Martin Seel: Theorien, Frankfurt/M.: S. Fischer 2009; gebunden mit Schutzumschlag, 255 Seiten, 19,90 €, ISBN:978-3-10-071010-9
Manchmal täuscht die Verpackung über den Inhalt hinweg. Und manchmal wird ein Buch unter dem eigenen Anspruch begraben, so wie hier. Was so schneidig und auftrumpfend beginnt: „Mein Name ist M.S., ich mache Theorien“, verwandelt sich alsbald in eine Suada, die mehr und mehr den Leser aus dem Blick verliert, um endlich nur noch reflexionstrunken in sich selbst zu kreisen und zum quälenden Sermon zu werden.
Eine Weile, d.h. etwa 30 von insgesamt über 250 mit Aphorismen und Denkstücken gefüllten Seiten, geht es ganz gut. Seel gelingen einige treffende Beobachtungen und Bilder, etwa das von der Dialektik sozialen Ausgeschlossenseins: „Inmitten des Lebens am Rand des Lebens zu stehen – […] das ist die Stellung des höchsten Glücks wie des höchsten Unglück.“ Doch bleiben solche Prosa-Perlen selten und zunehmend unauffindlich im Blätterrauschen.
Das Buch verliert sich zunehmend
in reflexionstrunkener Selbstbezüglichkeit
Weithin wird der Stil durch den übermäßigen Hang zum Paradox entwertet. Vielleicht wollte sich Seel à la Kierkegaard als Denker mit Leidenschaft ausstellen; heraus kommt der routinemäßige Gebrauch einer pseudoparadoxalen Ausdrucksweise, bis schließlich jenes erlesene Mittel verschlissen ist. Erschwerend hinzu kommt, dass Seel regelmäßig ins andere Extrem kippt und aus irgendeinem Grund glaubt, Platituden darbieten zu müssen. Trivialitäten wie: „Wahrer als wahr kann auch das Wahrste nicht sein“ oder „Können heißt scheitern können“ ziehen ein Buch in die Länge, dessen Autor es sich nicht verkneifen kann, alles sein zu wollen, und alles auf einmal. Zwischen vor Künstelei strotzenden Reflexionen, deren angemaßter geistiger Höhenflug regelmäßig vom Tiefsinn in den Tiefflug kippt, ist immer wieder auch Persönlichstes eingeflochten. Umstandslos erfährt der Leser Dinge, die er vielleicht lieber nicht erfahren hätte: dass der Herr Philosophieprofessor stolzer und staunender Vater ist, dass auch er eine Mutter hat, die im Altenheim stirbt, dass er gerne mal den Nobelpreis gewinnen würde – und was dergleichen Bekenntnisfreude mehr ist.
Besonders peinlich wird es freilich immer an, wenn der Philosoph versucht, sich als Mensch wie du und ich zu gerieren; eine geheime Sehnsucht vielleicht jedes reflexionsbeladenen Intellektuellen. Wenn der Meisterdenker gut postmodern zum Seelenstriptease ansetzt, erfahren wir, dass er auch mal Trecker fährt und dabei Lust findet an dem Gedanken, am Bahnübergang einen Unfall zu bauen und so ‚die Schranken zu durchbrechen‘. Der Theoretiker der Tugend beichtet öffentlich seine Lust, über die Stränge zu schlagen – allerspätestens hier fragt sich der Leser, warum die illustre Runde der Vorab-Leser (hinten im Buch!) nicht gegen dieses Unterfangen protestiert oder vor ihm gewarnt hat.
