Offener Brief an den Kasseler Friedensratschlag anlässlich dessen Kritik an ObamasFriedensnobelpreisverleihung

14. Oktober 2009 Lieber Peter Strutynski, lieber Lühr Henken,
Ihr habt in Eurer Stellungnahme vom 9. Oktober für den Friedensratschlag ( http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/themen/Friedenspreise/nobel2009-baf.html) die Entscheidung des Osloer Friedensnobelpreis-Komitees für Obama als „einen kolossalen Fehlgriff“ bezeichnet. Als Begründung führt Ihr eine Vielzahl von Fakten an, die belegen sollen, dass Obama im Grunde die Politik der Neokonservativen fortschreibt, diese Politik aber in wohlklingender Rhetorik verpackt. Er konnte – so Euer Fazit – „vorerst nur mit guten Worten glänzen. Das gehört zum Job jedes Politikers und Obama macht ihn nur besonders gut.“
Mich hat diese Eure Stellungnahme und die Verdammung Obamas als eines besonders intelligenten Heuchlers zwar wegen ihrer Schärfe irritiert, jedoch nicht ganz überrascht. Kritische Kommentare zu Obamas Außenpolitik, gerade aus dem Lager eines Teils der Linken, sind mir nicht verborgen geblieben. Tatsächlich kann man auch manche Argumente gegen Obama nicht von der Hand weisen. Vor allem der Krieg in Afghanistan und das Fehlen einer glaubwürdigen Exit-Strategie sind auch aus meiner Sicht beklagenswert.
Ich glaube aber, dass wir uns mit unserer friedenspolitischen Verantwortung die Beurteilung von Obamas Politik nicht so leicht machen sollten, indem wir alle Fakten, die eine Kritik an Obamas Außen- und Sicherheitspolitik nahe legen könnten, selektiv aneinanderreihen. Selbst die gute Absicht, eine bessere Politik anzumahnen, rechtfertigt dieses Vorgehen nicht. Ich möchte etwas näher begründen, warum man Obamas bisherige Leistungen anders sehen und die Auszeichnung mit dem Friedensnobelpreis auch anders beurteilen kann. Dazu wäre es, gerade aus einer materialistischen Sichtweise heraus, m. E. geboten, ja zwingend, den Rahmen, in den Obamas Handeln eingebettet ist, in Betracht zu ziehen:
– Obama gewann die Wahl zum Präsidenten gegen eine mächtige Allianz von militärindustriellem Komplex, den Ölkonzernen und allen Kapitalfraktionen, denen kurzfristige Interessen mittels einer aggressiven Hegemonialpolitik der USA näher liegen als ein friedfertiges Amerika. Hinzu kommen die Israel-Lobby, das gesamte Lager der Neokonservativen/Republikaner, die christlichen Fundamentalisten und einflussreiche Massenmedien.
– Während des Wahlkampfes ließ Obama, gerade mit Hinblick auf die gewaltigen Barrieren, die auf ihn warteten, keine Gelegenheit aus, davor zu warnen, dass die Umsetzung seiner Visionen äußerst schwierig sein würde. Er machte sich darüber keine Illusionen, um dann doch zu begründen, dass die Barrieren besiegt werden könnten. Mit seinem Slogan „Yes we can“ wollte er zum Ausdruck bringen, dass ein „Change“ trotz gewaltiger Herausforderungen möglich ist und dass man auch das, was unmöglich erscheint, möglich machen kann. Obama hat damals keine populistischen Versprechungen gemacht, wie er auch heute seine Anhänger für die Verwirklichung seiner Zusagen gleichzeitig um Geduld bittet.
– Obama beerbte das Desaster der aggressiven Hegemonialpolitik der Neokonservativen, die glaubten, Amerikas Stellung in der Welt durch Kriege im Mittleren und Nahen Osten, im Irak, in Afghanistan und vielleicht auch im Iran, durch sogenannte samtene Revolutionen in Osteuropa, die von außen gesteuert wurden und die Aufstellung von weltraumgestützten Raketenabwehrsystemen wie bisher gegen den Rest der Welt halten und ausbauen zu können.
