Es ist eine Zahl, die den deutschen Bischöfen auf ihrer jüngsten Vollversammlung gar nicht gefallen hat: Die Austritte in Deutschland aus der katholischen Kirche sind im Jahr 2008 dramatisch gestiegen, von 93.667 im Jahr zuvor auf 121.155. Im Jahre 2006 waren es noch 84.389. Das sind mittelgroße Städte, die die Kirche jedes Jahr verliert. Und im vergangenen Jahr war diese Stadt besonders groß. An dem jüngsten Aufreger kann es nicht gelegen haben: Der „Fall Williamson“ erhitzte erst in diesem Jahr die Gemüter. Der neuerliche Anstieg der Austrittszahlen – nach der Wahl des deutschen Papstes hatte sich die Kurve deutlich abgeflacht – dürfte wohl eher auf die aufziehende Wirtschaftskrise zurückzuführen sein. Denn in Deutschland ist anders als sonstwo auf der Welt das liebe Geld ein Grund, seiner Kirche den Rücken zuzukehren. Der Fluch der Kirchensteuer. Wer irgendwann in einer nicht sehr noblen, aber menschlich vielleicht verständlichen Panikreaktion seine finanziellen Nöte mit dem Austritt aus der Kirche zu lindern versucht, der braucht später ein ordentliches Stück Courage und Energie, um diesen Schritt mit einem Wiedereintrittsverfahren rückgängig zu machen. Der Kirchensteuer verdanken viele ihre bequemen Arbeitsstellen, wo in anderen Ländern ehrenamtliches Engagement vonnöten wäre. Auch in den Missionsländern hat
„San Marko“ viel Gutes bewirkt. Aber die Kirchensteuer war auch tausendfach der Grund, Getaufte in einem schwachen Augenblick von ihrer Kirche wegzuführen und dann für immer in der Eiswüste der Glaubensferne zu belassen.
Viele, die wegen des Geldes aus der Kirche ausgetreten sind, gehen trotzdem weiter zur Kirche und sagen sich, so ein bisschen Steuer könne doch nicht über ihr Verhältnis zu Gott entscheiden. An den Kirchenportalen fragt schließlich kein Küster nach dem Steuerbescheid.
Diese Reaktion drückt auch etwas Menschliches aus: Wenn die Kirche als beitragspflichtiger Verein empfunden wird, setzt man sich direkt mit dem Herrn im Himmel in Verbindung, der mit seinem Handeln und seiner Lehre hier auf Erden eigentlich klar zu verstehen gegeben hat, dass jeder die Gnadengaben, um die er bittet, unverdient, das heißt umsonst erhält – und nicht gegen Geld.
Viel hat die konfessionelle Mitgliedssteuer dazu beigetragen, der katholischen Kirche in Deutschland das verstaubte Ansehen zu geben, so etwas wie ein Verein zu sein. Da muss schon ein Rebell wie Peter Seewald kommen, um auf über siebenhundert Seiten neu zu erzählen, worum es bei Kirche geht: um Jesus Christus. Um ein Steuer, das man herumreißt – und nicht um eine Steuer, die man zahlt. Seewald hat das Flaggschiff der Theologen und Schriftgelehrten wie ein Pirat geentert. Natürlich ist auch sein Buch schon reparaturbedürftig wie ein alter Kahn, doch es ist geschmeidig schnell und man kann Seewald nur wünschen, dass die kirchensteuerfinanzierten Theologen sich seiner Herausforderung stellen, in deren Labors Jesus von Nazareth zu einer Schimäre verkümmerte. Wo der gekreuzigte Sohn Gottes immer mehr einem aufgepitschtem Schmetterling glich. Das mag jetzt nicht das ausgeklügelte kirchenrechtliche oder fundamentaltheologische Argument sein: Aber wer die großen Jesus-Bücher liest – wie das von Romano Guardini, Klaus Berger oder unserem Papst –, der spürt einfach, dass das Ereignis, das mit Jesus Christus begann, meilenweit entfernt ist von der steuerbürokratisch organisierten Körperschaft „katholische Kirche“, wie sie sich in Deutschland zwar aus ganz bestimmten historischen Umständen herausgebildet hat, aber eher zu Vereinen und Hilfsorganisationen passt als zum Leib Christi.
Im Evangelium geht es um Gratuität, um unverdientes Empfangen, um Freiwilligkeit, um eine ganz andere Logik als die der Zöllner und Steuereintreiber. Wer den Ruf empfängt und ihm folgen will, der gibt alles hin – und nicht nur ein paar Prozent der Einkommenssteuer.
Die Kirchensteuer stellt die Gemeinschaft der Getauften auf eine Ebene mit den Gewerkschaften oder einem Sportverband: Man wird Mitglied, zahlt seinen Beitrag – und wenn einem die Nase des Präsidenten nicht mehr passt, tritt man halt wieder aus. Ist es Zufall, dass die katholische Kirche in Deutschland von den Politstrategen der Republik heute genauso behandelt und „gepflegt“ wird wie die anderen „gesellschaftlichen Großgruppen“? Noch. Wenn die Kirche weiterhin pro Jahr eine mittelgroße Stadt verliert, ist sie bald nicht mehr wichtig. Ende September hat Papst Benedikt Tschechien besucht, ein Land, in dem es Regionen gibt, die weitgehend atheistisch sind. Und der Politstratege, der die Konfessionen nur als öffentlich-rechtliche Körperschaft wahrnimmt, mag mit Blick auf diese Regionen über die Kirche denken: Es geht auch ganz gut ohne.
Guido Horst ist Chefredakteur des Vatikan-Magazins (www.vatican-magazin.de)
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