Rede von Bundespräsident Horst Köhler beim Festakt „Frankfurt – Weimar – Bonn – Berlin, Deutschlands Weg zur Demokratie“ aus Anlass des 160. Jahrestages der ersten deutschen Verfassung
Ich freue mich über diese Feier. Sie erinnert uns daran, wie tief unsere freiheitliche Demokratie in der deutschen Geschichte wurzelt. Seit 1848 ist die Forderung nach gleicher politischer Teilhabe, nach Grundrechten und nach Rechtsstaatlichkeit in Deutschland nie mehr verstummt, bis alles das 1949 und 1989 erreicht war. Seit hier in der Paulskirche die „Verfassung des deutschen Reiches“ beschlossen wurde und tags darauf in Kraft trat, konnte sich politische Herrschaft in Deutschland nie mehr nur auf Traditionen und Vorrechte berufen – von da an musste sie sich verfassungsrechtlich und in allgemeinen Wahlen rechtfertigen. Mit der Paulskirchenverfassung haben die Deutschen zugleich einen eigenen guten Beitrag zur Freiheitsgeschichte des 19. Jahrhunderts geschrieben. Auch wenn die Ideen von 1848 bei uns leider erst nach dem Zweiten Weltkrieg ganz entfaltet und dauerhaft verwirklicht worden sind – sie zählen zum Kern unserer demokratischen Tradition und unseres Selbstverständnisses als Staatsnation. Darum spornt die Rückbesinnung auf das damals Geleistete zugleich an, zu prüfen, wie es heute um unsere demokratische Ordnung bestellt ist und vor welchen Aufgaben sie heute steht.
Die Revolution von 1848 hat ihre Vorgeschichte, sie hat ihre eigene Geschichte, und sie ist selbst zur Vorgeschichte geworden für die hundert Jahre zwischen 1849 und 1949.
Zur Vorgeschichte der Revolution gehört das nach dem Sieg über Napoleon gegebene Versprechen der deutschen Fürsten, in ihren Staaten Verfassungen und geordnete Mitsprache der Bürger zuzulassen. Dieses Versprechen haben viele von ihnen gebrochen oder seine Erfüllung verschleppt und sogar rückgängig gemacht. Stattdessen wurde jahrzehntelang die Meinungsfreiheit geknebelt, die Presse zensiert und jede kritische Regung bespitzelt, kujoniert und bestraft. Zehntausende Menschen wurden eingesperrt oder ins Exil getrieben. Es war kein Trost, dass fast überall in Europa ähnliche Friedhofsruhe herrschte.
Aber die Bürger ließen sich auf Dauer weder mundtot machen noch unmündig halten. Ihr Aufbruch bahnte sich auf vielen Wegen an, vor allem auch über eine Leserevolution (Thomas Nipperdey). Die Buchproduktion stieg rasant, und die Deutschen wurden zu einem Volk von Zeitungslesern. Die Nachrichtenpresse, beschleunigt durch die eben erst entstandenen Telegrafenlinien, stiftete ein neues Zeit- und Lebensgefühl, weniger gemächlich, mit weiterem Horizont und mehr Sinn für Veränderung. Auch das neue Verkehrsmittel Eisenbahn ließ die Staaten und Regionen zusammenrücken. Das immer dichter werdende Schienennetz schuf neue Umschlagplätze für Waren, Informationen und Meinungen und erzwang für die nötigen Großinvestitionen neue Unternehmensformen wie die Aktiengesellschaft.
Zugleich verschärften sich die sozialen Probleme. Deutschland lebte zwar noch am Vorabend der industriellen Revolution, aber die Bevölkerung wuchs sprunghaft, und auskömmliche Arbeit fehlte; die überlegene Konkurrenz der britischen Textilindustrie stürzte die Weber und verwandte Berufsgruppen ins Elend; die Ausbeutung von Frauen und Kindern als billigste Arbeitskräfte drückte die Löhne der Männer; und viele Bauern, vor allem in Preußen, waren zu Landarbeitern für adlige Großgrundbesitzer verarmt oder kämpften mit Missernten, gerade in den Jahren vor der Revolution. Es herrschten also Unfreiheit, ein rapider technischer und wirtschaftlicher Wandel und massenhaftes Elend, und die Menschen machten für alles das nicht länger Gott oder die Natur verantwortlich, sondern die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse und vor allem die Fürsten und ihren Anhang in Militär und Verwaltung.
