Marco Birn, Die Anfänge des Frauenstudiums in Deutschland – Das Streben nach Gleichberechtigung von 1869 bis 1918, dargestellt anhand politischer, statistischer und biographischer Zeugnisse, Heidelberger Schriften zur Universitätsgeschichte, Band 3, 433 Seiten, geb., Heidelberg 2015, ISBN: 978-3-8253-6464-9, 36 Euro.
Es ist heute kaum mehr vorstellbar. Noch vor etwas mehr als 100 Jahren waren Frauen an Universitäten nicht zugelassen, danach, ganz allmählich, ausnahmsweise. Eine von Marco Birn geschriebene und in Heidelberg verlegte Promotionsschrift behandelt den Kampf junger Frauen um das Recht, an einer Universität zu studieren. Eine solche Studie war ein absolutes Desidarat. Dabei es bestünde heutzutage durchaus die Gefahr, dass solch ein Thema für eine Gender-Kampfschrift missbraucht wird. Dass das hier nicht geschah, nützt gleich beiden enorm: dem Autor ebenso wie seinem Werk.
Heidelberg nimmt eine gewisse Vorreiterrolle unter den Universitäten im heutigen Deutschland ein, ist sie doch die älteste. Und sie war auch die erste, an der sich Frauen regulär immatrikulieren konnten. Die Russin Sofja Kovalevskaja wurde 1869 als erste „Hörerin“ und „probeweise“ an der dortigen Ruperto Carola angenommen. Marco Birn erläutert: „In Heidelberg erkannte eine anfangs noch sehr kleine Gruppe von Professoren, unter ihnen vor allem Naturwissenschaftler, das intellektuelle Potential junger Frauen, die sich gegen erhebliche Widerstände um einen Zugang zur Universität bemühten.“ Von einer Mehrheit, die mutmaßlich aus Traditionalisten und um Privilegien besorgter Akademiker bestand, wurde diese „misslichen und störenden Erscheinung“ wieder gestoppt. Doch in der Schweiz war fortschrittlich: bereits ab 1870, beginnend mit Zürich, war hier die Immatrikulation von Frauen möglich, und die erfolge blieben nicht aus. So war es vielleicht kein Wunder, dass im nördlich benachbarten Baden vor nunmehr 125 Jahren, im Schuljahr 1898/99, die Wende kam. Weibliche Schulabgänger mit Reifezeugnis konnten per Gesetz die gleichen Bildungsansprüche einfordern konnten wie männliche Abiturienten – sie konnten studieren!
Im Sommersemester 1900 waren also erstmals vier Studentinnen an der Ruperto Carola Heidelberg regulär eingeschrieben, indes: immer noch „versuchs- und probeweise“. Doch die Immatrikulation begabter junger Frauen verschaffte der Ruperto Carola einen Vorteil, wie Marco Birn erläutert: „Die Universität Heidelberg war nicht nur ein Vorreiter auf dem Weg hin zu gleichberechtigten Bildungschancen, sie war lange Zeit die bei den jungen Studentinnen beliebteste Universität Deutschlands mit einem weit überdurchschnittlichen Frauenanteil.“ Sehr spannend ist es, nachzulesen, wie es zu dieser Entwicklung kam, wobei der Autor historisch sauber arbeitet und die Frauenbewegung mit Helene Lange an der Spitze einbezieht. Interessant auch, dass die Idee der Mädchengymnasien auch in Prag und Wien früh Fuß fassen konnte. Ohne, daß es besonders hervorgehoben wäre, wird erkennbar, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Bildungsbürgertum in Österreich-Ungarn und der offiziell anerkannten Befähigung weiblicher Schüler zum Studium gegeben haben dürfte. Und das Bildungsbürgertum, zumal, wenn deutschsprachig, war im östlichen Mitteleuropa größerenteils jüdisch.
Streng nach den einzelnen Ländern im föderalen Zweiten Kaiserreich geht Marcon Birn vor, und das ist völlig richtig und auch notwendig, weil es ein deutliches Bildungsgefälle von Süd nach Nord gab. Die Universitäten und ihre Studentinnen müssen also im Kontext ihres jeweiligen Landes gesehen werden – Marco Birn erkennt und beachtet dies, er kommt daher zu validen Ergebnissen für das ganze damalige Deutschland. Wichtig ist auch, daß er die Rolle der Dozenten, zuvörderst der Professoren, korrekt einordnet. Es ging, was die Geschwindigkeit des Reformprozesses betrifft, nicht nur um die Durchsetzung von Rechten für Frauen generell – es ging auch um die Wahrung der Autonomie der Lehre an sich.