Aus immanenten Gründen scheitern muss auch der Anspruch, in aphoristischer Form althergebrachte Themen der Philosophie zu behandeln. Nach einem gemischten Block zu Beginn der Buches, der noch der beste ist, folgen längere Abschnitte erst zur Frage nach der Tugend und dann zur Erkenntnistheorie. Plötzlich wird offenbar wieder Anspruch auf Verbindlichkeit erhoben, ohne dass allerdings die prätendierte Objektivität der Reflexionen sich in der Form niederschlüge. Diese verharrt stattdessen in der subjektivsten aller Formen, einer formverliebten Befindlichkeitsprosa, dabei aber eben nicht über Zustände des schreibenden Subjekts, sondern über ‚die Welt‘ parlierend. Was in wissenschaftlichen Abhandlung zum guten Stil gehört, eine repetitive Schreibweise, die den Gegenstand umkreist und so in immer neuen Wendungen einen Gedanken erst eigentlich plastisch werden läßt, ist in einer Aphorismensammlung fehl am Platz und sorgt beim Leser für das ungute Gefühl, dasselbe doch drei Seiten vorher genauso schon mal gelesen zu haben.
Wenn der Autor zum postmodernen
Seelenstriptease ansetzt, wird es peinlich
Vielleicht ist dieses Buch auch ein Symptom. Ein Symptom für die Prekarität der Philosophie, die sich anschickt, die Enge des Elfenbeinturm zu verlassen, nur um im vermeintlich Literarischen zu dilettieren. (Wer einmal in R.D. Prechts Philosophie-Bestseller geblättert hat, wird wissen, wo das Problem liegt.) Die Philosophie gerät in einer pluralen Öffentlichkeit, die von Expertenmeinungen dominiert wird, immer mehr in die Defensive. Die Frage „Wozu noch Philosophie?“ hat sich unterdessen zur rhetorischen entwickelt. Zwar ist auch der Philosoph ein Experte, ein solcher allerdings, dessen Expertise kaum nachgefragt wird, weil sie eher einem spleenigen Steckenpferd gleicht als einem Wissen von gesellschaftlicher Relevanz. Der Philosoph wird nachgerade zur Überschreitung gedrängt, er verlässt sein beschauliches Habitat, um in der medialen Expertokratie als eine Art unfreiwilliges Korrektiv – die rätselhafte Stimme aus dem Off – zu fungieren (wiederum gut an den sich häufenden Fernsehauftritten Richard D. Prechts zu beobachten).
Die Gewichte haben sich somit umgekehrt: Der einstmals hohe Anspruch der einen Wahrheit – Seel diskreditiert ihn souverän gleich zu Anfang des Buches – zerbricht noch jedesmal auf’s Neue an der widersprüchlichen Wirklichkeit. Nach Maßgabe der hergebrachten Philosophie kommt dem Widerspruch kein Sein zu, darum ist es gerade seine schmerzhaft reale Persistenz, die den Philosophen an seiner Disziplin irre werden läßt. Einer gewissen Willkür immer verdächtiger werden ihm seine begrifflichen Etüden begrenzter Reichweite, die überdies in einer unheilvollen Spannung zum gesellschaftlichen Konsens der Nützlichkeit stehen. Was Benjamin seinerzeit von der Theologie sagte, sie sei ein „buckliger Zwerg“, der „sich ohnehin nicht darf blicken lassen“, darf mittlerweile auch von der Philosophie gelten.
Martin Seel hat versucht, sich herabzulassen auf die Ebene des Lebens, ohne dabei die philosophisch-wissenschaftlich-bürgerlichen Usancen aufgeben zu können. Die Usurpation der existenziellen Form des Aphorismus zergeht folgerichtig am leidigen Konformismus des Philosophieprofessors. Der Spagat zwischen Katheder und Literatur, der einem Unikum wie Adorno, an dessen Vorbild Seel sich möglicherweise übernommen hat, noch gelang, mißlingt hier gründlich: die vermeinte Klarheit wirkt platitudenhaft, der Humor aufgesetzt-lächerlich und das Persönliche, existenziell Gemeinte aufdringlich und peinlich. Kein philosophisch-literarischer Grenzgang ist das Buch, sondern eine Mogelpackung, ein worst of both worlds, ein Buch „für alle und keinen“. Fazit: Wir raten ab.
Martin Seel: Theorien
Frankfurt/M.: S. Fischer 2009
255 Seiten, 19,90 €
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