Universalgenies sind selten wie Tansanite. Doch Alexander von Humboldt, der vor 250 Jahren geboren wurde, gehörte zu dieser seltenen Spezies. Er war das komprimierte Naturwissen seiner Zeit, Förderer der Wissenschaften, ein begnadeter Zeichner, Rhetoriker und Schriftsteller. Eine Spurensuche auf einer großen Fährte, die er uns hinterlassen hat.
Allrounder wie Gottfried Wilhelm Leibniz werden nicht so oft geboren. Und so hatte auch Alexander von Humboldt es sich verbeten, dass seine Büste bereits zu Lebzeiten neben der von Leibniz in der Akademie der Wissenschaften zu Berlin aufgestellt werde. Erst nach seinem Tod, am 6. Mai 1859, sollte es dazu kommen. Mit Alexander von Humboldt hat eine Geistesgröße vor 250 Jahren, am 14. September 1769, die Welt betreten, die seitdem von seinem Glanz zehrt. Humboldt war alles in einem: Entdecker, Abenteurer, ein hochgeschätzter Wissenschaftler und ein Mann mit Etikette.
Daniel Kehlmann hatte dem Kosmopoliten, Freigeist, Menschenrechtler in seinem Buch „Die Vermessung der Welt“ 2005 erneut in das kulturelle Bewusstsein der Deutschen geboren. Aber während der Mathematiker Carl Friedrich Gauß die Welt tatsächlich vermessen hatte, hat sie Humboldt beschrieben und in Sprache gekleidet. Sein Primärziel war keineswegs die Reduktion des Kosmos auf ein abstraktes Zahlenspiel, sondern die Welt in all ihrer Vielfalt und Farbigkeit erstrahlen zu lassen, sie gleichsam zu „erzählen“, da die Natur, so seine feste Überzeugung, gefühlt werden muss. Später ist daraus der „Humboldt-Code“ als Universalschlüssel empirischer und interdisziplinärer Forschung geworden.
Interdisziplinärer Denker
„Jeder Mann hat die Pflicht, in seinem Leben den Platz zu suchen, von dem aus er seiner Generation am besten dienen kann“, heißt es in einem Schreiben Humboldts an den französischen Astronomen Delambre. Und diese Pflicht hat sich der Berliner Sohn einer wohlhabenden preußisch-hugenottischen Familie zur Lebensmaxime gemacht. Von Berlin Tegel aus, finanziell pompös ausgestattet, eroberte er sich aus eigener Geldtasche die Welt: den Amazonas, Russland und Europa. Berlin blieb ihm eine „moralische Sandwüste, geziert durch Akaziensträucher und blühende Kartoffelfelder“, doch Paris, London oder Madrid bedeuteten ihm alles, waren Lebenselixier eines Menschen, der den Namen Kosmopolit wie kaum ein anderer für sich in Anspruch nehmen kann. Kant erschrieb sich die Welt, ohne Königsberg je zu verlassen, Humboldt eroberte sich diese, vermaß sie als Pionier. Aus dem „kleinen Apotheker“, der seit Kindesbeinen die tiefe Neigung an die Natur verinnerlichte, der Insekten, Steine und Pflanzen um sich wie Kinder heute Legosteine versammelte, ist der wirkliche Vermesser der Welt geworden, ein Brückenbauer der Wissenschaften, ein interdisziplinärer Geist, der Kulturen und Sprachen geradezu existentiell in sich aufsog. Geblieben sind 50 Bücher, 800 Aufsätze und Essays – ein großes Vermächtnis eines begnadeten Gelehrten.
