Im Jahr 2024 ist ein Jubiläum für zwei große deutschsprachige Romane, die die Sehnsucht nach dem Tod oder die „Sympathie mit dem Tod“ zum Thema haben. Im Jahr 1774 erschien der Roman „Die Leiden des jungen Werthers“ von Johann Wolfgang von Goethe, der bis heute zum wichtigsten Werk der Suizidliteratur zählt. Goethe lässt seinen Romanhelden sterben. 150 Jahre später erschien der Roman „Der Zauberberg“ von Thomas Mann. Der Romanautor spricht von der „Sympathie mit dem Tod“, ist von der Psychoanalyse beeinflusst und betont die Ambivalenz der Todessehnsucht. Gestorben wird in dem Roman durch Dahinsiechen an der Krankheit Tuberkulose. Das Damoklesschwert des finalen Blutsturzes durchzieht als Todesangst wie ein roter Faden den ganzen Roman. Der Romanprotagonist Hans Castorp räsoniert viel über die „Sympathie mit dem Tod“ – überlebt, aber geläutert.
„Die Leiden des jungen Werthers“ von Johann Wolfgang von Goethe
Der im Jahr 1774 erschienene Roman „Die Leiden des jungen Werthers“ war der erste europäische Bestseller von Johann Wolfgang von Goethe. Die Handlung des Romans hat in doppelter Hinsicht einen autobiografischen Hintergrund. Es geht im Roman um einen Suizid aus Liebeskummer. Zum einen litt Goethe selbst unter Liebeskummer, als er diesen Roman schrieb. Zum andern war der reale Suizid seines Freundes Karl Wilhelm Jerusalem die Vorlage für die Romanhandlung. Goethe war damals in Charlotte Buff verliebt, die allerdings bereits mit einem anderen Mann verlobt war und deshalb für Goethe unerreichbar blieb. Der Freund Jerusalem war Gesandtschaftssekretär in Wetzlar und hatte sich erfolglos in eine verheiratete Frau verliebt. In beiden Fällen war also der Liebeskummer, die unerfüllte Liebe, das wesentliche Motiv. Goethe konnte seinen Liebeskummer bewältigen, sein Freund Karl Wilhelm Jerusalem sah für sich nur den Suizid als letzten Ausweg.
Liebeskummer oder tragische Verwicklungen in Liebesbeziehungen sind seit Jahrhunderten bereits vor Goethe beschrieben worden. Der Liebestod von Tristan und Isolde sowie von Romeo und Julia sind hierfür berühmte Beispiele. Der Doppelsuizid aus Liebeskummer wie jener des habsburgischen Kronprinzen Rudolf und seiner Geliebten Baronesse Mary Vetsera im Jahr 1889 erhält bis heute viel Beachtung (Csef 2022, 2023)
In der hervorragenden Anthologie über Suizidliteratur von Roger Willemsen (2002) wird deutlich, wie einmalig und überragend Goethes Roman zum Suizid war. Erst im 20. Jahrhundert legte der bekannte Schriftsteller Jean Amery mit seinem Werk „Hand an sich legen“ (1976) ein vergleichbares Buch vor.
Nach Erscheinen von Goethes Roman gab es in Europa eine Welle von Nachahmungssuiziden. Leserinnen und Leser des Romans identifizierten sich derart intensiv mit dem Leiden des tragischen Romanhelden, so dass sie in ähnlicher Lage ebenfalls den Suizid als fatale Lösungsstrategie wählten. Die Nachahmungssuizide gingen als Werther-Effekt bis heute in die Fachliteratur zum Suizid ein.
Vom Werther-Effekt zum Enke-Effekt
250 Jahre lang wurden in den Fachgebieten Psychiatrie und Psychologie die Nachahmungssuizide mit dem tragischen Schicksal des jungen Werthers verknüpft. Der amerikanische Soziologe David Philipps war schließlich der erste, der im Jahr 1974 diesen Zusammenhang in der Fachliteratur als „Werther-Effekt“ einführte. Die Suizidforscher Ziegler & Hegerl (2002) erläuterten in einer sehr ausführlichen Übersicht die Zusammenhänge für die Fachwelt. Im Jahr 2009 führte der Suizid des deutschen Nationaltorhüters Robert Enke ebenfalls zu einer Welle von Nachahmungssuiziden. Enke war schwer depressiv und hatte sich in seiner Verzweiflung vor einen Zug geworfen. In den folgenden Monaten nach seinem Suizid stieg die Zahl der Schienensuizide in Deutschland stark an. Seither wird in der Fachliteratur auch der Terminus Enke-Effekt verwendet.
