Tolstoi erbte das Landgut Jasnaja Poljana im Alter von 18 Jahren. Zu dem Gut gehörten damals über 1800 Hektar Land, fünf Dörfer und 300 Leibeigene, worunter Männer im arbeitsfähigen Alter gezählt wurden. Er wurde in Jasnaja Poljana in einem schlichten Grab beerdigt Das Gut ist heute ein vielbesuchtes Museum, das seit 1921 existiert. Seine Hauptwerke Krieg und Frieden und Anna Karenina, die Tolstois literarischen Weltruhm begründeten, schrieb er auf dem Landgut. Die politisch-soziale Situation in Russland war durch die Entstehung eines Industrieproletariats in den großen Städten wie Moskau oder St. Petersburg und auf dem Lande durch Armut und ein Fortbestehen feudaler Herrschaftsverhältnisse geprägt. Es fand eine Vielzahl von Bauernaufständen statt, die sich gegen die zaristische Repression auflehnten. Insbesondere für die ärmeren Schichten der russischen Bevölkerung forderte Tolstoi den Zugang zur Bildung. Er gründete 1849 im Alter von 21 Jahren die erste Bauernschule auf diesem Gut, die jedoch keine zwei Jahre nach ihrer Eröffnung wieder schließen musste. Die mangelhafte finanzielle Absicherung begleitete das Projekt Tolstois von Anfang an. Seine Bauernschule in Jasnaja Poljana galt als Ort der selbsttätigen, freiwilligen und alltagsorientierten Bildung.[1]
Sein widerwilliger Eintritt in die russische Armee 1851, wo er am Kauskasus- und am Krimkrieg teilnahm, bedeutete die Hinwendung Tolstois zu einer antimilitaristischen Überzeugung. Es gab freundschaftliche Kontakte und einen Briefwechsel zwischen Tolstoi und Mahatma Ghandi und dessen Widerstandsbewegung im von Großbritannien kolonisierten und ausgebeuteten Indien. Gemäß der reinen christlichen Lehre wandte er sich nun gegen Krieg und Militarismus, Feudalismus, gegen Leibeigentum sowie gegen die Kirche und ihre Dogmen. Nach dem Kriegsdienst kehrte er auf sein Landgut zurück und gab den Leibeigenen 1856 die Freiheit. Das war eine mutige Tat, denn die Leibeigenschaft in Russland endete erst 1861, in Wirklichkeit erst viel später.
Tolstoi entwickelte eine Abneigung gegenüber der rituellen Form der Religiosität wie es in der russisch-orthodoxen Kirche damals üblich war. Seine ideologischen Überzeugungen orientierten sich am Urchristentum, das die starren Regeln und Dogmen der russisch-orthodoxen Kirche ablehnte. Das Urchristentum bezeichnet die Anfangsjahre des Christentums, die vom Jesus von Nazareth bis zur Abfassung der letzten urchristlichen Schriften reicht (30–ca. 100). Tolstoi orientierte sich besonders an der Jerusalemer Urgemeinde und die als normatives Wort Gottes im Neuen Testament gesammelten Schriften und am Gebot der Nächstenliebe.[2]Ausgangspunkt für seine Kritik an Gesellschaft und Kirche war die „Bergpredigt“ aus dem Neuen Testament. In seinem Werk „Das Himmelreich in Euch“ aus dem Jahre 1893 entwickelte er seine grundlegenden christlichen Überzeugungen und deren politischen und gesellschaftlichen Folgen. Er übersetzte ebenfalls die Evangelien erneut ins Russische.
