Von der Wissens- zur Spaßgesellschaft – so kann man kurz das mit der 68er-Bewegung über Deutschland hereingebrochene Unglück beschreiben.
Trotz (oder wegen) Wikipedia und den vielen anderen elektronischen Möglichkeiten nehme ich gerne immer noch den guten alten „Volks-Brockhaus“ in die Hand. Das war die einbändige Fassung der großen Brockhaus-Enzyklopädie, eines legendären vielbändigen Giganten an seriösem Wissen. Einbändig bedeutete die knappe Vermittlung jenes „Wissensbestands, der in Schule und Alltag zum nötigen Rüstzeug“ gehören sollte, wie im Vorwort festgestellt wurde.
Wie haben die Zeiten sich geändert! Und nicht zum Guten. Dass sowohl die Enzyklopädie als auch der „Volks-Brockhaus“ als Bücher längst eingestellt sind, ist angesichts der Digitalisierung klar. Gerade solche Texte schreien geradezu nach räumlicher Komprimierung, denn bei der bloßen Wissensvermittlung spielen haptische und künstlerische Ansprüche sicherlich eine kleinere Rolle als bei Literatur oder Museumskatalogen. (Heute wäre allerdings schon der Name des Lexikons unmöglich, da ein deutsches „Volk“ heute lediglich ein Konstrukt sein soll.)
Rein mengenmäßig hat sich das Wissenswerte sogar vermehrt. Aber es ist beliebig und unstrukturiert geworden. Seit mehreren Hundert Jahren schon kann ein einzelner Mensch das Wissen seiner Zeit nicht mehr überblicken, doch gab es mit guten Schulen, die noch Wissen statt Kompetenz vermittelt haben, und besagten Standardwerken, deren Inhalt von etablierten Fachkommissionen erstellt wurde, die Möglichkeit, sich wenigstens das anzueignen, was man eine solide „Allgemeinbildung“ nannte.
Vorbei. Es wird behauptet, dass eine solche Bildung in der heutigen „globalisierten“ Welt nicht mehr nötig sei, aber die Alarmmeldungen aus den Schulen und Universitäten sind nicht mehr zu überhören. Doch nicht Bologna und Pisa sollen mein Thema sein, sondern der „Geist“, der dieser Entwicklung schon lange zugrundeliegt. Es handelt sich um den Ungeist der Infantilisierung.
Schauen wir auf den Einband des Volks-Brockhaus von 1965. Deutschland prosperierte noch unter einer von Ludwig Ehrhard geführten Regierung, aber das Wirtschaftswunder näherte sich dem Ende, was im Jahr darauf zur ersten Großen Koalition führte.
Wir sehen ein „klassisches“ Design, das Seriosität ausstrahlt. Den Deckel ziert das Emblem des Verlages, der Greif, der das Schild mit den Verleger-Initialen und dem Jahr der Verlagsgründung hält: ein historischer Bezug. Sonst ist auf dem einfarbig blauen Einbanddeckel nichts zu sehen. Der Buchrücken deutet ebenfalls nach klassischem Muster mit vergoldeten Querstreifen fünf Bünde an; oben steht der Titel (Der Volks-Brockhaus), unten nur A-Z. Das ist alles. Wer dieses Buch zur Hand nimmt, soll wissen, dass es solides, geprüftes, verbindliches, gewissermaßen sakrales Wissen enthält. Eine gewisse Ehrfurcht wird vermittelt vor dem, was Generationen an Riesen erarbeitet haben, auf deren Schultern wir Zwerge sitzen. Ein Buch für Erwachsene und solche, die es werden wollen.
Wenden wir uns nun dem „Volks-Brockhaus“ von 1972 zu. Wir wissen: Es ist das Jahr der Olympiade mit ihrem popkulturellen Design. Ein frischer Wind weht durch Deutschland, der aber (schon damals) von arabischen Terroristen sogleich vergiftet wird. Die sozialliberale Koalition unter Willy Brandt behauptet, mehr Demokratie zu wagen, beginnt aber mit dem sozialistischen Umbau der BRD.
Das Cover ist zeitgeistig „buntig“ geworden. Der Titel füllt in grellgelber Schrift auf signalrotem Grund fast die gesamte Fläche aus, als ob die potentiellen Leser leseschwach geworden seien. Die platte Werbung hat diesen Hort des Wissens erfasst: Es wird in schwarzer Schrift mit der Neuheit und der Anzahl der Stichworte geprahlt. Die „leichte Sprache“ deutet sich schon an: A-Z genügt nicht, es muss „von A bis Z“ heißen. Auf dem Buchrücken finden sich keine besonderen graphischen Elemente; oben steht der Titel, unten der Verlagsname und -ort.
Es ist sofort klar, was hier geschehen ist: Wissen ist kein aus sich heraus anzustrebendes hehres Ziel, sondern soll „Spaß“ machen, weil man ansonsten „keine Lust“ auf Lesen hat. Die Buntheit des Einbands vermittelt eine Infantilität, der die „Jugendkultur“ mit ihrem häufig gleichfalls infantilen Freiheitsbegriff entsprach. Man kann natürlich auch positiv sagen, dass das Ganze poppig und jung geworden ist, aber im Vergleich mit der früheren „Seriosität“, die ja sachbezogen und grundsätzlich altersunabhängig ist, scheint hier ein ideologisches Moment die Oberhand ergriffen zu haben: Was nicht „passt“, soll weg. Die Kulturrevolution klopft an.
Dabei ist der Inhalt des „Volks-Brockhaus“ großenteils natürlich ähnlich seriös geblieben; neben aktuellen Stichworten kamen Farbbilder vermehrt hinzu. (Die Auflage von 1978 war dann komplett farbig illustriert.) Der Abbau des sakralen Wissens ging eben schrittweise vonstatten. Jedenfalls scheint mir an diesen zwei Bildern ziemlich genau gezeigt werden zu können, was in der Zeit von 1965 bis 1972 sich in Westdeutschland geändert hat.
Leider hat sich der Trend zur Infantilisierung bis in die Gesellschaft und Politik fortgesetzt. Dass heute nicht nur eine Partei fast unwidersprochen die „Buntheit“ als Qualität eines Staatswesens anzupreisen wagt, dass heute in der Schule niemand mehr durchfallen soll, dass heute nach Terroranschlägen in infantiler Hilflosigkeit Katzenbilder als „Trost“ gepostet werden, all diese Erscheinungen deuten sich schon in der gezeigten Veränderung zum Erbärmlichen an. Daran ändern auch die bedeutenden digitalen Erfindungen nichts.
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