Wenn es um das Verhältnis von Politik und Literatur geht, wird der Gemeinplatz vom garstigen politischen Lied gern zitiert. Wir finden ihn natürlich in Goethes Faust, wo sonst! In Auerbachs Keller sagt Brander: „Ein garstig Lied! Pfui! Ein politisch Lied!“ (Goethe 1808: Z. 2092) und spricht damit eine zur Goethezeit weit verbreitete Ansicht aus, die Johann Gottfried Herder 1792 gar „Politisch Lied, ein böses, böses Lied“ nennt. Es geht mir um eine Besichtigung vor allem der deutschsprachigen literarischen Landschaft und um ihr Verhältnis zur Politik.
Mein erster Eindruck ist: Reagiert die Schöne Literatur, Belletristik und Poesie, überhaupt auf Politik, so tut sie es meist, um der Politik am Zeuge zu flicken: Gesellschaftliche Deformationen werden der Politik und den Politikern kritisch, spöttisch oder gar höhnisch angelastet; positive gesellschaftliche Zustände hingegen nur äußerst selten unmittelbar auf das literarische Haben-Konto der Politik gebucht. (Freilich ist festzuhalten, dass eine der Politik zustimmende Literatur wohl eher biedermeierlich, betulich und langweilig wirken muß und sich schlecht mit dem Anspruch vor allem der Theater-Dichtung verträgt, besonders dem Skandalon ihr Interesse zuzuwenden; oder sie wirkt nach Jahren nur noch peinlich und weckt das Unverständnis der Nachgeborenen, wie etwa die Stalin preisende Lyrik Johannes R. Bechers.) Heinrich Manns Roman “Der Untertan” aus dem Jahre 1914 ist für literarische Kritik am Politischen ein Parade-Beispiel. Literatur nimmt in dieser Form eine Art kritischer Kontrollfunktion gegenüber der Politik wahr, die gelegentlich zwar überspitzt sein mag, aber gerade deshalb durchaus Wirkung ausüben kann. Weitere Beispiele sind die Dichter der Charta 77 in der Tschechoslowakei, unter ihnen Vaclav Havel, aber auch die wirkungsmächtigen Gulag-Bücher von Alexander Solschenizyn und nicht zuletzt die austriaphoben Stücke von Thomas Bernhard und Elfriede Jelinek.
Man findet aber seit alters überdies eine zweite Weise, sich literarisch mit Politik zu befassen und nicht nur auf Politik zu reagieren: den gelegentlich auch programmatischen Versuch, politische Prozesse zu beeinflussen; die erste Weise, die Reaktion auf Politisches, kommt indessen bei weitem häufiger vor, allerdings sind die Grenzen fließend. Die programmatische Literatur hat ihre hohe Zeit vor allem, wenn Umbrüche besonderer Art stattfinden, wenn Volksmeinung und Herrschaftsmeinung besonders weit auseinander klaffen, wenn es darum geht, sich auch mit der Macht des Wortes gegen Unfreiheit und Unterdrückung zu wehren. Georg Weerth und Ernst Toller, Manés Sperber und Hermann Broch wären hier stellvertretend für manche andere zu nennen.
Freilich überwiegt auch in einer solchen Situation in der Debatte der gebildeten Schichten (mit denen die eingebildeten gelegentlich hohe Schnittmengen aufweisen) meist der Versuch, die Welt des Geistigen von der Welt des Politischen sorgfältig zu trennen, um das Erhabene nicht vom Schmutzigen verunreinigen zu lassen. Denn daß Politik ein schmutziges Geschäft sei, ist bis heute ein unumstößlicher Gemeinplatz in deutschsprachigen Landen geblieben, für den, wer wollte es leugnen, ja auch immer wieder beeindruckende Beweise geliefert werden.
Freilich steht kein anderer Berufsstand so im Zentrum der Kritik wie der des Politikers; das liegt in der öffentlichen Natur der Sache. Politik hat ihren Namen, weil sie bei den alten Griechen auf der Agorá, dem Marktplatz der Polis, der Stadt, verhandelt wurde. Alles weniger Öffentliche entzieht sich demgegenüber leichter der Kritik. Politik ist indessen nichts anderes als ein Spiegel der Gesellschaft, manchmal allerdings ihr Zerrspiegel.
