Juedischer Armleuchter, Foto: Stefan Groß

Über Auschwitz zu reden – erst recht am 27. Januar, am global gemeinten, aber primär national begangenen Gedenktag -, überfordert das Vorstellungs- und Ausdrucksvermögen fast aller Zeitgenossen. Wem in Momenten des Eingedenkens die Bilder des Grauens vor Augen erscheinen, den überfällt atemstockend entsetztes Schweigen. Jedes Reden droht in hilflose Formeln, in Banalität, abzugleiten. Erinnert sei an die peinlich hochmütige Phrase des amtierenden deutschen Außenministers, er sei „wegen Auschwitz in die Politik gegangen“.

Angemessene, eindrückliche Worte zum Gedenktag fand der frühere „Welt“-Redakteur Thomas Schmid. Unter Bezug auf die auch von besagtem Politiker verbreitete billige Parole schreibt er: „„Nazis raus!“ ist ein gedankenloser, selbstgefälliger und dummer Spruch, der die Verbrechen auf ungeheuerliche Weise verharmlost, die während der Zeit des Nationalsozialismus von Deutschen begangen wurden. Und die Opfer, die ermordeten wie die, die überlebten, verhöhnt.“ Er schließt seine Reflexionen, in denen er an Carlo Levi und Jean Améry – verzweifelt am Erlebten und leidend an der Indifferenz  vieler Nachkriegsdeutscher suchten sie den Freitod – erinnert, mit folgenden Sätzen: „Weil diese [Schuld] unwiderruflich in die Welt der existierenden Dinge eingebracht ist, geht sie auch die Nachgeborenen an. Man kann sich dessen weder mit guter Gesinnung noch durch laute Parolen entledigen. Der 27. Januar sollte kein Anlass sein, im Heute die Umrisse der nationalsozialistischen Vergangenheit zu erkennen. Er könnte vielmehr Anlass sein, der Verlorenheit der Opfer, der geretteten und der untergegangenen, zu gedenken.“ (http://schmid.welt.de/2019/01/25/der-tiefste-punkt-des-abgrunds-zum-holocaust-gedenktag-am-27-januar/?fbclid=IwAR3urnX5ULAmzh0eCcLndKm0B6E-yvIEC7prXSkItxSQNcVtZUWqrJrYcvE )

II.
Der 27. Januar  wurde erstmals anno 1996 von dem Bundespräsidenten Roman Herzog als deutscher Gedenktag proklamiert. 2005  erklärten die Vereinten Nationen das Datum der Befreiung von Auschwitz zum „Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust“.  Ungeachtet der als universale Menschheitspflicht intendierten UN-Proklamation betrifft das Gedenken zuvörderst die Deutschen als Geschichtsnation sowie – in anderer Weise – die kollektive Erinnerung von Juden und anderer Opfergruppen. Die Vorstellung oder Anmutung, alle Völker oder Staatsnationen könnten sich geistig in einem gemeinsamen Gedenk- und Trauerakt zusammenfinden, liegt fern aller empirischen Wirklichkeit. Die rituelle Beschwörung der in den Todesfabriken von Auschwitz (und an anderen Schreckensorten) vollzogenen Apokalypse zielt  am Bewusstsein der meisten Menschen – selbst in der noch christlich grundierten Kultur des Westens –  vorbei.

So schmerzlich wie unabweisbar wird – selbst innerhalb der geschichtskundigen Fachwelt – der historische Ort „Auschwitz“ mit „den Deutschen“, mit „Deutschland“, kaum je mit der hohen Zahl von die Nazi-Verbrechen exekutierenden Deutschen (ohne bestimmten Artikel) assoziiert. Nicht zufällig gehört „Auschwitz“, das  Gedenken an den Nazismus, an die Millionen Opfer des NS-Verbrechenssystems, zur politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland. Das Gedenken mag an alle Bewohner des Landes gerichtet sein, es betrifft indes faktisch nur die „ethnischen“ Deutschen – inklusive der durch familiäre Verbindungen und/oder der im kulturellen Sinne bewusst als „Deutsche“ integrierten Einwanderer.

