Was machen Sie, wenn – was ja vorkommen soll – eine Predigt Sie langweilt oder gar nervt? Ich nehme dann das Gesangbuch zur Hand und lese im hinteren Teil, etwa über die Dichter und Komponisten unserer Lieder. Man erfährt in diesem Teil unseres Gesangbuches vieles – mitunter auch Kurioses. So las ich Ende der siebziger Jahre, damals in einer bayerischen Kirche sitzend, Hartmann Schenck, der Dichter des Liedes „Unsern Ausgang segne Gott“, sei 1681 – ungelogen! – in Ostberlin gestorben; es hätte natürlich heißen müssen: in Ostheim, jenem Ort vor der Rhön, aus dem heute die Bionade kommt. Da hatte der Setzer offenbar ebenso wenig aufgepasst wie mancher Predigthörer.
Aber im Ernst – und dreißig Jahre später – wende ich mich jetzt in einem solchen Fall mehr den im Gesangbuch abgedruckten Bekenntnisschriften zu. Martin Luthers „Kleiner Katechismus“, das Augsburger Bekenntnis – man wird nicht dümmer durch wiederholte Lektüre. Aus der „Leuenberger Konkordie“ von 1973 wird der kirchliche „Fußgänger“ wahrscheinlich immer noch nicht recht gescheit; oder doch nur unter Aufbietung eines erheblichen kirchengeschichtlichen Vorwissens. Besonders lieb aber ist mir immer wieder die Theologische Erklärung der Bekenntnissynode von Barmen aus dem Jahr 1934: Sechs Thesen zur Verteidigung des christlichen Glaubens und der Kirche gegen den totalitären Staat, jeweils mit einer festen Formel endend: „Wir verwerfen die falsche Lehre…“ Den Entwurf hatten übrigens der Schweizer Karl Barth, seit 1930 Theologieprofessor in Bonn, sowie der von seiner staatsnahen Landeskirche aus dem Dienst entfernte Altonaer Pastor Hans Asmussen und der bayerische Oberkirchenrat Thomas Breit geschrieben.
Lieb ist mir die Barmer Erklärung schon deshalb, weil aus deren Text der herrliche Sprachduktus des Altmeisters Barth herausklingt – wenn der predigen würde, müsste ich jetzt nicht zur Unzeit zum Gesangbuch greifen. Und dennoch – oder gerade deshalb – wird diese Erklärung von einem Teil des deutschen Protestantismus immer noch mit diskret gespitzten Fingern angefasst.
Das war mir erstmals vor zwölf Jahren ganz anschaulich geworden, als im Gottesdienst zur Einführung der eben gewählten Ratsmitglieder der EKD die „Neuen“ sich auf einige herkömmliche Bekenntnisschriften verpflichten mussten – die Barmer Erklärung sollten sie nur „anerkennen“. Doch jeder Christenmensch kann im Gesangbuch die Anerkennung, aber eben auch die Vorbehalte nachlesen. So heißt es in meiner norddeutschen Ausgabe: „Alle Kirchen, die dies Gesangbuch haben, sehen in der Barmer Theologischen Erklärung ein wichtiges theologisches Dokument aus der Zeit des Kirchenkampfes. Ganz überwiegend betrachten sie die Barmer Erklärung als wegweisendes Lehr- und Glaubenszeugnis der Kirche im 20. Jahrhundert. Nicht wenige messen ihr darüber hinaus verpflichtende Bedeutung bei, einige rechnen sie zu ihren Bekenntnisgrundlagen (Evangelisch-reformierte Kirche, Evangelische Kirche der Union).“
Die bayerischen Gottesdienstbesucher hingegen lesen in ihrem Gesangbuch: „Die Barmer Theologische Erklärung ist eines der wenigen Zeugnisse des kirchlichen Widerstandes im Dritten Reich. Als kirchliches Lehrzeugnis, zum Teil auch als Bekenntnisschrift, hat sie in den lutherischen, reformierten und unierten Landeskirchen unterschiedlich große Bedeutung.“ Damit sind wir aber schon mitten im zeitgeschichtlichen Thema – und im kirchlichen Dilemma: Wir deutschen Protestanten trösten uns alle mit der berühmten „Bekenntnissynode“ von Barmen über das übrige kirchliche Versagen im Dritten Reich hinweg, aber auch heute sind wir so wenig wie damals in der Lage, den einzigen – und einzigartigen – Text, den diese Bekenntnissynode hervorgebracht hat, in voller Gemeinsamkeit als Bekenntnis verpflichtend anzunehmen.
Gewiss, mit einiger Nachsicht kann man dafür trockene Erklärungen liefern. Das fängt schon mit der ersten Barmer These an: „Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören haben…“ – „Halt“, riefen da die Lutheraner, „es muss doch heißen: Gesetz und Evangelium!“ (Ist Gottes Wort an uns etwa zweideutig? War es erst recht in der Konfrontation mit Hitlers Macht und Ideologie, mit der Hingabe der Deutschen, auch der NSDAP-nahen „Glaubensbewegung Deutsche Christen“, an den „Führer“ etwa zweideutig gewesen?)