In der fraglosen Ausnahmesituation nach dem zweiten Weltkrieg, als Heinrich Böll, Paul Celan, Nelly Sachs und andere im Westen Deutschlands das Desaster der Unmenschlichkeit in Worte zu fassen bemüht waren, erfand Hans Egon Holthusen den „Unbehausten Menschen“. Er versuchte den Intellektuellen, insbesondere den Dichter, vor der Inanspruchnahme durch die Politik, ja, durch die banale Lebenswelt, zu retten. In seinem Buch von 1951 heißt es: „Der Intellektuelle scheint heute vor einer schwerwiegenden, ja verhängnisvollen Alternative zu stehen: entweder den Begriff des 'Notstands' anzuerkennen und in brennender Sorge um das Wohl der Gesellschaft ein ideologisches Engagement auf sich zu nehmen, oder aber den Ort seiner geistigen Verantwortung jenseits der heute gültigen ideologischen Fronten zu suchen: in der Konzentration auf das unverwechselbar eigene Thema. Der Engagierte läuft Gefahr, zum politischen oder kulturpolitischen 'Aktivisten' zu entarten [sic!] und mit seinem Wort zu nahe an die aktuellen Propagandaklischees heranzukommen …“ Und Holthusen kommt zu dem Schluß: „Wer einen wirklich ursprünglichen und selbständigen Gedanken denkt, der ist zum intellektuellen 'Aktivisten' nicht geeignet.“ (Holthusen 1951: 189f.)
Man ist an das ebenfalls bis heute virulente Wort „Politik verdirbt den Charakter“ erinnert. Mit diesem Slogan warb ein Prospekt 1881 für das „Blatt für die Gebildeten aller Stände“, das den Untertitel „Eine Zeitung für Nichtpolitiker“ trug. Diese Auffassung von Kultur und Bildung als Widerpart der Politik setzte sich jahrzehntelang in Deutschland fort, Thomas Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen“ von 1918, deren Wirkung indessen eminent politisch war, geben vielleicht das beste Beispiel dazu. Dabei hatte es im Deutschland des 19. Jahrhunderts bis zur Reichsgründung von 1871, aber auch noch darüber hinaus, vor allem in der Lyrik eine Epoche gegeben, die extrem politisch war – und deshalb extrem populär. Heinrich Heine, Georg Büchner, Ludwig Uhland, Ferdinand Freiligrath, Georg Herwegh und viele andere waren in ihren Dichtungen von zweierlei beseelt: Zum einen von der Sehnsucht nach einer geeinten deutschen Nation und zum anderen nach der Beseitigung der Fürstenherrschaft. Von Staats wegen wurden sie darob, wen wundert es, verfolgt und verfemt, die Karlsbader Beschlüsse von 1819 unterwarfen sie verschärfter Zensur.
Das Wort Freiheit spielte damals eine besondere Rolle in den Gedichten und Texten, manchmal voller Pathos, Inbrunst und Sehnsucht verwandt, manchmal aber auch spöttisch ironisiert, mit bitterer Resignation angesichts der reaktionären Übermacht und der Gleichgültigkeit vieler Menschen, wie bei Heinrich Heine, wenn er um 1840 schreibt: „Der Knecht singt gern ein Freiheitslied / des Abends in der Schänke. / Das fördert die Verdauungskraft / und würzet die Getränke.“ (Heine 1964: 20) Insgesamt aber war „Freiheit“ die appellative, dynamische Parole der Dichter, nicht nur wenn Hoffmann aus Fallersleben „Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland“ forderte, sondern auch wenn die Liberalisierung der bestehenden, die Untertanen knechtenden Verhältnisse zum lyrischen Anliegen wurde.
Ein frühes Beispiel, den liberalen Freiheitsbegriff in lyrische Form zu kleiden und literarisch eine freie Gesellschaft zu begehren, gibt ein Gedicht des Elsässers Gottlieb Konrad Pfeffel, das 1792 im von Johann Heinrich Voß herausgegebenen „Musenalmanach“ erschien. Es trägt den Titel „Ein freier Mann“.