Wenn Petrarcas Besteigung des Mont Ventoux im Jahr 1336 mit Recht zu den wichtigsten Texten der Renaissance zählt, die einem neuen Natur- und Weltbewusstsein das Fundament legte und als Scharnier zwischen Mittelalter und Neuzeit gelten darf, so spannen Humboldts Reisen den Bogen zwischen Aufklärung und Moderne. Exakte Wissenschaft, Experiment, Induktion und Empirie waren die Quellen jenes Aufklärers, der nicht wie Kant und Schiller die Welt von oben deduzierte, sondern wie Johann Wolfgang Goethe vom Phänomen ausging, um zum Ganzen zu gelangen. Nicht die platonische Einheit stand am Anfang – vielmehr die Vielheit in ihrer Verschiedenheit, zu der es das Übergeordnete, die Rubrik und das Schema zu finden galt. „Man könnte in 8 Tagen nicht aus Büchern herauslesen, was er einem in einer Stunde vorträgt,“ schrieb Goethe, der überzeugte Neptunist, begeistert an den Weimarer Herzog nach einem Besuch Humboldts. Und er schreibt weiter: „Da Ihre Beobachtungen vom Element, die meinigen aber von der Gestalt ausgehen, so können wir nicht genug eilen, uns in der Mitte zu begegnen.“
Übergeordnete Zusammenhänge zu finden war die Maxime beider, weil alles Wechselwirkung sei. Oder mit den Worten des Berliner Naturwissenschaftlers: „Die Natur ist für die denkende Betrachtung Einheit in der Vielheit, Verbindung des Mannigfaltigen in Form und Mischung, Inbegriff der Naturdinge und Naturkräfte, als ein lebendiges Ganze. Das wichtigste Resultat des sinnigen physischen Forschens ist daher dieses: in der Mannigfaltigkeit die Einheit zu erkennen, von dem Individuellen alles zu umfassen, was die Entdeckungen der letzteren Zeitalter uns darbieten, die Einzelheiten prüfend zu sondern und doch nicht ihrer Masse zu unterliegen, der erhabenen Bestimmung des Menschen eingedenk, den Geist der Natur zu ergreifen, welcher unter der Decke der Erscheinungen verhüllt liegt. Auf diesem Wege reicht unser Bestreben über die enge Sinnenwelt hinaus, und es kann uns gelingen, die Natur begreifend, den rohen Stoff empirischer Anschauung gleichsam durch Ideen zu beherrschen.“
Auf Distanz zur Naturphilosophie
Daher verwundert es kaum, dass sich Humboldt, zwar ursprünglich von der Naturphilosophie und der darin waltenden Idee der „Lebenskraft“ angezogen fühlte und seinen experimentellen physiologischen Studien zugrunde legte, da auch er davon ausging, dass es eine Kraft gibt, die allen Organismen innewohne. Doch zunehmend wurde ihm diese abstrakte Naturphilosophie à la Schelling und Hegel, die von „Lebenskraft“ und von Natur sprachen, die sich in Geist verwandelt, fremd, obskur und widersprach in ihrem mystischen Absolut- und Geltungsanspruch einem Geist, der die Dinge sezierte, sei es in der Physik, Chemie, Geologie, Mineralogie, Botanik Zoologie, Ozeanographie und Klimatologie. Letztendlich stellte sich Humboldt ganz wie Goethe auf die Seite der Naturwissenschaft, die alle Lebensäußerungen nach bekannten Naturgesetzen zu erklären habe. In Schillers Zeitschrift „Die Horen“ verabschiedete er sich dann in seiner einzigen literarischen Erzählung „Die Lebenskraft oder der Rhodische Genius“ von „Disziplinen, die sich […] in Dunkelheit hüllen“ und eine „abenteuerlich-symbolische Sprache“ sprechen und prangerte einen Schematismus an, der enger gewesen sei „als ihn jemals das Mittelalter der Menschheit aufgezwungen hat.“
Wissenschaft als Leidenschaft
Wissenschaft als Leidenschaft – dafür steht Humboldt, der bescheiden als Bergassessor im Frankenwald und im Fichtelgebirge seine Karriere begann, der den Bergbau revolutionierte und die maroden Gruben in die Gewinnzone fuhr, der die Grubenlampe verbesserte und einen Vorläufer der Atemschutzmaske erfand. Dieses Genie beschrieb nicht nur die Morphologie der kryptogamen Pflanzen, widmete sich der Mykologie, der Pflanzengeographie und der tierischen Elektrizität, bevor er – ausgestattet mit zahlreichen Messgeräten wie Sextant, Fernrohr, Teleskop, Längenuhr, Barometer und Thermometer gemeinsam mit dem französischen Botaniker Aimé Bonpland –Vulkane besteigen, den Amazonas, Venezuela, Kolumbien, Ecuador, Peru, Kuba und Mexiko durchqueren und später bis in Altai-Gebirge vordringen wird.