Es handelt sich bei der Barmer Theologischen Erklärung in der Tat um eines der wenigen Zeugnisse des kirchlichen Widerstandes im Dritten Reich; aber gerade die Geschichte dieser Erklärung lässt erkennen, wie im tiefen Kern uneinig selbst der kirchliche Widerstand gewesen war. Und selbst wenn man aus heutiger Sicht rückblickend Verständnis dafür aufbringt, dass die verschiedenen protestantischen Konfessionen in Deutschland damals noch nicht so weit waren und dass sie trotz der großen Herausforderung durch Hitlers Terrorregime ihre Vorbehalte untereinander weiter pflegen wollten (was waren das für merkwürdige Prioritäten?) – so wirken diese Vorbehalte zwischen den obrigkeitsnahen, ja staatsfrommen Lutheranern und den eher republikanisch gestimmten, bürgernahen Reformierten – und mittendrin den Unierten – ziemlich abgestanden; auch in der ausgedorrten Form, in der sie heute noch nachwirken, obwohl sie dem Fußgänger unter den Christen nicht mehr zu vermitteln sind.
Gegenüber der merkwürdig generalisierenden und unkonkreten „Stuttgarter Schulderklärung“ von 1945 war die Barmer Erklärung von 1934 ein kristallklares Musterstück theologischer Eindeutigkeit – nur dass eben nicht alle deutschen Protestanten sich deren Aussagen ebenso eindeutig zu eigen gemacht haben. Aber vielleicht teilt die Kirche hierin das Schicksal der ganzen Welt. Wie oft wird erst unser Reden und schließlich unser Denken dadurch verwässert, dass wir möglichst viele unter einen Hut bringen und bei möglichst wenigen anecken wollen? Und wie oft wir vor allem Angst haben! Sollten auch wir eines Tages einmal mit den Worten der „Stuttgarter Schulderklärung“ zu spät und zu schwach sagen müssen: „Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben“? Es war übrigens Dietrich Bonhoeffer gewesen, der schon in einem Brief aus dem Jahr 1934, fünf Monate nach „Barmen“, die kunstvollen theologischen Kulissenschiebereien angesichts des brutalen Machtstaates auf die wenigen Worte zusammenstrich: „…es ist ja doch alles nur Angst.“
Heute – und freilich im Schutz geschonter Verhältnisse – lobe und liebe ich die Barmer Theologische Erklärung eben um ihrer Eindeutigkeit willen: „Wir verwerfen die falsche Lehre, als dürfe die Kirche die Gestalt ihrer Botschaft und ihrer Ordnung ihrem Belieben oder dem Wechsel der jeweils herrschenden weltanschaulichen und politischen Überzeugungen überlassen.“ – „Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne die Kirche in menschlicher Selbstherrlichkeit das Wort und Werk des Herrn in den Dienst irgendwelcher eigenmächtig gewählter Wünsche, Zwecke und Pläne stellen.“ Sätze wie dieser zeugen von wahrhaft bekennerhaftem Mut gegenüber einer Diktatur. Für uns nur ehrwürdige Sätze aus dem kirchengeschichtlichen Archiv? Ich fürchte, wir hätten gemeinsam allen Anlass zu prüfen, wo wir – im Westen unseres Nachkriegsdeutschlands mitunter bereitwilliger, ja geradezu freiwillig – der Verführung erlegen sind, unsere eigenen politischen Optionen und Parteilichkeiten unkritisch zur Richtschnur unseres kirchlichen Redens und Handelns zu machen.
Ich will mich von solchen Rückfragen keineswegs ausnehmen – und vielleicht können wir einfach froh sein, dass unsere Fehler rein umständehalber weniger fatale Wirkungen hatten als die der Deutschen Christen. Aber die törichte, als Frage nur verkleidete Forderung „Müssen Christen Sozialisten sein?“ hatte ich für mich doch wenigstens mit der Gegenfrage beantwortet: „Müssten Sozialisten nicht zuerst Christen werden?“ (Wenn sie dann noch Sozialisten bleiben…) Unsere Geschwister in und aus der DDR hatten zunächst unter sich zu diskutieren (und immerhin diskutiert), ob die Formel „Kirche im Sozialismus“ wirklich mehr sein durfte als eine Ortsangabe.
Die Barmer Theologische Erklärung kann und muss uns auch heute und morgen als Prüfstein herausfordern – und deshalb auch als ein echtes Bekenntnis fordern. Sie steht ja in jedem Gesangbuch. Und man sollte sie immer wieder studieren, nicht nur, wenn im Gottesdienst, was ja vorkommen soll, die Spannung nachlässt.
Robert Leicht, früher Chefredakteur der „Zeit“ und Mitglied des Rates der EvangelischenKirche in Deutschland, ist Präsident der Evangelischen Akademie zu Berlin
©-Vermerk: www.chrismon.de
Kommentar hinterlassen
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.