Mit Obamas Wahl sind aber, wie jeder eigentlich sehen kann, die mächtigen Gegnereines Politikwechsels, wie Obama ihn wollte, nicht plötzlich vom Erdboden verschwunden. Ganz im Gegenteil, sie alle rafften sich nach einer kurzen Atempause geradezu erst richtig auf und mobilisierten ihre Ressourcen, um Obama bei der schrittweisen Umsetzung seines Programms mit aller Macht, einschließlich der Mobilisierung rassistischer Ressentiments, Knüppel zwischen die Beine zu werfen,ihn in den Augen seiner Wähler und der Weltöffentlichkeit unglaubwürdig zu machen, letztlich auch scheitern zu lassen. Vor unseren Augen ist die Kampagne eines Bündnisses aller Obama-Gegner in vollem Gange, um sein erstes innenpolitisches
Projekt, nämlich die Gesundheitsreform, zu Fall zu bringen. Und es dürfte auch schwer sein abzuschätzen, ob es Obama gelingt, diesen ersten Kraftaktunbeschädigt zu überstehen.
Im Wissen, dass die Überwindung riesiger Lasten aus der Vergangenheit viele Verlierer hervorruft, die sich gegen ihn verbünden würden, entschied sich Obama ursprünglich für eine m. E. sehr kluge Strategie, eine gebündelte Allianzbildung auf der gegnerischen Seite durch gezielte Zugeständnisse an die eine oder andere Fraktion des gegnerischen Lagers zu durchkreuzen. Dazu gehörte m. E. die Ernennung von Robert Gates zum Verteidigungsminister als ein seinem eigenen Programm sogar nützlichem Zugeständnis an den militärindustriellen Komplex in den
USA. Des weiteren koppelte er das Folterverbot für CIA und Militärs mit der Straffreiheit für die Folterer, die im Irak und anderswo Verbrechen begangen hatten.
Dient Obamas behutsame Doppelstrategie dazu, sein Versprechen wahr zu machen und gleichzeitig die Aufgeregtheit der Opfer seiner Politik in der CIA, im Militärapparat und anderswo in Grenzen zu halten, denunzieren wir mit unserem „reinen“ Gewissen jedes – im historischen Kontext gesehen – noch so kleine Zugeständnis von Obama als einen unverzeihlichen Verrat. Dies gilt nicht nur für die oben genannten Beispiele, sondern auch für andere Entscheidungen Obamas wiedas Hinausschieben der Auflösung von Guantanamo ebenso wie für die Verzögerungen beim Rückzug aus dem Irak und die Fortsetzung des Krieges in Afghanistan. Auch die Tatsache, dass unter der Verantwortung Obamas nun ein Verteidigungsetat vorgelegt wurde, der der höchste in der US-Geschichte ist, lasten wir gern und ohne mit der Wimper zu zucken einfach Obamas Politik an, obgleich dieser Etat eher als Ergebnis der langfristig angelegten Rüstungsprogramme der Vorgängerregierung zu deuten ist, die Obama nur Schritt für Schritt rückgängig machen kann.