Die aber setzten der Forderung nach Mitbestimmung und sozialer Gerechtigkeit bornierten Standesdünkel entgegen, militärische Gewalt und den Befehl, der Untertan möge gefälligst an die Handlungen der Obrigkeit nicht „den Maßstab seiner beschränkten Einsicht“ anlegen.
In dieses Pulverfass fiel der Funke der Pariser Februarrevolution. Er löste in den europäischen Hauptstädten eine Kette von Revolutionen aus. Europa erlebte klimatisch den wärmsten März seit langem und politisch einen wahren „Völkerfrühling“. Es gab sogar eine Reihe großer europäischer Friedenskongresse. Auf einem davon hat Victor Hugo 1849 das Wort von den „Vereinigten Staaten von Europa“ geprägt. Für einen Wimpernschlag der Geschichte schien vielen selbst diese Vision in greifbare Nähe gerückt. Wir sind da heute wieder kleinmütiger geworden.
Deutschland erlebte die Märztage als Fest der Freiheit. Überall bildeten sich in Windeseile politische Clubs und Parteiungen; die Straßen und Plätze gehörten den Bürgerversammlungen und Volksrednern; und die Stadträte und Landtage wurden mit Petitionen für die langersehnte politische Neuordnung überhäuft. Quer durch alle Schichten ergriffen die Menschen Partei für die Revolution und forderten Freiheit, Mitbestimmung und soziale Gerechtigkeit. Dabei kam es immer wieder zu blutigen Kämpfen. Auf einem revolutionären Flugblatt hier in Frankfurt hieß es im März '48, es sei „bei Schlagdrauf und Hilfdirselbst“ gedruckt. Aber den Weg zu „Schlagdrauf und Hilfdirselbst“ ist nur eine Minderheit gegangen. Die große Mehrheit setzte auf gute Argumente und auf Rechtlichkeit.
Das Herz dieses Vertrauens auf Rechtlichkeit und gute Argumente schlug in der Paulskirche. Die deutsche Nationalversammlung hat unter schwierigsten außen- und innenpolitischen Bedingungen ein Verfassungswerk geschaffen, das zu den modernsten seiner Zeit zählte. An viele seiner Grundentscheidungen hat 100 Jahre später der Parlamentarische Rat für das Grundgesetz angeknüpft.
Der Paulskirche sind später mancherlei Vorwürfe gemacht worden: Sie sei ein weltfremdes und doktrinäres Professorenparlament gewesen und habe die politischen Prioritäten verkannt, als sie zuerst „die Grundrechte des deutschen Volkes“ beschloss und erst ein Vierteljahr später die Reichsverfassung.
Was die Weltfremdheit betrifft: Der Paulskirche und erst recht ihrem Verfassungsausschuss gehörten ganz im Gegenteil viele Mitglieder an, die in Verwaltung und Justiz besonders erfahren waren. Hinzu kamen beste Köpfe aus Wissenschaft und Wirtschaft, und von mindestens einem Fünftel der Abgeordneten wird berichtet, sie hätten sich aus vergleichsweise einfachen Verhältnissen hochgearbeitet – was auch nicht nach Weltfremdheit klingt. Was den angeblichen Doktrinarismus anlangt: Da sprechen die Verhandlungsprotokolle und die erreichten Kompromisse eine entschieden andere Sprache. Und die teilweise Vorabverkündung der Grundrechte noch vor der Reichsverfassung hatte auch ihren guten Sinn: Die Nationalversammlung setzte damit einen verbindlichen Grundrechtsstandard für alle deutschen Einzelstaaten, der die bundesweite Demokratisierung entschieden vorantrieb. Daraus kann zugleich die Überzeugung abgelesen werden, gerade die Durchsetzung der Freiheit werde auch die Einheit bringen.
Die Grundrechte der Paulskirchenverfassung gelten mit Recht als ihr wichtigster Beitrag zur deutschen Verfassungsentwicklung. Sie sollten die einfache Gesetzgebung binden und tendenziell auch die Verwaltung und die Gerichte, und sie sollten auf dem Klagewege durchsetzbar sein – alles das ist uns heute vertraut, und die nach der Paulskirchenverfassung vorgesehene Grundrechtsklage zum Reichsgericht lässt sich als eine Art Vorläufer der heutigen Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht deuten.