„Wer ist ein freier Mann?
Der, dem nur eigner Wille,
Und keines Zwingherrn Grille
Gesetze geben kann;
Der ist ein freier Mann!
Wer ist ein freier Mann?
Wem seinen hellen Glauben
Kein frecher Spötter rauben,
Kein Priester meistern kann;
Das ist ein freier Mann!
…
Wer ist ein freier Mann?
Der das Gesetz verehret,
Nichts tut, was es verwehret,
Nichts will, als was er kann;
Das ist ein freier Mann!
…
Wer ist ein freier Mann?
Wem kein gekrönter Würger
Mehr, als der Name Bürger
Ihm wert ist, geben kann;
Der ist ein freier Mann!“
(Grab; Friesel 1980: 20f.)
Dies ist eine Form der politischen Literatur, deren Programmatik gewissermaßen auf der Hand liegt. Die politischen Forderungen – Herrschaft des Rechts, Religionsfreiheit, Abschaffung von Standes-Privilegien etc. – werden beim Namen genannt. Es gibt, und bitte verzeihen Sie den scheinbar weiten Zeitsprung, der nun folgt, eine andere Form der politischen Literatur, die ebenfalls programmatisch ist, ebenfalls in einer Situation der Unterdrückung entstanden, die aber ganz andere Ziele hat, so scheint es wenigstens. Sie fordert auch die Freiheit ein von der Politik, aber nicht die politische Freiheit aller Menschen, sondern die Freiheit des künstlerischen Individuums, die Freiheit der Kunst und des Geistes, und sie begnügt sich nicht mit dieser Forderung, sondern sie praktiziert sie gewissermaßen in Form des sprachlichen Ausdrucks.
Ich möchte mit diesen vielleicht etwas kryptischen Worten exemplarisch anspielen auf den verstorbenen Büchner-Preis-Träger Wolfgang Hilbig, der zunächst, in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts, in der DDR nicht publizieren durfte. Sein erster Gedicht-Band, „abwesenheit“, ist häufig politisch interpretiert worden. “Abwesend” nämlich mit seiner geistigen Produktion von der real existierenden Wirklichkeit, die der Freiheit Hohn sprach; nicht oppositionell, aber abwesend. Ich will dahingestellt sein lassen, ob diese Interpretation richtig ist, will aber vermerken, daß es auch ein Anliegen der politischen Literatur sein kann, die geistige Freiheit mit den Mitteln der Kunst einzufordern, ohne sich plakativ politischer Begrifflichkeiten zu bedienen; die Freiheit, deren Abwesenheit Hilbig in seinem Stasi-Roman „Ich“ in beklemmender Form durch Lektüre erfahrbar gemacht hat. Roman Bucheli schreibt in der Neuen Zürcher Zeitung über die Dichtung Hilbigs, sie habe „die Widerstandskraft der Kunst aufs Entschiedenste gestärkt“. Die Widerstandskraft der individuellen geistigen Freiheit gegen das Diktat der Wirklichkeit, gegen die Fesseln der realen Verhältnisse. Gegen Fesseln, die systemkonforme Literaten wie Hermann Kant, Peter Hacks oder Erwin Strittmatter mit Worten zu übertünchen versuchten.
Noch einmal zurück zu den Dichtern des 19. Jahrhunderts: Es ist befremdlich, in welchem Maße nach der Reichsgründung von 1871 die Literatur der Freiheit von nationaler und ideologischer, vor allem aber von deutschtümelnder und frömmelnder Schriftstellerei verdrängt wurde. Es ist nachgerade peinlich, heute Sedan-Gedichte von Max Geißler und ähnlich Nationalistisches oder den pietistischen Schmalz zum Beispiel von Emil Frommel zu lesen. Das Biedermeier brachte viele ähnliche Texte hervor, aus denen die tiefe Sehnsucht des deutschen Michel nach der Abwesenheit von Politik und seine Obrigkeitsgläubigkeit sprechen, und die eben deshalb hohe Auflagen erzielten. Freilich sollte man nicht glauben, daß diese Produktionen harmlos gewesen wären. Im Gegenteil, sie trugen bei, politischen Fortschritt zu verhindern und die unzeitgemäßen dynastischen Verhältnisse in Deutschland zu stabilisieren. Schließlich führte diese Geisteshaltung zum Duckmäusertum und zur speichelleckenden Untertanengesinnung, am Ende in die Barbarei der Nazis.
