzigen Erweis eines wahren Schuldumgangs auszumachen und auch zu fordern?
Die pauschale Rücktrittsforderung stützt sich jedenfalls argumentativ auf moralische Aspekte wie Reputation und Autorität des Amtsinhabers sowie des Amtes selbst. Auf ihre Plausibilität befragt, offenbart sie ihren zentralen Schwachpunkt aber darin, dass sie ausnahmslosan einer erkannten Schuld orientiert ist – sei sie juristisch oder moralisch gefasst. Auf die drei Exempel Adam Musters übertragen, hieße das, dass seine Schuld – obwohl sie in jeder Version gegeben ist -, einzig in der zweiten und dritten, weil sie bekannt wäre, einen persönlichen Reputations- und Autoritätsverlust einleiten und allein darum eine Rücktrittsforderung hervorrufen könnte. Im Einzelvergleich wirft dann die erste Version allerdings die Frage auf, ob seine Reputation und Autorität etwa keinen Verlust erleidet, weil und solange sein Fehlverhalten unerkannt bleibt. Wer wollte dies behaupten? Für den Fall, dass man sie jedoch ebenso beschädigt sieht, gesteht man zugleich die argumentative Schwäche, der eine pauschale Rücktrittsforderung unterliegt. Sie bei jeder Gelegenheit zu erheben, macht weder Sinn noch Wert.
Die Einsicht in die Relativität dieser Forderung – zumal angesichts der Absolutheit, mit der sie für gewöhnlich gestellt wird -, offenbart ein Dilemma. Hingegen macht es im Umkehrschluss auch keinen Sinn, ebenso pauschal jede Rücktrittsforderung abzuweisen: bloß weil niemand sicherstellen kann, dass sie alle schuldigen Amtsinhaber faktisch erreicht. Das wäre nichts als grotesk! Denn das hieße letztlich nicht nur vor der Divergenz von erkannter und unerkannter Schuld zu kapitulieren, sondern daraufhin selbst solche Amtsinhaber in Frieden zu lassen, die bekanntermaßen eine Schuld verantworten. Nein, das Dilemma der Pauschalität lässt sich nur damit überwinden, dass man der Differenz von autonomer und heteronomer Schulderkenntnis Rechnung trägt: das Kernkriterium ist, ob man eigene Schuld von sich aus gesteht oder nicht. Oder weitergedacht: ob man das eine Fehlverhalten durch ein weiteres ergänzt oder nicht. Auf Adam Muster bezogen, ließe sich so deduzieren, dass sein Verhalten zumindest in der zweiten Geschichte eine Rücktrittsforderung rechtfertigt. Für die erste bleibt sie ein Wunsch.

Die Relevanz des Schuldumgangs

Das Spektrum an Detailfragen zur Schuld und solcher zu ihren Konsequenzen, einschließlich der des Rücktritts von einem Amt, macht nochmals deutlich, dass schlussendlich alles darauf ankommt, wie man mit eigener Schuld umgeht. Damit ist nicht gesagt, dass dem Vorgang, der eine Schuld begründet, eine geringere Bedeutung zukommt als dem Umgang mit ihr – zumal schon logisch klar ist, dass sie als Tatsache ein sachliches und zeitliches Apriori beansprucht: sie muss erst gegeben und erkannt sein, bevor man mit ihr umgehen kann; und im juristischen Falle muss sie erst nachgewiesen sein, bevor man sie werten und ahnden kann. Dieses Apriori der Schuld täuscht jedoch nicht darüber hinweg, dass erst der Umgang mit ihr offenbart, wie man sie und auch sich selbst als Schuldiger wirklich versteht. Insofern und in diesem präzisen Sinne teilt der Umgang mit einem persönlichen Vergehen moralisch gemessen mehr über die eigene Person mit, als das Vergehen selbst nur irgend dazu imstande wäre.
Das Vergehen – das demonstrieren die Geschichten Adam Musters -, ist zwar immer das erste, das ursprüngliche Faktum, aber niemals das allein maßgebliche. Ob es nämlich bei dem einen Vergehen bleibt oder darauf ein zweites, ein zusätzliches folgt, entscheidet sich erst im Zuge des Umgangs mit dem ursprünglichen Faktum: wird es bekundet, dann wird die erste Schuld gleichsam aufgeweicht; wird es dagegen verdeckt oder verkannt, dann wird die erste nicht nur durch eine zweite Schuld ergänzt, sondern zugleich bekräftigt und somit kraft dieser zweiten erst wirklich vollendet. Angesichts dessen aber gewinnt der Umgang mit Schuld – trotzdem er unmöglich die Bedeutung ihrer selbst erlangt -, eine eigenständige Bedeutung, die man nicht hoch genug bewerten kann. Zumal in Momenten des Lebens, in denen man eine persönliche Schuld und das eigene schuldige Dasein als schlicht gegeben erkennen muss: als ein Faktum, das bloß noch Raum läst, mit ihm umzugehen. Erst dann wird man der Tatsache gewahr, dass und wie sehr schlussendlich alles auf diesen Umgang ankommt.


[1] Jean Baptiste Moliere, Don Juan V, 2

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