Aus Gründen persönlicher pädagogischer Weiterbildung bereiste er 1857 und 1860/61 westeuropäische Länder. Dabei besuchte er Künstler wie Charles Dickens oder Iwan Sergejewitsch Turgenew und Pädagogen wie Adolph Diesterweg. Tolstoi übernahm Diesterwegs Ansätze der Anschauung und Selbsttätigkeit als didaktische Grundsätze und die Ideen der Volksschule als Lehranstalt für die arbeitenden Klassen. Außerdem war Tolstoi von Diesterwegs Ziel der Heranbildung eines mündigen und kritischen Bürger durch Bildung angetan, was im krassen Gegensatz zum despotischen zaristischen Russland seiner Zeit stand. Negative Eindrücke erhielt er bei der Hospitation in Preußen an einigen Schulen und Kindergärten. Tolstoi bemerkte: „Außer der abstumpfenden Wirkung der Schule, für die der Deutsche das schöne Wort ‚verdummen‘ hat, und die in einer dauernden Verkrüppelung der geistigen Fähigkeiten besteht, gibt es noch eine andere viel schädlichere Wirkung, die darin besteht, daß das Kind im Laufe von mehreren Stunden, durch das Schulleben stumpf gemacht, täglich während dieser Zeit, die für das Lebensalter so kostbar ist, aus jenen Lebensbedingungen herausgerissen wird, die die Natur selbst für seine Entwicklung vorbestimmt hat.“ [3] Nach seiner Rückkehr bemerkte er außerdem, „daß die einzige Grundlage der Erziehung die Erfahrung und ihr einziges Kriterium die Freiheit ist“.[4] Bildung interpretierte er als Begegnung von Menschen zum Zweck der Emanzipation.[5]
Im Jahre 1859 gründete er auf seinem Gut erneut eine Bauernschule, die bis 1862 von ihm geleitet wurde. Zwischen 1859 und 1862 kam es zur Gründung weiterer 20 dieser Schulen. Der Zeitraum von 1859 bis 1863 gilt heute als die Phase seiner intensivsten Beschäftigung mit pädagogischen Fragen. Daneben gab er auch eine eigene pädagogische Zeitschrift heraus, die von 1862 bis 1863 in zwölf Ausgaben erschien. Sie diente der Verbreitung seiner Erziehungs- und Bildungskonzeption und sollte im despotischen Rußland eine Reformdiskussion innerhalb des staatlichen Erziehungswesens darstellen. 1862 wurden seine Schulen durch die Staatsgewalt geschlossen. Dies wurde damit begründet, sie seien „ein Hort von Anarchie, Negation und Chaos“.[6] Tolstoi wurde außerdem einer angeblichen Verschwörung gegen den Zaren beschuldigt, was einen Vorwand darstellte, sein Wohnhaus sowie seine Schule zu durchsuchen und zu verwüsten. 1863 zog sich Tolstoi daraufhin aus der pädagogischen Arbeit zurück und konzentrierte sich wieder verstärkt auf seine literarischen Werke.[7] Der dritte Versuch, die „Universität der Bastschuhe“, eine höhere Schule für die Bauernschaft, scheiterte an den fehlenden Finanzen.
In seiner pädagogischen Theorie ging Tolstoi davon aus, dass die frühkindliche Erziehung hauptverantwortlich dafür ist, wie sich Menschen im späteren Leben in ihrem Charakter entwickeln würden. Sein Wille, die Gesellschaft zu verändern, wurde für ihn vor allem eine Frage der künftigen Erziehung. Er ging davon aus, dass Kinder ein im Vergleich zu Erwachsenen viel stärker von „Bildern“, „Farben“ und „Tönen“ geprägtes unterbewusstes Denken besäßen.
Tolstoi wurde inspiriert von Jean-Jacques Rousseaus pädagogisches Werk „Emile oder über die Erziehung“. Besonders der weitgehende Verzicht der Autorität gegenüber den Schülern und das Erfahrungslernen beeindruckten Tolstoi. Neben dem Unterricht standen Schwimmen, Schlittschuhlaufen, Reisen und Wandern und die dazugehörigen Naturerfahrungen im Mittelpunkt.