Eines setzte sich trotz allem fort bis in unsere Tage: die ideologische Polit-Literatur. Einmal von hoher, dann wieder von eher mäßiger Qualität, fand sie auf der Linken ihren Höhepunkt mit Bertolt Brecht. Daß er ein Künstler von hohen Graden ist, steht außer Frage. Aber mich hat eine Stelle in dem großartigen Buch von Sebastian Haffner „Geschichte eines Deutschen“ nachdenklich gestimmt. Dort heißt es:
„Dann nahmen die Freunde den Krug
Und beklagten die traurigen Wege der Welt
Und ihr bitteres Gesetz
Und warfen den Knaben hinab.
Fuß an Fuß standen sie zusammengedrängt
An dem Rande des Abgrunds
Und warfen ihn hinab mit geschlossenen Augen
Keiner schuldiger als sein Nachbar
Und warfen Erdklumpen
Und flache Steine
Hinterher.
Das ist von dem deutschen kommunistischen Dichter Brecht, und es ist positiv und preisend gemeint. Hierin wie in so vielem sind Kommunisten und Nazis der gleichen Meinung.“ (Haffner 2002: 280f.)
Es geht Haffner an dieser Stelle um die Verteidigung der Individualität gegen die gleichmacherische, verdummende und abstumpfende Ideologie des Kollektivs, die er in einem Lager der Nazis 1933 am eigenen Leibe erfahren hat. Dagegen, so Haffner, muß der zivilisierte Mensch aufstehen; was die Deutschen freilich, und niemand schildert die Gründe dafür anschaulicher als Haffner, den Nazis gegenüber nicht fertigbrachten. Aus Veranlagung, wie Haffner meint; womit er hoffentlich unrecht hat.
Immerhin hat die linke Ideologie im Nachkriegsdeutschland-Ost wie -West ein dickes theoretisches Unterfutter erhalten; wiederum allzu oft gegen die als bürgerlich und damit reaktionär denunzierte Freiheit des Individuums gerichtet und einem Literatur-Begriff das Wort redend, der dienstbar gemacht werden sollte für die marxistisch-leninistische Sache der Diktatur des Proletariats. Nur ein knapper Beleg:
Der marxistische Soziologe Urs Jaeggi schrieb 1972 einen Essay mit dem Titel „Literatur und Politik“. Darin heißt es mit Stoßrichtung gegen die sogenannte „popularisierte bürgerliche Literatur“: „Die bisher gelähmten Konsumenten der Massen(un)kultur hätten sich kennenzulernen als mögliche Produzenten einer möglichen Kultur, die ihre eigenen Erfahrungen, ihre eigenen Aufgaben und Probleme auszudrücken vermöchte.“ (Jaeggi 1972: 140) Im Kontext seines Essays soll das heißen: Aus verblendeten Konsumenten werden mit dem richtigen Bewußtsein ausgestattete Produzenten; subjektive Wertungen spielen keine Rolle mehr, an ihre Stelle tritt die Darstellung objektiver Sachverhalte.
Derzeit liest man so etwas nur noch selten. Dafür findet sich manches, das kaum weniger befremdlich klingt. Wenn man einen anderen Ideologen, einen unserer Tage und einen von der diffusen Rechten, politisch ernst nimmt, Botho Strauß nämlich, so ängstigt man sich, Haffner möge doch richtig liegen und gegen die völkische, tribalistische Veranlagung der Deutschen sei wirklich kein Kraut gewachsen. Es schmerzt den Leser, der die künstlerischen Qualitäten von Strauß ansonsten schätzen mag, um so mehr, den „Anschwellenden Bocksgesang“ und ideologisch ähnlich Ätzendes auch in seinem letzten Buch „Vom Aufenthalt“ lesen zu müssen. Vielleicht gibt es ja einen gnädigen Gott, der ihn auf den rechten Weg führt.