Ich halte Eure selektive Wahrnehmung von Fakten bei der Beurteilung der Politik Obamas, liebe Friedensfreunde, für nicht hilfreich, im Gegenteil sogar für kontraproduktiv. Ahistorische Analysen führten in der Geschichte immer zu
Fehleinschätzungen, auch zu schwerwiegenden Folgen für Emanzipation, Frieden und die Menschheit insgesamt. Beispielsweise hätte der deutsche Faschismus nicht zwangsläufig über die Welt hereinbrechen müssen. Die gegenseitig selektive Wahrnehmung und die ahistorische Betrachtung der jeweils anderen durch linke und liberal-konservative Parteien und Strömungen in den 1920er Jahren in Deutschland führte erheblich zur eigenen Schwächung eben dieser Kräfte und schließlich zum Sieg der Nationalsozialisten als lachende Dritte. Ich habe den Eindruck, dass viele von uns nicht bereit sind, aus der Geschichte zu lernen und bei der Beurteilung von politischen Entwicklungen und deren Subjekten lieber eigene Wünsche und idealistisch aus abgehobenen Prinzipien hergeleitete Forderungen fernab der realen Rahmenbedingungen zum einzigen Maßstab machen. Deshalb sind wir m. E. auch
im Begriff, die historische Chance, die mit der überraschenden Wahl von Obama in den USA für eine friedlichere Welt entstanden ist, leichtfertig aus der Hand zu geben.
Ich möchte nicht polemisieren und die aus dem deutschen Friedenslager sicherlich mit guter Absicht vorgetragene Kritik an Obama mit der massiven Propaganda-Schlacht aller reaktionären Kräfte in den USA und in der Welt gegen den USPräsidenten auf dieselbe Stufe stellen. Für Obamas Gegner in den USA sind inzwischen offensichtlich keine noch so dreisten Attacken mehr tabu. Sie beschimpfen ihn als Sozialisten und verunglimpfen ihn gleichzeitig auch als
Faschisten, von Aufrufen im Internet zu seiner Ermordung ganz zu schweigen.
Mich treibt jedenfalls sehr ernsthaft die Sorge um, dass auch bei der Bewältigung der gegenwärtigen globalen Herausforderungen erneut linke Ungeduld und rechte
Beharrungskräfte eine unheilige Allianz eingehen, die am Ende das Scheitern von Obama und den erneuten Sieg der Neokonservativen zur Folge haben könnte.
Möglicherweise trug Obamas eigene Ungeduld, alle innen- und außenpolitischen Projekte gleichzeitig und innerhalb von wenigen Monaten nach seiner Wahl zu starten, auch zur Bündelung der Kräfte gegen seine innen- und außenpolitischen Projekte bei, die er mit seiner Doppelstrategie eigentlich vermeiden wollte.
Tatsächlich steht Obama gegenwärtig mit dem Rücken zur Wand. Mit seiner Auszeichnung wollte das norwegische Komitee vermutlich Obama gerade jetzt den Rücken stärken. Lasst uns aber, liebe Freunde, aus unserer friedenspolitischen Verantwortung und ohne Scheuklappen genauer überprüfen, ob und warum diese Entscheidung nicht nur richtig, sondern von historischer Bedeutung ist. Bei einer
nüchternen Betrachtung braucht sich m. E. Obama mit seiner friedenspolitischen Bilanz nicht zu verstecken:
– In seiner historischen Rede in Kairo am 4. Juni hat Obama Huntingtons Krieg der Kulturen und damit der ideologischen Grundlage der aggressiven Hegemonialpolitik der USA den Kampf angesagt. Alle, die es verstehen wollten, haben Obamas Botschaft der Absage an die Vertiefung von
Gegensätzen und die Bereitschaft zur Kooperation verstanden. Vor allem die islamische Welt reagierte positiv auf Obamas Angebot. Indem er bei dieser Rede auch Iran das Angebot machte, ohne Vorbedingungen direkte
Gespräche wg. des aktuellen Atomkonflikts zu führen, stellte Obama unter Beweis, die Arroganz der Hegemonialmacht, die für die Vorgängerregierungen gegenüber Staaten der Dritten Welt selbstverständlich war, aufgeben zu wollen. Gleichzeitig versicherte er glaubwürdig, diplomatischen Lösungen von Konflikten höchste Priorität einzuräumen.