Birn erkennt fünf bestimmende Faktoren für die Anerkennung von Frauen an Universitäten. Helene Langes Frauenbewegung forderte und bekam gesellschaftliche Zustimmung für ihre bildungspolitischen Ziele. Unverzichtbar war zweitens, dass es Unterstützung aus sehr vielen Kultusministerien gab. Mehr als zwei Drittel der Professoren hatten drittens positive Erfahrungen mit Studentinnen gemacht, die Universität Zürich war Vorbild. Die Zulassung in Baden schuf schließlich viertens einen Präzedenzfall. Danach, und das war der fünfte Faktor, wäre es für die anderen deutschen Länder politisch nicht mehr durchsetzbar gewesen, Frauen von den Universitäten fernzuhalten. Zwar mussten die Prinzipien der Menschenrechte und der Autonomie der akademischen Lehre in abgewogener Weise aufeinander eingespielt werden. Der Durchbruch von 1900 – in Heidelberg – war nicht rückholbar. Das Bild, das der Autor entwirft, ist insgesamt tragfähig und informativ. Er formuliert dabei selbst den Anspruch, „Geschlechter- und Bildungsgeschichte“ zu vereinen. Dabei übertreibt er es aber nicht mit der Geschlechtergeschichte, sondern setzt den Schwerpunkt auf die Bildung. Das tut dem Buch insgesamt sehr gut.
Den zweiten Teil seiner Arbeit überschreibt Birn dann mit „von der Ausnahme zur Normalität“. Aus dem Kontext der damaligen Gesellschaft ergibt sich, dass das, was heute mit „Normalität“ bezeichnet werden würde, damals keineswegs gemeint sein konnte. Es geht also um eine damals vorhandene Normalität – vor diesem Hintergrund ist diese Überschrift korrekt. Erholsam ist auch, dass Birn seine Studie nicht überstrapaziert. Es geht ihm um die Art und Weise, in der junge Frauen sich den – im Zeitkontext zu sehenden – gleichberechtigten Zugang zur Universität erkämpften. Es kann also nicht darum gehen, zu untersuchen, ob und inwieweit diese Frauen abseits der Universität in gesellschaftlichen Zwängen verblieben. Diese verhinderten oft genug akademische Karrieren, die jungen Männern mit vergleichbarer Qualifikation offenstand – unbestritten.
Von dieser Schrift darf die geneigte Leserschaft speziell in zentralen zweiten Teil eine fundierte historische Zuordnung erwarten, eine soziologische Studie ist es nicht. Und das ist auch gut so, denn Birn gibt gute Hinweise aus dem geschichtlichen Kontext heraus. So waren die stärksten Anstiege des Frauenanteils an en Universitäten während der Kriegsjahre zu bemerken – und sie gingen danach nicht mehr zurück. Im Anteil der jüdischen Studentinnen kann der kundige Leser valide Parallelen zum Anstieg des Antisemitismus in der Gesamtgesellschaft ziehen. Detailliert listet der Autor zudem die unterschiedlichen Fachgebiete auf. Dieses Buch wird damit zur Grundlagenlektüre im Bereich der Bildungsgeschichte.
Ein knapper dritter Teil schließt sich an, in dem wirtschaftliche und soziale Fragen rund um das eigentliche Studium untersucht werden, die für die Studentinnen relevant waren. Die Erkenntnisse der ersten beiden Teile werden damit untermauert und gestützt, und die von einigen Rezensenten vermissten Anteile soziologischer Forschung können hier gefunden werden. Andreas Neumann attestiert ihm immerhin auf HSozKult unter http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-23490 „einen klar zu erschließenden Überblick über die Situation von Hörerinnen und Studentinnen innerhalb der heterogenen Bildungslandschaft des Kaiserreiches“.
Mithilfe quantitativer Daten zeichnet Birn ein gut überblickbares Strukturbild der ersten Studentinnen. Die stark prosopographisch angelegte Mikroebene zielt eher auf qualitative Aussagen und damit, so analysiert Neumann, „auf Motive der Studienwahl, auf Probleme der Identitätsfindung sowie auf Alltagserfahrungen von Studentinnen innerhalb eines männlich dominierten Raumes.“ Damit ist Birns Arbeit gut umschrieben, und einer weiterführenden Geschlechterforschung sowie ausgreifender soziologischer Seitenaspekte hat es hier nicht bedurft, ja, all dies wäre eine Themaverfehlung gewesen. Zweifelsohne werden aber Gender-Studien und soziologische Untersuchung zur weiblichen Bildungsgeschichte folgen, und das ist gut so! Birn hat eine komplette, ausgereifte, rundum gut gelungene Grundlagenstudie vorgelegt, auf die in absehbarer Zeit nicht verzichtet werden kann.