Gehört das für  „uns Deutsche“ verpflichtende  Gedenken an die Nazi-Verbrechen – nicht nur am 27. Januar  – zur politischen Kultur Deutschlands, so impliziert ein solches Gedenken einen im weitesten Sinne ethnisch grundierten,  historisch-kulturell definierten Begriff von „Nation“. Selbst das – nicht allein laut Urteil des Verfassunggerichts als Gegenentwurf zum NS-Staat geschaffene – Grundgesetz verweist auf den historisch-kulturellen Charakter unserer Verfassung. Inwieweit die anhaltende Einwanderung den Charakter des Landes grundlegend verändert (hat) und letzten Endes die mit „Auschwitz“ – der grüne Außenminister Joschka Fischer sprach ehedem von „Auschwitz“ als  „Gründungsmythos“  der Bundesrepublik –  assoziierten Geschichtsbezüge obsolet macht, steht auf einem anderen Blatt.

Allein aufgrund des – unvermeidlich „negativen“ – Bezugs auf die deutsche Geschichte besteht mithin ein „ethnisch-kulturelles“ Selbstverständnis der Deutschen als historisch-politisches Subjekt – als „Nation“ oder „Volk“ – fort. Andernfalls müsste (oder könnte) sich das Land, d.h. seine Bewohner und/oder die Bevölkerung, seiner  belastenden historischen Erinnerung entledigen. Natürlich lässt sich in abstracto eine Republik als Zweckverband, gegründet auf – universale Menschen- und staatlich begrenzte (!) Bürgerrechte – denken. Diese in der politischen Theorie seit der Aufklärung beliebte Denkfigur ignoriert indes die historisch-empirische Wirklichkeit. Die USA enstanden in einem sehr konkreten Konflikt mit der britischen Krone, die Französische Revolution fand unter einer spezifischen Konstellation der französischen Geschichte statt,  das Grundgesetz wurde vom „Deutschen Volk“ (Präambel) im Kontext des Ost-West-Konfliktes mit Blick auf Weimar und das NS-Regime beschlossen.

III.
An „Auschwitz“ führt keine Betrachtung der deutschen Geschichte – und Gegenwart – vorbei. Daraus abzuleiten, dass das Grundgesetz – in den „post-nationalen“ Diskursen werden stets nur Art. 1 GG („Die Würde des Menschen ist unantastbar“) sowie die Grundrechte als Verfassungsfundament angeführt – den Bezug auf ein „ethnisch-kulturelles“ Staatsverständnis grundsätzlich ausschließe, ist nicht nur aufgrund seiner Entstehungsgeschichte falsch, sondern steht im logischen Widerspruch zur Pflege des historischen Gedenkens, id est zur „ethnisch-kulturell“ fundierten Erinnerungskultur der Bundesrepublik.

Der skizzierte grundlegende Widerspruch – historisches Gedenken in einer als „post-national“ und multikulturell, auf „diversity“ gegründeten Gesellschaft – wird in den kommenden Jahren mutmaßlich noch deutlicher  hervortreten. Er ist typisch für den derzeitigen Umgang mit der AfD. (Um Mißverständnisse auszuschließen: Das Dritte Reich war kein „Mückenschiss“, die Auslassungen eines Bernd Höcke  sind mehr als peinlich,  die eines Jens Maier unerträglich.) Wenn die AfD – unter Verweis auf  gewisse Tendenzen in deren Gliederungen und Umfeld – vom – nicht zufällig – neu ernannten Chef des Verfassungsschutzes zum „Prüffall“ erhoben wird, so unterstellt man der ungeliebten Partei einen „verfassungsfremden“ – in der Konsequenz „verfassungsfeindlichen“ – „ethnisch-kulturellen“ Volks- und Staatsbegriff, während man implizit mit der deutschen Nationalgeschichte operiert. Mit  simplifizierenden Antithesen, mit fragwürdigen Definitionen von „richtigem“ Staatsverständnis, rückt man den „Prüffall“ ins Zwielicht, um ihn politisch zu erledigen.

Ein Staat, der seine Gedenkkultur auf seine bittere Geschichte stützt, aber den historisch fundierten Begriff der „deutschen“ Nation für das Staatsvolk außer Kraft setzt, manifestiert sein gespaltenes Bewusstsein. Das Gedenken an das von Deutschen verübte Grauen verkommt zum Versatzstück der geschichtsreduktionistischen, anationalen Staatsideologie. Die Erschütterung von Menschen wird zum Instrument  eines parteipolitisch inspirierten Präventivverfahrens.  

Quelle: Herbert Ammon

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Herbert Ammon (Studienrat a.D.) ist Historiker und Publizist. Bis 2003 lehrte er Geschichte und Soziologie am Studienkolleg für ausländische Studierende der FU Berlin. Seine Publikationen erscheinen hauptsächlich auf GlobKult (dort auch sein Blog https://herbert-ammon.blogspot.com/), auf Die Achse des Guten sowie Tichys Einblick.