Von den literarischen Steigbügelhaltern Hitlers will ich schweigen; wie allzuviele andere Kopfarbeiter der Weimarer und der Nazi-Zeit gehören sie zu einer Spezies, für die sich nachfolgende Generationen schämen müssen. Die Opposition der Schriftsteller fand während der zwölf dunklen Jahre nahezu ausschließlich von der Emigration aus statt. Und was geschah nach 1945, als die Alliierten West-Deutschland zur Demokratie drängten? Wurden die Literaten, wie es beim Nachbarn Frankreich seit der Revolution von 1789 ganz selbstverständlich war, zu citoyen, zu politischen Wesen, oder blieben sie das, was Thomas Mann in den bereits erwähnten “Betrachtungen” wie folgt ausdrückte: „Ich will nicht Politik. Ich will Sachlichkeit, Ordnung und Anstand. Wenn das philisterhaft ist, so will ich ein Philister sein. Wenn es deutsch ist, so will ich in Gottesnamen ein Deutscher heißen.“? (Mann 1956: 253) Lassen wir drei von ihnen zu Wort kommen, zwei aus der alten Bundesrepublik, einen aus der DDR.
„Jedes Wort, das ich niederschreibe und der Veröffentlichung übergebe, ist politisch, d.h. es zielt auf einen Kontakt mit größeren Bevölkerungsgruppen hin, um dort eine bestimmte Wirkung zu erlangen.“ Peter Weiss in „10 Arbeitspunkte eines Autors in der geteilten Welt“.
„Ich sehe nur – und mich eingeschlossen – verwirrte, am eigenen Handwerk zweifelnde Schriftsteller und Dichter, welche die winzigen Möglichkeiten, zwar nicht beratend, aber handelnd auf die uns anvertraute Gegenwart einzuwirken, wahrnehmen.“ Günter Grass in „Vom mangelnden Selbstvertrauen der schreibenden Hofnarren unter Berücksichtigung nicht vorhandener Höfe“.
(Kuttenkeuler 1973: 293, 299)
„Es ist das Vorrecht der Dichter, vernunftlos zu träumen. Es ist das Vorrecht der Vernünftigen, sie zu verlachen. Aber die Träume gehen weiter …“ Stephan Hermlin in „In den Kämpfen der Zeit“. (Wagenbach; Stephan; Krüger 1979: 321)
Diese drei Zitate stammen aus den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts und beleuchten in absteigender Linie die Nähe der Literaten zur Politik. Viele andere könnte man hinzufügen, von Martin Walser zum Beispiel, der damals für den Kommunismus Blochscher Prägung plädierte, wovon er heute nichts mehr wissen will; von Heinrich Böll, der stets besonnen, aber leidenschaftlich gegen allzuviel unkontrollierte Staats- und Medienmacht anging; von Hans Magnus Enzensberger, der vor lauter Intelligenz und Metaphorik am Ende selbst nicht mehr wußte, wo er stand; auch von Ingeborg Drewitz, die nichts davon hielt, sich allgemein politisch zu outen, der es aber ganz dezidiert darum ging, sich schreibend in politischen Einzelfragen zu engagieren, zum Beispiel gegen die Folter.