– In Prag verkündete Obama am 5. April seine Vision einer atomwaffenfreien Welt. Mit der gleichzeitig gemachten Feststellung, er selbst würde die Früchte dieser Vision wahrscheinlich nicht erleben, bewies er durch eine realistische Warnung vor Illusionen seine Glaubwürdigkeit. Doch blieb es hier, wie oft fälschlicherweise behauptet wird, nicht bei der bloßen Verkündung der Vision, sondern er stellte auch baldige Abrüstungsverhandlungen mit Russland und anderen Atommächten in Aussicht. Um diese Perspektive zu fundieren, unterbreitete er am 23. September im UN-Sicherheitsrat seinen Plan einer atomwaffenfreien Welt, der vom Sicherheitsrat als eine Resolution einstimmig
angenommen wurde. Diese Resolution kommt einer Selbstverpflichtung der USA und anderer Atomwaffenstaaten gleich, die nicht so ohne weiteres ad
acta gelegt werden kann und deshalb als Grundlage für spätere Verhandlungen angesehen werden müsste.
– Unmittelbar nach seiner Amtseinführung im Januar kündigte Obama die Überprüfung des neokonservativen Aufrüstungsprojekts eines Raketenschutzschildes in Tschechien und Polen an. Am 17. September stoppte er schließlich dieses Zukunftsprojekt, das der militärindustrielle
Komplex und die Neokonservativen unbedingt realisieren wollten. Obamas gegen den Rüstungssektor gerichtete Entscheidung verkündete kein geringerer als Robert Gates, eben der Verteidigungsminister der Bush-Regierung – aus meiner Sicht eine taktische Meisterleistung, die Obama mit
der von uns so geschmähten Berufung von Robert Gates offensichtlich gut vorbereitet hatte.
Ich bitte Euch, liebe Friedensfreunde, lasst uns gemeinsam zunächst einmal die Hintergründe dieses heimtückischen Projektes uns vor Augen führen. Die US-Rüstungsindustrie beabsichtigte mit diesem Projekt, für das nukleare Wettrüsten auch nach dem Ende des Kalten Krieges für weitere Jahrzehnte eine strategische Option zur Rüstungsexpansion sicherzustellen. Denn Russland hätte durch die Installierung der Raketenabwehrsysteme sicherheitspolitisch keine andere Wahl gehabt, als ein ähnliches System aufzustellen, was von der russischen Regierung tatsächlich und folgerichtig als Reaktion auch angekündigt worden war. Die Welt hätte – ganz im Sinne
der weltweiten Rüstungsindustrie – erneut einen Wettlauf um die Rüstungsarsenale zwischen den großen Atommächten und die Zerstörung von Ressourcen erleben müssen. Dieses Waffensystem sollte russische Reaktionen – übrigens wie bei der Nachrüstung Anfang der 1980er Jahre – geradezu provozieren. Damit wären auch Westeuropas Staaten erneut zur Zielscheibe der russischen Atomarsenale geworden, wären so die Kalte-Kriegs-Strukturen vollständig restauriert worden und schließlich wäre Westeuropa für weitere Jahrzehnte zur sicherheitspolitischen Geisel der USA
verdammt gewesen. Die Wiederbelebung der halben Leiche NATO wäre dann ein willkommenes Nebenprodukt, um die Entstehung einer gemeinsamen Sicherheitsarchitektur für die Staatenwelt auch in ferner Zukunft zu verhindern.