Die Verfassungsväter sprachen bewusst von Grundrechten statt von Bürger- oder Menschenrechten. Sie wollten Anklänge an ausländische Verfassungsbegriffe vermeiden, weil sie eine den deutschen Zuständen möglichst angemessene Lösung erstrebten. Darum verknüpften sie im Abschnitt über die Grundrechte ganz Unterschiedliches: persönliche Freiheitsrechte wie die Meinungs- und Versammlungsfreiheit, politische und soziale Teilhaberechte wie gleiches Bürgerrecht, den gleichen Zugang zu öffentlichen Ämtern und den Anspruch auf Schulunterricht, politische Grundentscheidungen wie die Aufhebung des Adelsstands mit seinen Vorrechten und institutionelle Gewährleistungen wie die Freiheit der Presse und die kommunale Selbstverwaltung. Alle Grundrechte zusammengenommen und ein für damalige Verhältnisse bahnbrechend demokratisches Wahlgesetz sollten die Interessen und die Kräfte der „Staatsgenossen“ am Gemeinwohl orientieren und sie zugleich allesamt davon profitieren lassen. Es ging weniger um die Abwehr des Staates als vielmehr um seinen gemeinsamen Aufbau, um die Teilhabe aller daran und um seine rechtsstaatliche Mäßigung. Der einzelne Bürger wurde als Individuum und zugleich als Mitglied zahlreicher Lebenskreise verstanden. In denen sollte er seine Freiheit leben, und vom guten und tätigen Miteinander all dieser Lebenskreise und dem Widerspiel der Grundrechtsausübung erwartete man sich die Läuterung der Egoismen und Gruppeninteressen und im Ergebnis die Förderung des Allgemeinwohls. Das mag uns im Rückblick idealistisch vorkommen, aber um einen vernünftigen Ausgleich zwischen Einzelinteressen und Gemeinwohl ringen wir bis heute und werden wir immer ringen.
Für dieses eher kooperative und staatsorientierte Verständnis der Grundrechte hatten naturgemäß die örtlichen Gemeinschaften in den Gemeinden und Städten besondere Bedeutung. Die waren damals meist noch klein und überschaubar, man kannte einander und war vielfältig aufeinander angewiesen. Die Paulskirchenverfassung gewährte den Gemeinden Selbstverwaltung, als Freiraum für ihren eigenständigen Beitrag zum Staatsaufbau. Der Deutsche Städtetag hat 2003 in seiner Schriftenreihe die Studie „Städtefeindlichkeit in der deutschen Geschichte“ veröffentlicht – die Paulskirchenverfassung ist darin als leuchtende Ausnahme vermerkt.
Es ist faszinierend, wie stark die Abgeordneten für das staatliche Aufbauwerk auf Bildung und auf den gleichen Zugang zu Bildungschancen setzten. „Verfassung und Gesetz sind leere Worte für ein Volk ohne Bildung“, hieß es zur Begründung. Die Frankfurter Reichsverfassung schrieb ein flächendeckendes öffentliches Schulwesen vor und machte die darin beschäftigten Lehrer zu Staatsdienern – bis dahin hatten viele Volksschullehrer ihr Dasein nur durch Nebentätigkeit als Küster, Gartenarbeiter oder Kleinhändler fristen können. Der Besuch der Volksschulen und niederen Gewerbeschulen sollte kein Schulgeld mehr kosten, und begabten Kindern armer Leute sollte auch auf den höheren Schulen freier Unterricht gewährt werden. Dabei verstand man übrigens das gesamte Bildungswesen vom Kindergarten bis zur Universität als organisches Ganzes, und es sollte mit unterschiedlichen Erziehungsmethoden experimentiert werden dürfen. Das mutet ausgesprochen modern an. Fragt sich: Haben wir heute alles verwirklicht, wonach die Achtundvierziger strebten, und entwickelt sich unser Bildungswesen in die richtige Richtung?