Die obigen Zitate und Hinweise scheinen mir Zeichen dafür zu sein, daß das Verhältnis der Literaten zur Politik in den ersten drei Jahrzehnten nach 1945 ungewiß geblieben ist; gelegentlich mit ideologisch strammer Haltung, insgesamt aber doch ungewiß und tastend, selbst wenn der Zeitgeist zum politischen Bekenntnis geradezu nötigte. Etwa seit Ende der Siebziger scheint sich die Hinwendung zum Politischen in der ehemaligen Bundesrepublik wieder in Gleichgültigkeit oder gar Abwendung gewandelt zu haben. Mag es auch die alten Schlachtrösser wie Günter Grass und Martin Walser nach wie vor zur Politik hinziehen, die Jungen und auch die nicht mehr ganz so Jungen aus dem Westen scheinen mir eher politisch enthaltsam zu dichten. Ein Beispiel aus dem Jahr 1999:
Der von manchen Rezensenten als zukunftsweisend beraunte Thomas Lehr-Schinken „Nabokovs Katze“. Psychologisch, literarisch und vielleicht auch sonst überaus bemerkenswert (so hieß es jedenfalls), von Politik aber keine Spur. Nirgends. (Ganz am Rande, persönlich und subjektiv, erlaube ich mir, das Buch außerdem langweilig zu finden.) Sicher, es gibt auch andere Beispiele, Franz Hohler, Monika Maron und Peter Henisch etwa oder einen Außenseiter wie Karl Günther Hufnagel, aber Nachweise für eine wirklich politische Literatur unserer Tage sind sie gewiß nicht.
Soll Literatur denn nun überhaupt mit Politik zu tun haben? Darauf kann man nicht kategorisch mit Ja oder Nein antworten. Was ich allerdings bedaure, ist, daß viele unserer Autoren und Autorinnen für Politik und für politische Aspirationen der Literatur überhaupt keine Antennen zu haben scheinen; ja, sie sind ihnen, wie Thomas Lehr, Ulla Hahn, Wilhelm Genazino, Karin Struck, Judith Herrmann und im Grunde auch Peter Handke, wohl eher gleichgültig. Darin immerhin sind sie getreue Glieder der Mehrheit ihres deutschsprachigen Volkes.
In anderen Ländern ist das ganz anders. In Lateinamerika etwa kann ich mir Literatur ohne Politik kaum vorstellen, auch in Rußland oder in der Tschechischen Republik nicht. Im deutschen Sprachraum blicken wir indessen eher wehmütig auf die großen Texte der Vergangenheit, die ihre Zeit wenigstens politisch beleuchtet und analysiert haben; die häufig wie in einem Schlangenei die künftige Gestalt der Gesellschaft durchscheinen ließen: auf die großartige Trilogie „Die Schlafwandler“ von Hermann Broch, auf Karl Kraus, Joseph Roth und Kurt Tucholsky. Auch auf die Roman-Trilogie von Wolfgang Koeppen über die junge Bundesrepublik, auf die deutsch-deutschen Bücher von Uwe Johnson und auf Erich Frieds Gedichte. Nicht zu vergessen die literarischen Produktionen der 68er, auch wenn manches darunter heutiger Prüfung nicht mehr standhalten mag.
Mir scheint, daß das Grundbedürfnis nach Freiheit eine wichtige Rolle spielt, wenn es um die literarische Auseinandersetzung mit politischen Themen geht. Sobald die Freiheit bedroht ist, regt sich auch in der Literatur politisches Engagement; ist sie gewährleistet, jedenfalls im Großen und Ganzen, so scheinen sich die Literaten eher auf andere Gebiete zu konzentrieren.
Das zeigte sich auch an den Büchern der ehemaligen DDR-Literaten: Um die Wendezeit von 1989 und auch vorher schon wurde eine Fülle politischer Texte verfaßt: Stefan Heym, Erich Loest, Christof Hein, Wolf Biermann und viele andere veröffentlichten meist im Westen Kritisches zur Situation im sozialistischen Osten. Knapp zehn Jahre später meldete sich mit Jana Hensel, Jakob Hein, Thomas Brussig und anderen eine neue Generation zu Wort: „Spaß-Literaten“, das Politische rückte in den Hintergrund. Inzwischen gibt es zum Glück auch darauf eine Reaktion. Julia Franck, Uwe Tellkamp, Claudia Rusch und Eugen Ruge etwa blicken zurück und schildern die politischen Verhältnisse, wie sie wirklich waren: Die politische Freiheit hatte keine Chance. Aber das sind Ausnahmen. Insgesamt findet sich derzeit eher wenig Beeindruckendes auf dem Markt der politischen Literatur. (Hinzuweisen ist allerdings darauf, dass es inzwischen eine Reihe von Texten gibt, die Politisches als Kulisse wählen, ohne eigenes politisches Engagement ausdrücken zu wollen. Ein Beispiel dafür ist der Roman „Teil der Lösung“ von Ulrich Peltzer.)
