Der schöne Schein aus Wachs. Madame Tussaud feiert in Berlinihr einjähriges.

„Nein, der macht mir Angst!“ bekräftigt die junge Dame entschlossen und tritt weg von Willy Brandt, mit dem sie sich nicht fotografieren lassen will: „Wer ist denn das eigentlich?“ legt sie nach. Die Mutter bittet höflich noch einmal um ein Erinnerungsfoto. Da ist die Tochter schon zur nächsten Figur getreten und bringt sich neben Erich Honecker in Pose. Den kennt sie zwar auch nicht, aber Erich Honecker wirkt offenbar vertrauenserweckender. Die Mutter nickt und knipst. Wir sind im Raum mit den Politikern. Die Qualität ihrer Anzüge ist bei allen identisch, ob Atatürk, Walter Ulbricht, Altkanzler Schröder oder Obama. Über Sarkozy wäre ich fast gestolpert, so klein ist er. Und steht mitten im Raum – wie ein kurz innehaltender Besucher.
Geschichte wiederholt sich nicht, es sei denn man verwendet den selben Wachs zweimal, um Personen nachzubilden. Die ohnehin nur reglos nebeneinander stehen. Oder zu einer Szene gruppiert werden. So oder so verkörpern sie Geschichte auf die denkbar harmloseste, geist- und konfliktfreieste Art: als pure Nachbildung von Menschen, die gesellschaftliche Ereignisse herbeigeführt haben oder immer noch verursachen. So denkt sich das der Skeptiker, der das neue immer überfüllte Wachsfigurenkabinett in Berlin, Unter den Linden noch nicht besucht hat. Das war einmal. Heute darf man und Frau viele und vieles berühren, irgendein Star bewegt dann den Po oder seinen Arm. Er flüstert oder kreischt einen Satz. Der Besucher darf sich Kopfhörer aufsetzen und die sechs größten Hits von Elvis Presley vernehmen oder mit dem Fuß auf die ZDF-Torwand schießen. Natürlich nur virtuell, bei den herumstehenden Figuren könnten reale Bälle verheerende Wirkungen auslösen. Wer sich mehr im Kopf bewegt, kann sich auch an Jauchs Millionenquiz versuchen. Oder er lässt sich die eigene Hand in Wachs gießen: eine oder beide. Ein Animationskabinett, das mehr Action verspricht als es eigentlich bereithält. Im Mittelpunkt steht weiter der Wachsianer. Es wird präsentiert, wen man kennt oder kennen will – in einer temporären Inszenierung, die zeitlos wirken möchte, aber alle paar Jahre so unauffällig wie möglich Personal austauscht, erneuert oder nachbessert. Vor einem Jahr eröffnete Madame Tussauds „Unter den Linden“ medienwirksam mit dem Spruch: “Das prominenteste Erlebnis Berlins“ Es entstand eine Berühmtheitszone, die sich im Internet anpries: “Tauchen sie auf unserer inter-aktiven Promi-Party in die glitzernde Welt der Stars ein…. Lassen Sie sich gemeinsam mit Berühmtheiten …ablichten.“ Interessanterweise am Beginn noch mit dem warnenden Nachsatz: “Änderungen der Figuren und interaktiven Erlebnisthemen vorbehalten.“ Wer mit dem Zeitgeist nicht mithält, könnte auf der Suche durch erkaltete und erloschene Prominenz also enttäuscht werden.
“Ich habe Angela Merkel schon sehen dürfen“, verriet mir vor einem Jahr der Verkäufer vor der Eröffnung im Berlin-Shop, durch den künftig ein Gang des Kabinetts führt – voller Vorfreude auf die verkaufsfördernde Symbiose meinte er weiter:„ Sie sieht toll aus, ganz wie in der Wirklichkeit.“ Lief sie öfter am Fenster vorbei? Oder wurde von ihm nebenan im Café gesichtet, dem Promitreff „Einstein“ – da taucht jeder Politiker einmal auf. Falls man ihn dann erkennt. Das weitere Gespräch mit dem Verkäufer klärte mich auf: der Mann meinte die Fernsehwirklichkeit. Wirklich wirklich scheinen nur noch unsere Inszenierungen von der Realität zu sein.
Macht besaß immer Materialien, in denen und mit denen sie sich verkörpert sehen wollte: Marmor, Granit, dauerhaft wirkender Stein. Später gern hoch zu Roß – eiserne Zeiten begannen, mit Kochtöpfen, Feuerwaffen und möglichst rostfreien Denkmalen. Doch die Zeiten der Abbildung bedeutender Menschen scheinen in der Kunst vorbei. Wir grübeln lieber über die Symbolik nach – kaum noch ein Mahnmal, das ohne Erläuterungen aus sich heraus wirkte. Da vergessen wir leicht den realen Menschen hinter oder vor den politischen Gestaltungsabsichten. Auch darüber haben die Besucher nun mit der Eintrittskarte abgestimmt. Wer an einem heiß-schwülen Julitag 60 Menschen hintereinander auf dem Bürgersteig vor dem Etablissement warten sieht, weiß wie die Abstimmung ausging – für diese langweiligste aller musealen Darstellungsformen. Der Erfolg war vorprogrammiert und überrascht doch: die Banalisierung von Geschichte durch Reduktion auf Akteure. Das simple Prinzip funktioniert weltweit. Wachs als globales Medium, knetbar, flexibel – übrigens bis heute ein wenig erforschtes Bienenprodukt, ein Gemisch von chemischen Verbindungen der Fettreihe. Es enthält Stoffe, die laut lexikalischer Auskunft noch nicht analysiert sind – wollen wir hoffen, dass das Prominentenwachs ökologisch korrekt gewonnen wurde und von glücklichen Bienen stammt.