Kann man, liebe Friedensfreunde, angesichts dieser Bilanz, guten Gewissens Obamas friedenspolitische Schritte in nur neun Monaten Amtszeit als „wohl klingendeVersprechungen“ denunzieren, wie Ihr es in Eurer Stellungnahme tut? Sollten wir uns in der Friedensbewegung, sollte Europas politische Klasse sich nicht zunächst selbst an die eigene Nase fassen und fragen, welche friedenspolitische Bilanz von historischer Bedeutung wir und sie hier in Europa vorweisen, bevor wir so leichtfertig über die bisherigen Bilanzen von Obama herziehen? Als die neokonservative Vorgängerregierung Obamas, statt mittels Diplomatie die globalen Konflikte
einzudämmen, diese geradezu schürte und einen Krieg nach dem andern vom Zaun brach, zogen die meisten Regierungen Europas mit den US-Neokonservativen an einem Strang. Als dieselbe US-Regierung damit begann, das heimtückische Projekt des US-militärindustriellen Komplexes, eben die weltraumgestützten Raketenabwehrsystemen vor der Haustür Europas zu installieren, hat Europas politische Klasse geschwiegen und gierig danach geschaut, wie sie ein paar Krümel vom neuen Rüstungskuchen abbekommt. Indem sie den absurden Vorwand dieses Projektes, nämlich die Gefahr iranischer Raketen, auch noch propagandistisch übernahm, erklärte Europas Elite vollends ihren außenpolitischen Bankrott, ja sie offenbarte ihre Gesichts- und Identitätslosigkeit. Und als Obama dieses Projekt stoppte, begnügte sich dieselbe gesichtslose Elite Europas mit einer leisen Zustimmung. Mir ist allerdings auch weder eine entschlossene Ablehnung desselben Projektes durch die deutsche und europäische Friedensbewegung bekannt noch
dass diese nach der Bekanntgabe von Obamas Stornierung dieses Projekts in Jubel ausbrach.
In Wirklichkeit aber bewahrte Obama mit seiner Entscheidung die USA, Russland und die ganze Menschheit vor einem neuen Desaster. Diese Tat als bloßes
Lippenbekenntnis klein zu reden, ist m. E. kleinlich und sicherlich auch ungerecht.
Tatsächlich ist diese Entscheidung Obamas eine herausragende friedenspolitische Leistung, die eine vollendete Handlung darstellt und daher für sich genommen allein
schon den Friedensnobelpreis rechtfertigt. Auch sein Zugeständnis, durch seegestützte Raketenabwehrsysteme im Mittelmeer anstelle der landgestützten Systeme an den Grenzen Russlands diente eher dazu, dem US-Rüstungssektor den Wind aus den Segeln zu nehmen. Denn mögliche iranische Raketen könne man – so
Obamas Begründung – billiger und wirkungsvoller mit seegestützten Abwehrsystemen bekämpfen. Dieses Zugeständnis – sollte es je in die Tat umgesetzt werden – ist sicherlich der Preis, den Obama zur Verhinderung jenes
gigantischen Projektes für den neuen Rüstungswettlauf hat bezahlen müssen.
Nichtsdestotrotz nehmt Ihr, liebe Freunde, Obamas Kompromiss, der hinsichtlich seiner Folgen für den Rüstungswettlauf mitnichten mit den Folgen der gestoppten
Alternative vergleichbar wäre, zum Anlass, um nicht nur seine Leistung für nichtig zu erklären, sondern auch wider besseren Wissens zu behaupten, Obama verfolge weiterhin den alten Anspruch der USA zu „Planungen einer umfassenden see- und landgestützten Raketenabwehr in und um Europa“. Die russische Regierung hat offensichtlich Obamas Entscheidung besser begriffen als viele von uns. Sie stornierte einen Tag nach Bekanntgabe dieser Entscheidung das russische Gegenprojekt, das in Kaliningrad aufgestellt werden sollte.
FAZIT: Das Komitee für den Friedensnobelpreis begründet die Auszeichnung Obamas mit dessen „Bemühungen zur Stärkung der internationalen Diplomatie“. In den Medien wurde sein „Einsatz für Völkerverständigung“ gewürdigt und die Auszeichnung mit dem Friedensnobelpreis nicht für seine bisherigen Leistungen, sondern lediglich als Vorschuss und Verpflichtung für die Zukunft interpretiert. Ganz in diesem Lichte setzte die Frankfurter Rundschau Obama auf der Titelseite ihrer Ausgabe vom 10./11. Oktober einen Lorbeerkranz auf den Kopf. Ich aber bin der Meinung, dass Obama schon jetzt auch beträchtliche Erfolge vorweisen kann. Er setzte der aggressiven Atmosphäre in der Weltpolitik, die frühere US-Regierungen – nicht nur aus dem Lager der Republikaner – in den letzten Dekaden systematisch geschürt hatten, ein Ende und schaffte den Anfang für ein weltpolitisches Klima der Hoffnung zur Bewältigung von globalen Herausforderungen. Obama stoppte an einem neuralgischen Punkt den Beginn eines neuen Wettrüstens und leitete nach langer Pause in den Ost-West-Abrüstungsverhandlungen die Voraussetzungen für neue Abrüstungsinitiativen ein.
