Der non-konforme Katholik

Hans-Rüdiger Schwab (Hg.), Eigensinn und Bindung, Katholische deutsche Intellektuelle im 20. Jahrhundert, 39 Porträts, Butzon & Bercker, Kevelaer 2009, ISBN 978-3-7666-1315-6, Preis, 59,90 Euro

Wie tiefgreifend das katholische Bildungsniveau die allgemeine Geisteslage in den Anfängen des 20. Jahrhunderts bereicherte, zeigt eine neue Publikation aus dem Haus Butzon & Bercker, denn die Faszinationskraft des Katholischen strahlte auf fast alle kulturellen Bereiche aus, vitalisierte und mobilisierte insbesondere deutsche Intellektuelle, die vom christlichen Esprit geprägt, nicht nur gegen die säkularisierte Moderne aufbegehrten, sondern sich als Intellektuelle in eine kirchliche Tradition zu stellen suchten, ohne sich dem apologetischen Geist derselben anzubequemen.
„Eigensinn und Bindung“ versammelt die unterschiedlichsten deutschen Intellektuellenporträts, gibt tiefere Einblicke in die Zeitgeschichte, analysiert das historische Umfeld der jeweiligen Personen, ohne das je individuelle Persönlichkeitsprofil auf sein reines Katholischsein zu verkürzen.
Katholische Intellektuelle, so zumindest zeichnet es der Herausgeber Hans-Rüdiger Schwab nach, sind ihrem Wesen nach Oppositionelle, Querdenker und Grenzgänger, nur bedingt Angepaßte, die immer wieder mit der Wahrheit ringen, um letztendlich den inneren Dissens zwischen traditioneller Lehre und „Eigensinn“ emotional zu durchleben; sie bleiben schicksalhaft Wanderer zwischen den Welten. Bindung an das katholische Milieu einerseits, intellektuelle Sprengkraft durch die eigene Ratio andererseits – sie sind die beiden Pole, zwischen denen sich der Intellektuelle ausspannt, sie sein produktives Gewissen, seine Wegmarkierungen.
Daß der katholische Intellektuelle seinem Wesen nach als der Non-Konforme erscheint, mag auf den ersten Blick überraschen, zeigt aber wie sehr die im Buch vorgestellten Persönlichkeiten immer wieder auf Konfrontation mit ihrer Kirche gegangen sind, ein Weg, der ihre Sonderstellung innerhalb der Geschichte der Kirche markiert, aber auch verdeutlicht, daß die Kirche in und durch die Konfrontation mit ihnen gelernt hat.
Deutlich wird dabei auch, daß die katholische Kirche keineswegs ihre Bürger entmündigt, wenngleich sie es den Intellektuellen oft schwer macht, nicht mit der Institution zu hadern. Der katholisch deutsche Intellektuelle, und dies zeigen die vorgestellten Profile in aller Deutlichkeit, steht letztendlich für die Wandlungsfähigkeit der Kirche selbst. Die Pluralität der Meinungen führt schließlich auch in der Kirche zu einer differenzierteren Sicht auf die Problemlagen. Anders gesagt: Kirchliche Intellektuelle sprechen keineswegs univok, sind nicht die Anwälte der einen Vernunft, sondern ihre Opposition ist Ausdruck ihres verantwortlichen und gewissentlichen Eigensinns, der den traditionellen Wertekanon als verbindlich anerkennt, diesen aber immer wieder auf seine Zeitgemäßheit konkretisiert und hinterfragt.
So zeigen die 39 Porträts, daß es neben der objektiven Deutungshoheit der Kirche Persönlichkeiten gab und gibt, die sich der Tradition dann verweigern, wenn sich diese auf ihre Autorität hin reduziert. Katholisch bedeutet, und darauf weist Schwab mit Karl Kardinal Lehmann hin, „anverwandlungsoffen“ zu sein, auch auf die Gefahr hin, dem Schatz der Tradition zu widersprechen. Gerade diese Offenheit des katholischen Intellektuellen, verbunden mit der Ambivalenz oder der Bi-Dimensionalität seines Wesens, birgt keine Gefahr für die Institution, sonder sichert dieser ihre aktualitätsgebundene Wirkkraft. Die hohe Integrationskraft des katholisch geprägten Intellektuellen vermag daher jene Offenheit des innerreligiösen Diskurses hervorzurufen, dem eine differenzierte Dialektik innewohnt, die die Freiheit des Gewissens mit der Verbindlichkeit von Normen und Werten miteinander verbindet, was letztendlich nichts anderes heißt, als daß sich Eigensinn und Bindung in ein wechselseitiges Anerkennungsverhältnis stellen.
Kurzum: Der Sammelband sei all jenen empfohlen, die sich nicht nur für Persönlichkeiten wie Gertrud von le Fort, Luise Rinser, Reinhold Schneider, Robert Spaemann, Edith Stein, Josef Pieper, Max Scheler, Heinrich Böll, Carl Schmitt, Martin Mosebach u.a. interessieren, sondern dient darüber hinaus als ein breitgefächertes Nachschlagewerk der geistig-geistlichen Elite im 20. Jahrhundert. Ohne vom Herausgeber beabsichtigt, hat „Eigensinn und Bindung“ die große Chance zu einem Standardwerk zu werden, das auch von der Unangepaßtheit katholischer Intellektueller berichtet, aber auch über ihre tiefe religiöse Sehnsucht und dem darin verankerten Humanum.

Über Stefan Groß-Lobkowicz 2157 Artikel
Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".

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