Madame Tussauds eröffnete zuletzt Filialen in Washington DC, Shanghai sowie in New York und Hongkong. Dort, wo sich die Welt bewegt, stehen die Promis starr oder zu mechanisierten Bewegungen fähig im Raum. Als könne man sie in echt endlich genauer betrachten. Hier in Berlin viel Brecht übrigens und eine Wand voller Günter Grass. Und der Verkäufer vom Vorjahr wurde auch schon ausgewechselt.
Das Darstellungs- und Präsentationsprinzip ist weltweit identisch – nur die aufgewachsten Akteure unterscheiden sich regional sehr stark. Den Mächtigen, Bedeutenden und Berühmten auf Augenhöhe begegnen zu können scheint für den medien-orientierten Bürger der wesentliche Reiz. Er will ihnen nahe sein, für einen Augenblick im Bewusstsein eingebildeter Gleichheit leben und das noch im Foto festgehalten sehen. Für die Werbung war der übliche Streit, der immer kommt, wenn man Hitler ins Spiel bringt, kaum nötig. Im Londoner Kabinett steht der ein wenig isoliert, in Hamburg mit zwei anderen Nazi-Größen in einer Pose, die zu Nazi-Zeiten in Auftrag gegeben und nie geändert worden ist. Nur Berlin wollte wieder alles besser machen: düstere Stimmung im Führerbunkerkurz vor dem Ende, zu Hitler eine Infotafel und ein Fotografierverbot. Sophie Scholl und Informationen zum Widerstand kamen gleich noch mit in den Raum. Das hätte an Distanzierung genügen können, denn die Botschaft der Wachsfiguren ist im Grunde für Diktatoren nicht nett: jeder ist ersetzbar in der Geschichte und ewig konzipierte Reiche schmelzen wie Wachs. Aber das reichte dem jüngsten Hitler-Attentäter nicht und er riß ihm den Kopf ab. Jetzt sitzt Hitler hinter Glas und wirkt noch düsterer. Das Attentat zeigte der Welt, das die Deut-schen entschlossen sind, keine Nazis mehr zu dulden.
Der Attentäter ermöglichte es den Betreibern wochen-lang zu spekulieren, ob der kopflose Führer wieder aufgestellt werden würde. Und ob mit oder ohne Kopf, was ja auch eine Möglichkeit gewesen wäre, somit die allerjüngste deutsche Geschichte (das Wachs-Hitler-Attentat) gleich einbeziehend: denn die Darstellung von Geschichte erzeugt schnell selbst History. Kleine Hitler zum Kopf abreißen verkauft das Kabinett in seinem Souvenirshop noch nicht. Die Missbrauchmöglichkeiten (in dem Fall: Hitler nicht zu verstümmeln) sind noch zu groß.
Bei der DDR hält sich das Kabinett mit Kommentierungen weitgehend zurück, man will ja niemand als Gast verschrecken. Unzufrieden sind trotzdem viele. Neben denen, die nicht drin sind, zum Beispiel Helmut Kohl. Er ließ gegen sein Ebenbild klagen. Das gilt auch für die Erben von Franz-Joseph Strauss, die sich an seinem Foto und der politische Einklassifizierung störten. Man könnte bei lebenden Personen künftig zweimal eine Figur aufstellen: die autorisierte als zweite daneben. Nur der regierende Bürgermeister Berlins zeigte sich wie immer fröhlich entschlossen alles richtig zu finden und umarmte für die Presse den Wachs-Wowi. „Den kann er sich mit seinem Dauerlächeln für die Politik ab und zu ausleihen“, meinte ein Besucher im Vorbeigehen. „ Mehr als dem an politischen Vorschlägen fällt dem Original auch nicht ein!“ konterte sein Begleiter.
Also es ist durchaus möglich, klüger aus dem Kabinett herauszukommen. Und dem Skeptiker kommen ein paar zukunftsweisende Gedanken: Das demokratiestärkende Potential des Wachs herausgekitzeln: Berühmtheiten zum Do-it-yourself-Kneten anbieten. Und warum Menschen nicht dazu animieren, sich selbst in Wachs zu formen? Man kann sich für Geld nicht alles kaufen – eine zuverlässige Konjunktur oder zufriedene Menschen zum Beispiel – aber man kann für Geld vieles herstellen. Und Wachs ist preisgünstig. Warum nicht eine Versteigerung abhalten, bei der am Ende jemand den Zuschlag erhält, der in Wachs für ein Jahr im Kabinett weilen darf. Falls nicht ein russischer Neu-Milliardär gleich das gesamte Museum samt Inhalt kauft und es in St. Petersburg dreimal so groß und prächtig errichten lässt.

Über Rathenow Lutz 17 Artikel
Lutz Rathenow, Schriftsteller, 1952 geboren, Studium der Germanistik/Geschichte. Kurz vor dem Examen 1977 wurde er aus politischen Gründen von der Universität ausgeschlossen. Er ist Lyriker, Essaiist, Kinderbuchautor, Satiriker, Kolumnist und Gelegenheitsdramatiker. Rathenow ist Landesbeauftragter der Staatssicherheit in Sachsen.

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