Bildung und Wissenschaft sollten dem politischen Aufstieg Deutschlands dienen, und politische Bildung der guten Steuerung des Landes: Die Pressezensur wurde kategorisch abgeschafft, weil eine freie Presse als unerlässlich für die politische Freiheit verstanden wurde. Damit nicht genug: Auch sämtliche Konzessionen und Sonderlasten bei Druckerzeugnissen wurden verboten, um die Tagespresse nicht „in die Hand der Reichen zu legen“ und um die Versorgung der ländlichen Gebiete und der einfachen Leute mit preiswerten Zeitungen und Büchern zu erleichtern. Es gehe darum, so hieß es in den Beratungen, „die geistige und politische Bildung (…) und Freiheit des Volkes zu fördern“. Auch damit bewies die Paulskirche Weitsicht.
Die Nationalversammlung nahm sich nicht nur mit der Schulfreiheit der sozialen Gerechtigkeit an. Am meisten tat dafür die Abschaffung der drückenden Adelsvorrechte. Schon allein das feudale Jagdprivileg auf fremdem Boden gefährdete die Lebensgrundlagen der Bauern durch ungeheure Ernteschäden. Die Unteilbarkeit des Großgrundbesitzes wurde als eine der Hauptursachen des ländlichen Pauperismus betrachtet und beseitigt – das ländliche Proletariat sollte sich endlich mit Fleiß und Sparsamkeit Grundeigentum erwerben können. Und die auf dem Grund und Boden haftenden Abgaben und Leistungspflichten wie etwa der sogenannte „Zehnte“ wurden gegen Entschädigung der meist adligen Nutznießer endgültig abgelöst. Auch die Steuer- und Gerichtsprivilegien des Adels wurden abgeschafft.
Die Paulskirche hat darüber hinaus in Zusammenhang mit den Regelungen über die Berufsfreiheit und Steuergerechtigkeit schon intensiv über Arbeitsschutz und Wettbewerbsrecht, über soziale Grundrechte und über eine staatliche Konjunktur- und Beschäftigungspolitik debattiert. Auch das war wegweisend, und bei der Beratung einer gesetzlichen Gewerbeordnung wurde aus der Mitte des Parlaments heraus sogar ein Entwurf erarbeitet, der ein frühes Modell für betriebliche Mitbestimmung enthielt, das wenig später in der Textilindustrie mit großem Erfolg praktiziert worden ist – leider ohne nachhaltig Schule zu machen. Auch diese Anfänge unseres sozialen Bundesstaates und der Sozialen Marktwirtschaft verdienen, im Gedächtnis und in Ehren gehalten zu werden.
Allerdings, die Paulskirchenverfassung war auch ein Kind ihrer Zeit. Von der politischen Gleichberechtigung der Frauen zum Beispiel weiß sie noch nichts. Sie sah auch noch keine parlamentarische Demokratie vor, also die Abhängigkeit der Regierung von der Wahl oder der Bestätigung durch das Parlament. Stattdessen sollte das Staatsoberhaupt, der Kaiser, die Regierung ernennen und jederzeit das Parlament auflösen dürfen, während dieses die Regierung nicht stürzen konnte, sondern lediglich Gesetzgebungsbefugnisse und das Budgetrecht hatte.
Die Frankfurter Reichsverfassung war auch da Ausdruck eines Gesamtkompromisses der damaligen großen politischen Strömungen des Landes. Sie entsprach zugleich gewiss dem Willen des Volkes. Drei Viertel der deutschen Staaten haben sie anerkannt, und sie ist die bisher einzige deutsche Verfassung, für deren Geltung breite Bevölkerungskreise gekämpft haben. Dieser Kampf gegen Wien und Berlin war von Anfang an aussichtslos. Dennoch bleibt die Frage: Welche Entwicklung Deutschland wohl unter der Paulskirchenverfassung genommen hätte?
