Hans-Gert Pöttering, Präsident des Europäischen Parlamentes a. D. im Interview: „Die christlichen Kirchen sind von großer Bedeutung für die Zukunft der Demokratie“

Prof. Dr. Hans-Gert-Pöttering, Foto: Stefan Groß-Lobkowicz
Prof. Dr. Hans-Gert-Pöttering, Foto: Stefan Groß-Lobkowicz

Wie wichtig ist das Überleben der Kirchen für die Demokratie?

Die christlichen Kirchen sind von großer Bedeutung für die Zukunft der Demokratie. Demokratie braucht Demokraten. Wissenschaftliche Untersuchungen bestätigen, dass religionsgebundene Menschen sich überproportional auch in der Gesellschaft engagieren. Der Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde hat den schönen Satz geprägt: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Dazu leisten die Kirchen einen bedeutenden Beitrag. Christliche Kirchen sind nicht frei von Fehlern, aber besonders resistent gegen autoritäre und totalitäre Systeme. Sie stellen den Menschen in den Mittelpunkt.

Wie können wir Europa aus dem Geist des Christentums neu bauen?

Europa muss nicht neu gebaut werden. Wir müssen uns vielmehr auf die Grundsätze Europas besinnen. Art. 1 unseres Grundgesetzes lautet: “Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

Art. 1 der Charta der Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union, die ich am 12. Dezember 2007 im Europäischen Parlament in Straßburg – zusammen mit den Präsidenten des Europäischen Rates und der Europäischen Kommission – unterschreiben durfte, hat den gleichen Wortlaut: “Die Würde des Menschen ist unantastbar“.

Ohne das Christentum würde es diese Formulierungen nicht geben. Sie sind kein abstraktes Prinzip, sondern – auch angesichts des verbrecherischen Krieges Russlands gegen den Freiheitswillen der Menschen in der Ukraine – Auftrag für politisches Handeln, diese Würde zu verteidigen.

Freiheit ist ein Wert, auf dem das Haus Europas gründet, aber welche christlichen Werte sind es noch, die sich insbesondere von denjenigen der Antike unterscheiden, die für dieses Europa wichtig und prägend sind?

Der bedeutendste Satz des Neuen Testaments ist für mich das Wort von Jesus Christus: “Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“. Dieser Anspruch ist schwer zu erfüllen, aber er beinhaltet unendlich vieles: das Bemühen um Mitmenschlichkeit, Versöhnung, Solidarität, Toleranz, ja Frieden und Freiheit.

Wie würden Sie die Verdienste von Konrad Adenauer und Robert Schuman für das Christentum in Deutschland und Europa würdigen? Was zeichnet Adenauer als christlichen Politiker aus und warum ist das Seligsprechungsverfahren für Robert Schumann ein wichtiges Zeichen auch für die Politik?

Mit zunehmendem Alter wird mir die Bedeutung von Konrad Adenauer, Robert Schuman, Alcide de Gasperi und anderer Persönlichkeiten der Gründergeneration der europäischen Einigung immer mehr bewusst.

Die Erklärung von Robert Schuman vom 9. Mai 1950 – die entscheidende Initiative für die europäische Einigung – war in einem positiven Sinne „revolutionär“. Die historische Logik nach jedem Krieg zwischen Frankreich und Deutschland bestand darin, sich auf den nächsten Krieg vorzubereiten. Robert Schuman bot den Deutschen – 5 Jahre nach Ende des vom verbrecherischen Nationalsozialismus ausgelösten 2. Weltkrieges – Versöhnung und Frieden an. Die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), die durch die Erklärung vom 9. Mai 1950 initiiert wurde, war damals sensationell. Robert Schuman war ein „politischer Heiliger“. Seine Seligsprechung würde ich sehr begrüßen, sie wäre eine Ermutigung, heute und in Zukunft ebenso visionär wie pragmatisch für die Einigung Europas engagiert zu bleiben.

Wir leben in einer Zeit, wo das Christliche in die Defensive gerät. Kann es sein, dass das Christentum und die Idee Europas in den Hintergrund treten, weil sie auf Werten basieren, die dem pluralistischen Weltbild und einer neuen Egozentrik widersprechen?

Gerade in einer Zeit zunehmender Individualisierung kommt es darauf an, das christliche Menschenbild zu verdeutlichen. Der Mensch ist Person – für sich selbst verantwortlich, aber auch verantwortlich für den Mitmenschen. Dies beinhaltet die Prinzipien von Subsidiarität und Solidarität. Die christliche Soziallehre ist auch heute und in Zukunft richtungsweisend für jede Ebene der Politik, auch die europäische.

Wir sollten nicht zu pessimistisch sein. Der große Theologe Karl Rahner hat vom „anonymen Christentum“ gesprochen. Es gibt mehr Christentum, auch wenn wir es nicht immer als solches wahrnehmen.

Junge Menschen von Europa zu überzeugen, ist schwierig. Wie kann der Geist des Christentums so mit der europäischen Idee zusammenwirken, dass beide attraktiver werden?

Jede Generation hat ihre neuen Herausforderungen. Es gibt nicht die eine Lösung. Der Krieg Putins gegen die Ukraine z.B. sollte auch junge Menschen lehren, wie kostbar die Europäische Union als eine Friedens- und Freiheitsgemeinschaft ist. Die Freiheit ist die Schwester des Friedens. Im Übrigen plädiere ich nachdrücklich dafür, dem Geschichtsunterricht in unseren Schulen einen hohen Stellenwert beizumessen, damit die jungen Menschen wissen, woher wir kommen und wohin wir aufgrund unserer historischen Erfahrungen gehen bzw. nicht gehen sollten.

Was heißt es für Sie, wenn wir unsere christlichen Wurzeln zugunsten säkularer Beliebigkeit aufgeben?

Wichtig ist, dass wir uns zu unseren christlichen Werten bekennen. Auch bin ich überzeugt: Die christlichen Wurzeln bleiben stark, auch wenn wir sie nicht immer als solche erkennen.

Was wäre der Staat ohne die christlichen Werte, gleichwohl wir eine Trennung von Staat und Kirche haben?

Das Grundgesetz und auch die EU-Charta der Grundrechte sind stark von christlichen Werten geprägt, auch wenn sie so nicht benannt werden. Niemand denkt daran, das Grundgesetz und die Charta der Grundrechte zu „entchristlichen“.

Was ist der Mehrwert der Kirche gegenüber dem Staat?

Kirchen sind das sichtbare Zeichen in unserer Gesellschaft dafür, dass wir eine „Verantwortung vor Gott und den Menschen“ (Präambel Grundgesetz) haben. Wir verteidigen die Würde des Menschen und wissen gleichzeitig, dass der Mensch nicht das Maß aller Dinge ist. Dieses Bewusstsein zu vermitteln, bleibt der Auftrag der Kirchen und ist ihr „Mehrwert“.

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Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".