Als Ziel schwebte Alexander von Humboldt eine „physique du monde“ vor, eine Darstellung des gesamten physisch-geographischen Wissens der Zeit, zu dem er mit seinen Forschungsreisen selbst entscheidend beitragen wollte. Diese Vision wurde geronnene Wirklichkeit. Sein Werk „Kosmos“, das selbst Goethes „Faust“ aus der Bestsellerliste verdrängte, hatte den Anspruch eine Gesamtschau der wissenschaftlichen Welterforschung zu liefern. Er wollte dem Leser „die Erscheinung der körperlichen Dinge in ihrem Zusammenhange, die Natur als durch innere Kräfte bewegtes und belebtes Ganzes,“ vermitteln. Die Bände erschienen 1845 bis 1862.
1834, fast 30 Jahre nach der Südamerika- und USA-Expedition, schrieb er an Varnhagen van Ense: „Ich habe den tollen Einfall, die ganze materielle Welt, alles, was wir heute von den Erscheinungen der Himmelsräume und des Erdenlebens, von den Nebelsternen bis zur Geographie der Moose auf den Granitfelsen, wissen, alles in einem Werke darzustellen, und in einem Werke, das zugleich in lebendiger Sprache anregt und das Gemüt ergötzt.“ Diese lebendige Sprache, dieser Transformationsgedanke, Komplexes in Einfaches zu übertragen, hat Humboldt einen Nachruhm eingebracht, der sich sehen lassen kann. Jenseits aller Klassen, jenseits von seinem adligen Publikum, worunter der russische Zar als auch Könige und Akademiker zählten, bleibt der Adressat seines Wissens das einfache Volk. Ihm zu helfen, davon war Humboldt, der Mensch mit einer „Gemütsverfassung moralischer Unruhe“, beseelt, denn „Ideen können nur nützen, wenn sie in vielen Köpfen lebendig werden“.
Beförderer der Humanität
Es ist die Liebe zur Ganzheit, die ihn motiviert, immer wieder in Todesnähe bringt, zu gewagten Abenteuern treibt. Der Tod ist dabei in aller Regelmäßigkeit sein Begleiter, ob beim Fast-Erstickungstod im Bergstollen, bei spektakulären Tierabenteuern oder beim Lawinenabgang während einer Bergbesteigung in den Anden.
Aber Humboldt geht es bei all seinen Expeditionen, Analysen, Berichten und Entdeckungen nicht nur um bloße Natur, sondern eben auch um die Krone der Schöpfung derselben – den Menschen. Wissenschaft, so sein Ziel, sei Dienst am Menschen, Beförderung der Humanität, die im Plädoyer für die Gleichheit aller kulminiert. „Zweifelsohne ist die Sklaverei das größte Übel, welche jemals die Menschheit betroffen hat” schrieb er in einem vielbeachteten und beargwöhnten Essay über Kuba. Die Menschheit könne allein positiv in die Zukunft gehen, wenn der einzelne geadelt, die Freiheitsrechte gewahrt und die Unterjocher ihre Macht verlieren. Das war purer Sprengstoff, Dynamit in den Augen vieler, die ihren Reichtum auf Kosten der Sklaverei und des Unrechts legitimierten. Humboldt, den Ethiker und Sozialrevolutionär sah man mancherorts äußert kritisch, die DDR wird ihn später zum Verteidiger der Unterdrückten hochstilisieren.
Sein Kosmopolitismus samt ethischer Fundierung orientiert sich daher an den Interessen der gesamten Menschheit, er will eine übergreifende politische Verantwortlichkeit, eine Vision, die in Anbetracht der Abholzung der Regenwälder, der weltweiten CO2-Emmissionen heutzutage wie eine aktuelle Zustandsbeschreibung anmutet.