Wir wissen nur, welchen Weg Deutschland ohne sie genommen hat, wie das Scheitern der Revolution zur Vorgeschichte der folgenden hundert Jahre wurde. Das kann hier nur holzschnittartig gezeigt werden, aber gezeigt werden muss es. Zwar, die Paulskirchenverfassung vergaß sich nicht mehr, sie wurde in manchen deutschen Staaten selbst nach der ausdrücklichen Aufhebung der Grundrechte durch den Deutschen Bund noch verteidigt, zum Beispiel indem ihre Ziele auf der landesgesetzlichen Ebene weiterverfolgt wurden. Auch haben viele, die an den Beratungen der Paulskirche teilgenommen hatten, später wieder politische Verantwortung übernommen und ihr Gedankengut weitergetragen. Aber das war nur ein schwacher Abglanz. Denn die Reaktion unterdrückte erneut massiv die Meinungs-, Presse- und Vereinigungsfreiheit, sie trieb Abertausende ins Exil (Baden, Mecklenburg und Württemberg sollen damals fünf Prozent ihrer Bevölkerung verloren haben!), sie führte statt des gleichen Wahlrechts das Dreiklassenwahlrecht ein, sie behinderte mit ihren geretteten Privilegien in der Gesetzgebung die Modernisierung und Liberalisierung nach Kräften, und sie stellte die Rekrutierung des hohen staatlichen Führungspersonals um von Adelsvorrecht auf Parteipatronage und auf neue Netzwerkerei der alten Cliquen.
Die Grundrechte der Frankfurter Reichsverfassung hatten keine Gelegenheit, Deutschland mit ihrer unmittelbaren Geltung zu durchdringen und freiheitlich zu prägen. Vielleicht wäre es ein anderes Land geworden? Stattdessen wurden die Bürger aus der Politik abgedrängt. Bismarck borgte für die Verfassung des Norddeutschen Bundes und für die Reichsverfassung von 1871 kräftig bei der Paulskirche, aber er schwächte dabei die demokratische Dimension und die Rechte des Parlaments und stärkte die Fürstensouveränität. „Mussamerikaner“ wie Friedrich Hecker und Carl Schurz fühlten sich denn auch bei späteren Besuchen nicht mehr wohl hier. Die Einheit sei ja nur der Körper, meinte Hecker, dieser aber entbehre noch seiner Seele, der Freiheit. Und Schurz fand, nun sei zwar die Einheit gewonnen, aber die Freiheit sei vertagt. Die siegreichen Feldzüge von 1864, 1866 und 1870/71 verliehen dem Militär und seinen Führern einen Nimbus und eine Selbstgefälligkeit, die massiv zur Militarisierung der ganzen Gesellschaft beitrugen. Und wenn schon in der Paulskirche außenpolitisch so nationalistisch dahergeredet worden war, dass Robert Blum warnte, da könne man ja gleich „der ganzen Welt den Krieg erklären“, dann gewöhnten sich die Bürger und ihre Abgeordneten nach 1871 erst recht nicht an selbstbewusste Bescheidenheit. Die deutschen Hochfeste und Hausgötter hießen nun Sedanstag und Flottenprogramm und Platz an der Sonne. Den politischen Parteien im Reichstag blieb es verwehrt, Regierungsverantwortung einzuüben. Während die Fraktionen und Parteien, die sich in der Paulskirche zu bilden begonnen hatten, noch den heilsamen Zwang zum Kompromiss empfanden und beherzigten, pflegten die Reichstagsparteien mehr ihre ideologischen Grundsätze und gegenseitigen Vorurteile. Zur parlamentarischen Demokratie wurde das Deutsche Reich erst gegen Ende des Ersten Weltkriegs, und das erwies sich als Danaergeschenk, denn die alten Eliten traten ab, ohne Verantwortung für die Katastrophe zu übernehmen, und bezichtigten anschließend die demokratischen Parteien und Männer wie Ebert und Erzberger des Verrats. Die Deutschen hatten nun eine Demokratie, aber mittlerweile mangelte es – anders als 1848! – an Demokraten, und in der Weimarer Verfassung schuf man sich mit dem Reichspräsidenten einen mächtigen Ersatzmonarchen. Wirklich, das Scheitern der Paulskirchenverfassung hat einen langen Schatten geworfen!
Umso höher sollten wir zu schätzen wissen, was seit 1949 erreicht worden ist. In unserer freiheitlichen Demokratie und in der alle Lebensbereiche prägenden Geltung der Grundrechte sind die zentralen Bestrebungen von 1848 verwirklicht. Zugleich gewinnt unser Grundgesetz durch den Bezug auf die Paulskirchenverfassung eine historische Tiefendimension, die umso beeindruckender ist, weil wir ja wissen, dass die Verfassungsväter von 1849 auch ihrerseits an viele freiheitliche Traditionen und Bestrebungen der deutschen Geschichte angeknüpft haben. Und wahr ist auch: Alles das haben, bewusst oder unbewusst, die Menschen in der DDR mitgewählt, mitgewollt, als sie der Einheit Deutschlands in einer friedlichen Revolution Bahn brachen.