Richtig bleibt allerdings die Feststellung, dass die bisher durch Obama eingeleiteten kleinen Schritte zur Veränderung der Welt – Anlass für viele Enttäuschungen – weit hinter den Möglichkeiten zurück geblieben sind. Mir liegt fern – dies möchte ich hier vorbeugend besonders herausstellen – Obama zu idealisieren und für unfehlbar zu erklären. Vielmehr geht es mir darum hervorzuheben, dass die vollständige Ausschöpfung aller Möglichkeiten eine Herausforderung für alle Friedenskräfte in der Welt ist. Obama wird nie und nimmer allein dazu in der Lage sein. Es ist schon im Ansatz eine grandiose Illusion, alle unsere Erwartungen auf eine Person – selbst wenn diese der Präsident des mächtigsten Staates der Welt ist – zu projizieren.
Solche idealistischen Vorstellungen erklären m. E. auch die kuriose Haltung, diese eine Person dafür verantwortlich zu machen, dass die eigenen Erwartungen nicht in Erfüllung gehen.
Die gigantischen Aufgaben – wie umfassende nukleare Abrüstung, Umleitung der frei gewordenen Ressourcen für die Bewältigung des Hungers in der Welt und die Verhinderung des Klimawandels, die Bemühungen zur Lösung des Nahostkonflikts, zur Verhinderung der Weiterverbreitung von Atomwaffen, zur Schaffung regionaler
Sicherheits- und Kooperationsstrukturen im Mittleren und Nahen Osten, in Lateinamerika, in den asiatischen Regionen und in Afrika – alle diese Aufgaben können nur das Werk vieler Staaten, gesellschaftlicher Gruppen und globaler
Netzwerke sein. Obama hat für diese Perspektive bereits den Stein ins Rollen gebracht. Andere müssen jetzt folgen, damit aus all dem eine unumkehrbare Dynamik entsteht. Beispielsweise könnten Europas Atomwaffenstaaten selbst mit der Abrüstung eigener nuklearer Arsenale beginnen. Und wir aus der Friedensbewegung müssten durch eigene Kampagnen zur atomaren Abrüstung in Europa die
Regierungen dazu drängen und darüber hinaus auch zivilgesellschaftliche Initiativen – beispielsweise die deutsche Initiative für eine zivilgesellschaftliche Konferenz für
Sicherheit und Zusammenarbeit im Mittleren und Nahen Osten (KSZMNO) – stärken und selbstverständlich uns auch weiterhin für den Abzug der Truppen aus Afghanistan einsetzen. Dabei sollten wir ehrlicherweise allerdings in Rechnung stellen, dass ein geordneter Abzug aus Afghanistan wohl überlegt sein muss. Er darf jedenfalls nicht das Chaos hinterlassen, das die Neokonservativen und die Nato mit
ihrem Krieg erst hervorgerufen haben. Sinnvoll erscheint m. E., den Truppenabzug an eine neue nationale Regierung in Afghanistan unter Beteiligung der Taliban zu koppeln und deren Pluralismus für die nahe Zukunft zu sichern. Aus all dem, was man zwischen den Zeilen liest, bemüht sich Obamas Mannschaft hinter den Kulissen anscheinend um genau diese Art von Exit-Strategie.
Die Rückmeldungen auf diesen Offenen Brief werde ich gern auf meine website stellen (www.m-massarrat.com – Debatten, Krieg und Frieden -)

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