„Im Schatten der Brandenburger Arkaden (…) kam es zu erschütternden Szenen. Wildfremde Menschen fielen sich schluchzend in die Arme. Älteren Leuten, die an einen Eintritt dieses Ereignisses zu ihrer Lebzeit nicht mehr geglaubt hatten, rannen die Tränen über die Wangen.“
Das stammt nicht aus einem Zeitungsbericht vom 10. November 1989. Das Zitat ist zehn Jahre älter und stammt von dem japanischen Schriftsteller Masanori Nakamuri. Der beschrieb 1979 in seinem Polit-Reißer „Operation Heimkehr“ eine dramatische Zuspitzung des Ost-West-Konflikts, in dessen Verlauf Ost-Berlin und Bonn sich einigen – und vereinigen. Als der Autor gefragt wurde, weshalb er ein derart wirklichkeitsfernes „happy end“ erfunden habe, gab er eine verblüffende Antwort: „Ich wollte den Deutschen die Wiedervereinigung wenigstens als Phantasieprodukt schenken, nachdem niemand mehr ernsthaft daran glaubt.“
Das wird heute gerne vergessen: dass sich die Mehrheit der Deutschen vor 25 Jahren längst darauf eingestellt hatte, für immer in zwei getrennten Staaten zu leben. Dass führende Sozialdemokraten selbst nach dem Mauerfall über eine Wiedervereinigung so urteilten: „reaktionär und hochgradig gefährlich“ (Gerhard Schröder), „historischer Schwachsinn“ (Oskar Lafontaine), „illusionär“ (Hans-Jochen Vogel). Dass die Grünen gar „Alle reden von Deutschland. Wir reden vom Wetter“ plakatierten.
Wie gut, dass wenigstens Willy Brandt die SPD nach dem Mauerfall von ihrer Ablehnung der Einheit abbrachte. Das war eine umso größere staatsmännische Leistung, als der Ex-Kanzler noch 1988 der Meinung war, „die Hoffnung auf Wiedervereinigung wurde geradezu zur Lebenslüge der zweiten deutschen Republik.“ Helmut Kohl zollte dem einstigen Rivalen in seinen Memoiren dementsprechend Respekt – als „große Ausnahme unter den Sozialdemokraten.“
Zu den „Lebenslügen“ im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung gehört auch die These, dies alles wäreeine quasi automatische Konsequenz der „neuen Ostpolitik“ gewesen, die die Regierung Brandt/Scheel 1970 eingeleitet hatte. Vielmehr war es Helmut Kohl, der 1989/90 die historische Chance ergriff und die Einheit herbeiführte – weil er die Einheit wollte. Ein Bundeskanzler Oskar Lafontaine, dem die Fortsetzung sozialistischer Experimente in einer selbständigen DDR sicher lieber gewesen wäre, hätte in jenen Wendemonaten ganz anders gehandelt.
Selbstverständlich haben die Moskauer Verträge zur Entspannung zwischen Bonn und Moskau beigetragen und zu menschlichen Erleichterungen im geteilten Deutschland. Zur ganzen Wahrheit gehört aber auch, dass der außenpolitische Vordenker der sozialliberalen Koalition, Egon Bahr, die innerdeutsche Grenze lediglich durchlässiger machen, aber keineswegs aufheben wollte. Alfred Grosser, der deutsch-französische Publizist, hat die Strategie Bahrs nach dessen Tod so beschrieben: „Er war nicht für die Wiedervereinigung. Er war für zwei deutsche Staaten, die vereinigt und nicht in Europa eingebunden sind, sondern irgendwie an ein Europa (…) angebunden sind.“
Noch etwas droht aus dem Blickfeld zu geraten: der Beitrag von Franz Josef Strauß zur Wiedervereinigung. Hätte der CSU-Vorsitzende 1973 die bayerische Staatsregierung nicht quasi zu einer Klage gegen den Grundlagenvertrag genötigt, hätte das Verfassungsgericht zwei wesentliche Feststellungen nicht getroffen: dass das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes alle Verfassungsorgane – ungeachtet der Moskauer Verträge – binde, und dass „Gesamtdeutschland“ unverändert existiere. Das wiederum war die Basis dafür, dass DDR-Bürger „Deutsche im Sinne des Grundgesetzes“ blieben.
Auch wenn es kein Ruhmesblatt für uns ist: Große Teile der politischen Klasse und mit ihnen die Mehrheit der Westdeutschen hatten die Einheit längst abgeschrieben. Oder um es in der Diktion des „Kanzlers der Einheit“ zu sagen: Sie hatten „die Einheit verraten“. Daran jetzt zu erinnern, gebieten die Redlichkeit und nicht zuletzt der Respekt vor der historischen Leistung Kohls und dem maßgeblichen Beitrag von Strauß.
Der Publizist Dr. Hugo Müller-Vogg ist Autor mehrerer Gesprächsbiografien, u. a. über Angela Merkel („Mein Weg“), Christian Wulff („Besser die Wahrheit“) und Horst Köhler („Offen will ich sein und notfalls unbequem“). Sein neuestes Buch: „Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient! – Warum die Große Koalition keine großen Ziele verfolgt“. Müller-Vogg ist u. a. Kolumnist der „Superillu“ sowie Kommentator des Nachrichtensenders N24 und häufig Gast in politischen Talkrunden. Von 1988 bis 2001 war er Herausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“.
Den Text finden Sie im neuen Bayernkurier, Heft 5
Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient! Warum die Große Koalition keine großen Ziele verfolgt
»War 2014 das Jahr, in dem Deutschland begonnen hat, seine Zukunft zu verspielen? Gut möglich, dass wir das eines Tages sagen werden. Gut möglich, dass wir das eines Tages sagen müssen. Jedenfalls dann, wenn die schwarz-rote Kuschelkoalition weitere drei Jahre ›Wünsch dir was‹ spielt.« (Hugo Müller-Vogg)
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