Wir sollten die Erinnerung an diese Vorgeschichte unserer Freiheit viel stärker pflegen. Warum sind bei uns so wenige Straßen und Plätze nach den Männern von 1848 benannt, nach Beseler und Gagern und Simson und Welcker, nach Kinkel und Dahlmann und Unruh und Blum? Wann wird das Leben von Carl Schurz verfilmt, das doch spannender war als mancher Roman? Und wann destilliert jemand aus den damaligen Denkschriften, Verhandlungsprotokollen und Flugblättern eine Quellensammlung, die sich den amerikanischen Federalist Papers und Antifederalist Papers zur Seite stellen lässt?
Wir sollten auch ruhig einmal versuchen, unsere Verfassungswirklichkeit durch die Augen der Achtundvierziger zu betrachten: Was würden sie zur Lage der Kommunen und der kommunalen Selbstverwaltung sagen, zur Qualität von Presse, Rundfunk und Fernsehen und zum Stand der politischen Bildung? Würden sie beim Blick auf das Bund-Länder-Verhältnis womöglich auf viel stärkere Kompetenzentflechtung drängen? Würden sie uns angesichts mancher Blockaden im Bundesrat daran erinnern, dass die Paulskirchenverfassung den Vertretern der Bundesstaaten ein freies Mandat gab wie das im amerikanischen Senat?
Die Beschäftigung mit der Revolution vor hundertundsechzig Jahren schärft auch den Blick für die Herausforderungen, vor denen unsere Demokratie heute steht. Damals drängten die Menschen zur demokratischen Teilhabe. Sie erwarteten sich davon eine durchgreifende Verbesserung ihrer Lebensbedingungen. Heute wächst in Deutschland politisches Desinteresse, es wächst Verdrossenheit darüber, wie langsam und undurchschaubar unser Staatswesen funktioniert, Enttäuschung darüber, wie wenig unmittelbaren Einfluss darauf die Bürger und Wähler zu haben scheinen, und Skepsis, ob die einzelstaatliche Demokratie große, grenzüberschreitende Herausforderungen überhaupt noch in den Griff bekommt oder die Steuerung längst abgegeben hat an inter- und supranationale Wirtschaftsinteressen und Großbürokratien.
Dabei stehen wir doch vor ähnlich drängenden Aufgaben wie jenen, für die damals der Ruf nach Demokratie erscholl: Damals ging es darum, gegen unverdiente Vorherrschaft gleiche Bürgerrechte zu ermöglichen, die industrielle Revolution sozial zu gestalten und die staatliche Einheit zu erreichen. Heute geht es darum, die europäische Einigung zu vollenden, eine ökologische industrielle Revolution auszulösen und weltweit für Menschenwürde und gegen Massenarmut einzutreten. Ich bin überzeugt: Das wird uns nur gelingen, wenn wir auf allen Ebenen das Demokratieprinzip stärken und beleben, bei uns in Deutschland, in der Europäischen Union und im weltweiten Miteinander der Nationen.
Darum sollten wir in Deutschland noch weiter an einer Neuordnung der Bund-Länder-Beziehungen arbeiten. Das Ziel sollte sein, mehr demokratische Transparenz und Verantwortlichkeit zu schaffen. Es ist wichtig, dass die Volksvertreter und die Bürger in Bund, Ländern und Gemeinden die Kosten von Entscheidungen so weit wie irgend möglich vorher kennen. Sie sollten sie aus eigener Kraft finanzieren und nicht auf andere abwälzen können. Wir sollten auch Änderungen des Wahlrechts diskutieren, die den Wählerinnen und Wählern mehr Einfluss darauf geben, welche Kandidaten auf den Wahllisten der Parteien ein Mandat bekommen – es müssen ja nicht immer nur die sein, die oben stehen. Darum brauchen wir in allen Bereichen des Zusammenlebens Demokratie als Lebensform, brauchen wir in Schule und Gesellschaft viele Gelegenheiten und Angebote, die Jung und Alt zur Mitverantwortung und Mündigkeit einladen und sie an den Geschmack der demokratischen Selbstbestimmung gewöhnen. So wächst ein Ethos, das die Bürger verbindet und sie gern die Mühen in Kauf nehmen lässt, die demokratisches Engagement und freiheitliche Abstimmungsprozesse nun einmal unweigerlich auch mit sich bringen.