Er unterschied ausdrücklich zwischen Erziehung als Anwendung von Zwang und Bildung als eine freiwillige und freiheitliche Begegnung zwischen Lehrer und Schüler: „Woran liegt es, daß es eine Erziehung gibt? Wenn eine so unmoralische Erscheinung, wie Zwang in der Bildung, d.h. Erziehung Jahrhunderte existieren kann, so muß die Ursache dazu in der menschlichen Natur wurzeln. Diese Ursache glaube ich zu entdecken, erstens in der Familie, zweitens in der Religion, drittens im Staat und viertens in der Gesellschaft.“ [8]
In den Schulen Tolstois gab es keinen Zwang zur Pünktlichkeit, was auch in der Realität funktionierte. Laut Tolstoi waren nur diejenigen Schüler unpünktlich, die durch Arbeit für ihre Eltern vom Schulbesuch abgehalten wurden. Seiner notenfreien Beurteilung widersetzten sich seine Schüler, die eine Einordnung ihrer Leistungen verlangten. Die Mitbestimmung bei der Auswahl des Unterrichtsstoffes und eine Konfliktregelung, die in den Händen der Schüler lag, stellten neuartige Ansätze von Demokratisierung des Schulsystems dar. Demokratie in der Schule bedeutet für Tolstoi eine Dynamik der Lehrer-Schüler-Interaktion. Bildung wurde als Dialog mit den Schülern verstanden, nicht als Belehrung oder Unterweisung (Didaktik des Dialoges). Dies führte dazu, dass die Schule Tolstois jedoch nicht nur die Lust am Lernen erhöhte, sondern auch mit Lernerfolgen verbunden war.[9]
Jegliche Erziehung und Bildung sollte die Persönlichkeit eines Kindes respektieren. Die Lehrer sollten Tolstois Ansicht nach nur wenig in die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes eingreifen und ihre Schüler zu mündigen Persönlichkeiten erziehen. Schroedter bilanzierte: „Der Zwang zum Stillsitzen und die daraus resultierende fehlende Bewegung ist ein wesentliches Element der Kritik an den Schulen sowohl Russlands als auch der Schulen Westeuropas. Dies wurde in den von Tolstoi errichteten Bauernschulen, die nach dem Vorbild von Jasnaja Poljana entstanden, eine deutliche Absage erteilt. Die Kinder durften sich unterhalten, sie durften, ja, sie sollten sich bewegen. In seinen Betrachtungen fasste er Bildung tendentiell als die die freiwillige Teilnahme an einem ungezwungenen Unterricht auf und sah in der Erziehung den zwangsweisen Unterricht. Die Auseinandersetzung mit den Jugendlichen sollte da beginnen, wo sie mit ihrem Erfahrungsschatz anknüpfen können.“[10]
In seinen Schulen entwickelte er auch Ansätze für Untersuchungen und Systematisierungen von Lernsituationen: „Erst wenn die Erfahrung zur Grundlage der Schule gemacht wird, wenn die Schule sozusagen ein pädagogisches Laboratorium geworden ist, erst dann wird die Schule nicht hinter dem allgemeinen Fortschritt zurückbleiben und dann wird auch die Beobachtung im Stande sein, feste Grundlagen für die Wissenschaft der Erziehung zu schaffen.“[11]
Tolstoi verfasste Lesebücher zu den Fächern Geschichte, Physik, Biologie und Religion, um Kindern moralische und soziale Werte zu vermitteln. Generationen russischer Schüler erhielten bis in die 1920er-Jahre mit seinem erstmals im Jahre 1872 erschienen Schulbuch Alphabet die Grundschulbildung. Die überarbeitete Neuauflage aus dem Jahre 1875, mit einer Auflage von 1,5 Millionen Exemplaren, wurde in mehrere Sprachen übersetzt.
[1] Klemm, U.: Leo Tolstois gewaltfreier Anarchismus. In: Graswurzelrevolution, Nr. 200/September 1995, S. 23-25, hier S. 24
[2] Es gibt nur sehr wenige nichtchristliche Quellen über dieser Phase des frühen Christentums. Kurze Notizen zu Einzelereignissen finden sich bei Flavius Josephus, Tacitus und Sueton. Eine wichtige Quelle ist dann der Briefwechsel zwischen Plinius d.J und dem römischen Kaiser Trajan, der einen Blick auf die Ausbreitung des Christentums am Beginn des 2.Jh. in Pontus und Bithynien (Nordkleinasien) und die römischen Gegenmaßnahmen gestattete.
[3] Tolstoi, L.: Über Volksbildung, Berlin 1985, S. 22
[4] Ebd., S. 48
[5] www.graswurzel.net/270/tolstoi.shtml
[6] Schroedter, T.: Antiautoritäre Pädagogik. Zur Geschichte und Wiederaneignung eines verfemten Begriffes, Stuttgart 2007, S. 124
[7] www.graswurzel.net/270/tolstoi.shtml
[8] Zitiert aus Bartolf, C.: Ursprung der Lehre vom Nicht-Widerstehen. Über Sozialethik und Vergeltungskritik bei Leo Tolstoi. Ein Beitrag zur Bildungsphilosophie der Neuzeit, Berlin 2006, S. 104
[9] www.graswurzel.net/270/tolstoi.shtml
[10] Schroedter, Antiautoritäre Pädagogik. Zur Geschichte und Wiederaneignung eines verfemten Begriffes, a.a.O., S. 123
[11] Zitiert aus Tolstoi,Über Volksbildung, a.a.O., S. 34
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