„Der Zauberberg“ von Thomas Mann (1924)
Der Roman „Der Zauberberg“ von Thomas Mann gehört mit den „Buddenbrooks“ zu den wichtigsten Werken des Literaturnobelpreisträgers Thomas Mann. Die hohen Auflagen und zahlreichen Übersetzungen machten ihn schnell zu einem Bestseller. Wie bei Goethe hat auch der Roman von Thomas Mann einen biografischen Hintergrund. Seine Ehefrau Katia war lungenkrank und wurde im Jahr 1912 in einem Lungensanatorium in Davos ärztlich behandelt. Dort besuchte Thomas Mann seine Ehefrau. Der Roman „Der Zauberberg“ spielt ebenfalls in einem Sanatorium in Davos, in dem überwiegend Tuberkulose-Kranke behandelt werden. Der Romanprotagonist Hans Castorp beschäftigt sich darin ausführlich mit der „Sympathie mit dem Tod“, die als Ausdruck von Todessehnsucht verstanden werden kann. Eine Schlüsselszene ist gegen Ende des Romans ein lebensbedrohlicher Schneesturm, in den Hans Castorp gerät. Im Schnee-Traum setzt sich Castorp mit den existentiellen Fragen von Leben und Tod auseinander. Die Antinomie von Leben und Tod gipfelt in seiner folgenden Synthese:
„Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken“.
An der Augsburger Universitätsbibliothek wurde durch den Thomas-Mann-Forscher Klaus W. Jonas und seine Ehefrau Ilsedore die „Zauberberg-Stiftung“ gegründet. Zum Anlass des 100. Jubiläums schrieb der Lieblingsenkel von Thomas Mann, der 84 Jahre alte Frido Mann, einen Festvortrag mit dem Titel „Um der Güte und Liebe willen“, der von seinem Freund Dirk Heißerer vorgetragen wurde. Er thematisierte dabei einen zentralen Gegensatz der heutigen Zeit, jenen zwischen Humanismus und Totalitarismus, den Thomas Mann bereits vor 100 Jahren deutlich vor Augen hatte. In den aktuellen Krisen durch die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten hat dieser Antagonismus leider nichts an Aktualität verloren.
Existentielle Gratwanderung
Die Romane von Johann Wolfgang von Goethe („Die Leiden des jungen Werthers“) und von Thomas Mann („Der Zauberberg“) verdeutlichen die existentielle Gratwanderung, in die Menschen geraten, die einer Todessehnsucht ausgeliefert sind. Bei Goethe führte diese im Roman zum Suizid – bei Thomas fand Hans Castorp eine Bewältigungsstrategie. Thomas Mann war sehr sensibel für das Thema der Todessehnsucht, haben sich doch sechs Menschen seiner Familie selbst umgebracht: seine beiden Schwestern Carla und Julia, seine beiden Söhne Klaus und Michael, eine Schwägerin (zweite Ehefrau seines Bruders Heinrich Mann) und der Bruder Erik seiner Ehefrau Katia starben durch Suizid.
Literatur
Amery, Jean, Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod. Klett-Cotta, Stuttgart 1976
Csef, Herbert, Suizid im 21. Jahrhundert. Neue Phänomene einer existentiellen Herausforderung. Roderer Verlag, Regensburg 2022
Csef, Herbert, Gemeinsam sterben. Die berühmtesten Doppelsuizide. Roderer Verlag, Regensburg
Goethe, Johann Wolfgang von, Die Leiden des jungen Werthers. Weygand, Leipzig 1774
Mann, Thomas, Der Zauberberg. Roman. Fischer, Frankfurt 1924
Philipps, David, The Influence of Suggestion on Suicide: Substantive and Theoretical Implications of the Werther-Effect. American Sociological Review 39 (1974), 340 – 354
Willemsen, Roger, Der Selbstmord. Briefe, Manifeste, Literarische Texte. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2002
Ziegler, Wolfgang, Hegerl, Ulrich, Der Werther-Effekt. Bedeutung, Mechanismen, Konsequenzen. Nervenarzt 73 (2002) 41 – 49
Korrespondenzadresse:
Professor Dr. med. Herbert Csef
Email: herbert.csef@gmx.de