Das müssen wir für unsere demokratische Selbstbestimmung tun – und mehr. Betrachten wir die Europäische Union: Deutschland hat ihr wie alle Mitgliedstaaten eine Fülle von Entscheidungsrechten übertragen. Entsprechend intensiv durchdringt und beeinflusst das Handeln der EU unseren Alltag – es geht uns alle an. Entsprechend aufmerksam müssen wir darauf achten, dass dieses Handeln demokratisch kontrolliert und gesteuert wird. Darum sollten wir Deutsche nicht allein die europapolitische Willensbildung von Bundestag und Bundesregierung, von Landesregierungen und Landtagen genauestens verfolgen, sondern darum haben wir auch ein großes Interesse daran, dass die demokratische Legitimität des Europäischen Parlaments gestärkt wird, dass seine Befugnisse entsprechend wachsen und dass die Bedeutung der einzelstaatlichen Parlamente auf europäischer Ebene angemessen zur Geltung kommt. Der Vertrag von Lissabon sieht nicht zuletzt in dieser Hinsicht erhebliche Verbesserungen vor. Er wäre ein bedeutender Schritt zur nötigen weiteren Demokratisierung der Europäischen Union.
Die Bundesrepublik Deutschland tritt für das Demokratieprinzip natürlich auch in ihrer Außenpolitik ein. Aber in den internationalen Beziehungen hat es bisher noch nie eine so intensive demokratische Dimension gegeben, wie sie in unserer Verfassung und im Recht der Europäischen Union verankert ist; und ein Weltstaat mit Weltdemokratie und Weltregierung bleibt Utopie. Statt dessen gelten noch immer weithin der Grundsatz der Staatengleichheit und Staatensouveränität und das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten, das seinerseits dem Respekt davor entspringt, dass jede Nation ihr Schicksal selber bestimmt und wir darum zum Beispiel auch nicht einfach das westliche Demokratiemodell als allgemeinverbindlich unterstellen oder gar aufnötigen dürfen.
Vor diesem Hintergrund werden wir es noch lange mit Unfertigem und Unbefriedigendem zu tun haben. Wir werden mit Regierungen umgehen müssen, die nicht unseren demokratischen Ansprüchen genügen und sich doch von uns nur um den Preis ignorieren lassen, dass die Lage ihrer Völker sich eher noch verschlechtert. Wir werden mit Staaten zu tun haben, die den westlichen Weg selbstbewusst als Irrweg ablehnen und ihre Legitimität aus anderen Quellen ableiten als aus demokratischen Entscheidungen. Wir werden, befürchte ich, Nationen erleben, die sich frei und demokratisch für die Feinde von Freiheit und Demokratie entscheiden. Und wir werden im Interesse aller Völker trotz krasser Ungleichheiten von Macht, Einfluss und demokratischer Dignität dennoch zu Fortschritten kommen müssen.
Darum ist gerade die Außenpolitik kein Feld für Ungeduldige und Rechthaber. Wer vorankommen will, muss in den und mit den bestehenden Verhältnissen und Strukturen arbeiten und braucht einen langen Atem. Aber dabei lässt sich schon kurz- und mittelfristig viel Gutes erreichen.