Der Globalplayer
Humboldt als Globalplayer weiß, dass alles mit allem zusammenhängt, dass es eine Kausalität gibt, die ein spezifisches Verknüpfungswissen benötigt, um die Einzelwissenschaften in einen Dialog zu führen. Statt Wissen als statischen Besitz eines einzelnen zu verwalten, plädiert er für ein offenes Forschungs- und Diskussionsklima, für eine Forschungsdynamik, die Entdeckungen rasant und global verbreitet und den Wissensprozess so beschleunigt, damit jeder einzelne Wissenschaftler zum Teil universalisierten Wissens werde. Und auch hier erweist sich Humboldt bereits als Pionier der Ökologie, als Klimaforscher und Wissenschaftskommunikator, der heute gegen Klimawandel-Skeptiker und Fake News Populisten energisch rebellieren würde, weil sie über dem Detail den Blick auf das große und Ganze vergessen, die globale Ausbeutung der Ressourcen wäre ihm ein Gräuel. Denn: „Wissen und Erkennen sind die Freude und die Berechtigung der Menschheit; sie sind Theile des Nationalreichthums, oft ein Ersatz für die Güter, welche die Natur in allzu kärglichem Maaße ausgetheilt hat. Diejenigen Völker, welche an der allgemeinen industriellen Thätigkeit, in Anwendung der Mechanik und technischen Chemie, in sorgfältiger Auswahl und Bearbeitung natürlicher Stoffe zurückstehen, bei denen die Achtung einer solchen Thätigkeit nicht alle Classen durchdringt, werden unausbleiblich von ihrem Wohlstande herabsinken. Sie werden es um so mehr, wenn benachbarte Staaten, in denen Wissenschaft und industrielle Künste in regem Wechselverkehr mit einander stehen, wie in erneuerter Jugendkraft vorwärts schreiten.“
Die Vision sozialer Gerechtigkeit
Damit wird klar: Humboldt hatte eine Vision von globaler Gerechtigkeit lange vor der Menschenrechts-Charta. Die Sorge um das Ganze, um die Natur und den Menschen, um seine Ökologie, ist ihm vor über 200 Jahren zur Herzensangelegenheit geworden. Derartiges sozialistisches Gedankengut, sein Eintreten für die Schwachen und Entrechteten und sein Kampf gegen soziale Ungleichheit machten Humboldt verdächtig. Ein Verteidiger der Menschenrechte war damals schon eine Provokation. Doch für Anklagen, Gerichtsprozesse und Gefängnis war er zu wichtig, weltweit zu sehr geschätzt, zu gut vernetzt, ein Strippenzieher, ein moderner Netzwerker, der heute twittern würde, ein Olympier der Wissenschaft und Forschung förderte. Die guten Beziehungen zum preußischen Königshaus letztendlich verhinderten Anklage und Verfolgung.
Dabei hätte dem diplomatisch besonnenen Wissenschaftler eine glänzende Karriere am preußischen Hof offen gestanden. 1810 wollte Staatskanzler Hardenberg ihn sogar zum preußischen Kultusminister berufen und nichts weniger als preußischer Botschafter im geliebten Paris hätte er werden können. Doch Humboldt, der besessene und feinsinnige Liebhaber der Natur, schlug die Politikkarriere aus, um nicht von seinen selbstgesetzten Zielen abgelenkt zu werden. Gelohnt hat sich der Tausch allemal. Als Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften und der Pariser Académie des Sciences, zudem als Preußischer Kammerherr sowie politischer Berater, kann eine verlorene politische Karriere als Randläufigkeit gezählt werden. Und die höchste Weihe erzielte der Naturforscher 1842 als der erste Kanzler des neu gegründeten und noch heute bestehenden Ordens „Pour le Mérite für Wissenschaften und Künste“. Die Wissenschaft hat dem Empiriker viel zu verdanken, ob Humboldtstrom, Humboldt-Pinguine, die Humboldt-Gesellschaft und Humboldt-Akademie oder das neue Humboldt-Forum – sein Name bleibt über Generationen hinweg in aller Munde. Und das zurecht.