Dabei hat etwa Günter Grass mit seinem zu Unrecht meist gescholtenen Roman “Ein weites Feld” bewiesen, daß auch unabhängig von freiheitsgefährdenden Zeiten politisch brisante Themen einer literarischen Bearbeitung bedürfen – zum Beispiel damit sie sich auch dort einprägen, wo politologische, soziologische und andere theoretische Abhandlungen nicht gelesen werden. Wäre es nicht des Schweißes der Edlen wert, Themen wie Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit, Arbeitslosigkeit, Terrorismus oder Machtgier von Parteien und Politikern auf dem Pegasus zu Leibe zu rücken? Ich meine ja, bin aber nicht sicher, daß unsere literarische Elite damit etwas anfangen kann; bin auch nicht sicher, daß das Feuilleton eine solche Literatur goutieren würde. Und was dort nicht gepriesen wird, wird auch nicht gekauft – jedenfalls meist nicht. So scheint der Konsum die Literatur und ihre Themen zu steuern. Aber wer steuert den Konsum? Vielleicht sind es mancherorts die alten deutschen Vorurteile: daß Politik ein schmutziges Geschäft sei, mit dem sich die Sachwalter des Geistigen, zumal die Produzenten großer Literatur, nur im äußersten Notfall beschäftigen sollten.
Literatur
Bucheli, Roman 2002: Die kurzen Bewegungen der unteren Gesichtshälfte. Wolfgang Hilbigs Versuche zur Rückgewinnung der Sprache. In: Neue Zürcher Zeitung vom 26./27. Oktober. Seite 49.
Craig, Gordon A. 1993: Die Politik der Unpolitischen. Deutsche Schriftsteller und die Macht 1770 – 1871. München.
Franck, Julia 2003: Lagerfeuer. Köln.
Frommel, Emil o.J.: In zwei Jahrhunderten. Stuttgart.
Geißler, Max 1913: Gedichte. Volksausgabe. Leipzig.
Goethe, Johann Wolfgang von 1808: Faust. Der Tragödie erster Teil. Tübingen.
Grab, Walter; Friesel, Uwe 1980: Noch ist Deutschland nicht verloren. Unterdrückte Lyrik von der Französischen Revolution bis zur Reichsgründung. Texte und Analysen. Berlin.
Grass, Günter 1995: Ein weites Feld. Roman. Göttingen.
Haffner, Sebastian 2002: Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914 – 1933. München.
Heine, Heinrich 1964: Sämtliche Werke Band IV. Herausgegeben von Hans Kaufmann. München.
Hilbig, Wolfgang 1979: abwesenheit. gedichte. Frankfurt am Main.
Hilbig, Wolfgang 1993: „Ich“. Roman. Frankfurt am Main.
Holthusen, Hans Egon 1951: Der unbehauste Mensch. Motive und Probleme der modernen Literatur. München.
Jaeggi, Urs 1972: Literatur und Politik. Ein Essay. Frankfurt am Main.
Kuttenkeuler, Wolfgang 1973: Poesie und Politik. Zur Situation der Literatur in Deutschland. (Hrsg.) Bonn.
Lehr, Thomas 1999: Nabokovs Katze. Roman. Berlin.
Loest, Erich 1995: Nikolaikirche. Leipzig.
Mann, Thomas 1956: Betrachtungen eines Unpolitischen (1918). Frankfurt am Main.
Peltzer, Ulrich 2007: Teil der Lösung. Berlin.
Ruge, Eugen 2011: In Zeiten des abnehmenden Lichts. Reinbek.
Strauß, Botho 1993: Anschwellender Bocksgesang. In: Der Spiegel vom 8. Februar.
Strauß, Botho 2010: Vom Aufenthalt. München.
Wagenbach, Klaus; Stephan, Winfried; Krüger, Michael 1979: Vaterland, Muttersprache. Deutsche Schriftsteller und ihr Staat seit 1945. Berlin.
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