Dafür bietet die aktuelle weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise – so bedauerlich sie ist und so wütend ihre Ursachen machen – zusätzliche Chancen. Sie zeigt zum einen, wie dringend die Wirtschafts- und Finanzmärkte einer wirksamen Aufsicht und Rechenschaftspflicht bedürfen. Diese Aufsicht und Verantwortlichkeit muss ihrerseits demokratisch legitimiert sein, denn es geht um res publica, um öffentliche Angelegenheiten, die in ihren Folgen alle betreffen. Nur wenn innerstaatlich und zwischenstaatlich die Parlamente und Regierungen als demokratische Repräsentanten die nötige Aufsicht und Verantwortlichkeit verbindlich machen (die auch empfindliche Sanktionen einzuschließen hat), nur dann werden sie ihrer politischen Verantwortung gerecht. Wenn das weltweit gelingt, dann wird die Krise zu einem wichtigen Beispiel dafür geführt haben, dass sich die Globalisierung im Sinne des weltweiten Gemeinwohls gestalten lässt. Die Wirtschafts- und Finanzkrise bietet zum anderen die Chance, die nun gebotenen Konjunkturprogramme und die nachfolgenden Investitionen intelligent auf dieses globale Gemeinwohl auszurichten. Wenn jetzt zum Beispiel weltweit in eine bessere Infrastruktur, in Umweltschutz und nachhaltiges Wirtschaften und in erneuerbare Energien investiert wird, dann kurbelt das nicht bloß heute die Volkswirtschaften an, sondern dann macht es sie dauerhaft robuster und umweltfreundlicher. Darauf sind wir alle angewiesen, denn die gedankenlose Fortschreibung und Fortsetzung des heutigen Wirtschaftsmodells und Lebensstils der Industriestaaten trägt auf Dauer nicht.
Wir alle, und gerade die Demokratien als die verständigsten aller Staatsformen, müssen lernen, in solchen weltweiten Zusammenhängen zu denken und zu handeln. Die Erde braucht längst eine Entwicklungspolitik für den ganzen Planeten; und zwar im vitalen Interesse aller. Eine kluge Politik in und mit den gegebenen Verhältnissen wird darum auch energisch die Vereinten Nationen stärken. Dort steht die Paulskirche für die weltweiten Aufgaben, dort hat die Entwicklungspolitik für den ganzen Planeten ihren natürlichen und legitimen Rahmen.
Als konstruktive Pfeiler der Weltpolitik werden auch regionale Zusammenschlüsse immer wichtiger werden. Die Erfolgsgeschichte der Europäischen Union zeigt, dass es möglich ist, Frieden und Freiheit zu sichern, in der Welt an Gewicht zu gewinnen und Wohlstand zu mehren – indem man sich in freier Selbstbestimmung zur Zusammenarbeit verpflichtet und lernt, Souveränität neu zu bündeln. Wir Europäer sollten diese demokratische Erfahrung selbstbewusst in die Arbeit an einer neuen Weltordnung einbringen.
Alles das setzt viel Einsicht und noch mehr zähe Arbeit voraus. Dafür kommt es ganz entscheidend auch auf die öffentliche Meinung und auf das Engagement möglichst vieler Bürgerinnen und Bürger an. Wenn Parlamente und Regierungen sich von ihren Bürgern getragen, ja gedrängt fühlen bei der Mitarbeit an der Weltinnenpolitik und an der Entwicklung der Erde, dann wachsen ihnen Kräfte zu, wie sie allein demokratische Legitimität verleiht. Und wenn sich viele Menschen in grenzüberschreitenden Initiativen und Interessengruppen engagieren, dann wirkt das als zusätzliche tragende Säule für die internationale Zusammenarbeit. Schon heute leisten Institutionen wie Greenpeace, wie die Welthungerhilfe und wie Amnesty International unendlich viel für die Verbesserung der Lebensbedingungen von Millionen Menschen und für die Durchsetzung der Menschenrechte. Das bürgerschaftliche Engagement und die sich abzeichnende internationale Zivilgesellschaft können das Handeln der Staaten und Regierungen nicht ersetzen, auch und gerade weil sie kein Ersatz für demokratische Selbstbestimmung sind. Aber sie können das demokratisch legitimierte Handeln ergänzen und beflügeln, so wie jede Demokratie von Bürgern gestärkt und beflügelt wird, die je für sich und auch gemeinsam ihre Freiheitsrechte mit Leben erfüllen und das Gemeinwohl mehren. Globalisierung und Demokratie widersprechen einander nicht, im Gegenteil: Die Globalisierung erweitert den Bereich des Handelns, das demokratischer Steuerung bedarf.
Machen wir uns also ans Werk, in Deutschland, in Europa und weltweit. Vergessen wir nicht: Das Erbe der Paulskirche bereichert uns. Es verpflichtet uns auch.
©-Vermerk: REGIERUNGonline (www.bundesregierung.de)
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