Aristoteles und Atatürk. Aussagenlogische Untersuchung und Einordnung des Satzes „Frieden in der Heimat, Frieden im Universum (yurtta sulh, cihanda sulh)“ nach Aristoteles‘ Kategorienlehre

Aristoteles und Atatürk. Aussagenlogische Untersuchung und Einordnung des Satzes „Frieden in der Heimat, Frieden im Universum (yurtta sulh, cihanda sulh)“ nach Aristoteles‘ Kategorienlehre

von Çağıl Çayır

(Mehrsprache Inschrift einer Atatürk-Statue in der Türkei, Foto: Çağıl Çayır.)

Der vorliegende Aufsatz fragt nach der aussagenlogischen und begrifflichen Bedeutung des türkischen Satzes „Frieden in der Heimat, Frieden im Universum (yurtta sulh, cihanda sulh)“.[1] Im Folgenden wird die Übersetzung des Satzes erläutert, seine aussagenlogische Struktur erfasst und die Begriffe nach der Kategorienlehre des Aristoteles beurteilt.

Der Satz besteht aus zwei Satzteilen, die je aus zwei Wörtern bestehen und durch ein Komma verknüpft sind. Der erste Satzteil besteht aus den Wörtern „yurtta“ und „sulh“. Das Wort „yurtta“ besteht aus dem Stammwort „yurt“ und der türkischen Endung für Ortsangaben „-ta“. Das Wort „yurt“ ist sprachverwandt mit dem deutschen Wort „Jurte“ und bedeutet neben „Nomadenzelt“ auch „Haus, Heim, (Vater-) Land, Region, Heimat.“ Die türkische Lokativendung (-ta) entspricht dem deutschen „in, um, bei, vor usw.“ und macht das Wort zur Ortsangabe. Das Wort „sulh“ stammt ursprünglich aus dem Arabischen und bedeutet „Frieden, Ruhe, Bequemlichkeit, Gemütlichkeit, Annehmlichkeit, mit einander auskommen, sich vertragen, sich einigen, zu einer Einigung (Verständigung, Aussöhnung) kommen.“ Der zweite Satzteil besteht aus den Wörtern „cihanda“ und „sulh“. Das Wort „cihanda“ besteht aus dem Stammwort „cihan“ und der türkischen Endung für Ortsangaben „-da.“ Das Wort „cihan“ stammt aus dem Persischen und bezeichnet „Weltall, Universum, Kosmos, alle existierenden Dinge, die Welt, die Menschheit.“ Die türkische Lokativendung „-da“ macht das Wort zur Ortsangabe. Somit sind verschiedene Übersetzungsmöglichkeiten des Satzes gegeben. Für diese Untersuchung wird im Folgenden die Übersetzung „Frieden in der Heimat, Frieden im Universum“ gebraucht.[2]

Die aussagenlogische Struktur des Satzes enthält die Aussagen (A) „Frieden in der Heimat (yurtta sulh)“ und (B) „Frieden im Universum (cihanda sulh)“. Im Satz sind die Aussagen A und B durch ein Komma verknüpft. Da der Satz die Wahrheit beider Aussagen behauptet, ist er als Konjunktion zu deuten.

Die aussagenlogische Formel des Satzes wird demnach A ˄ B geschrieben. Die dazugehörige Wahrheitstafel (Abb.2) zeigt, dass die Aussage nur wahr ist, wenn sowohl A als auch B wahr sind.

(Abb.2, Wahrheitstafel der Aussage A ˄ B)

 

Die logischen Konsequenzen der Aussage A ˄ B sind folgende (Abb.3):

(Abb.3, Logische Konsequenzen der Aussage A ˄ B)

 

  1. Wenn A wahr ist, dann ist auch B wahr.
  2. Wenn B wahr ist, dann ist auch A wahr.
  3. Wenn A nicht wahr ist, dann ist auch B nicht wahr.
  4. Wenn B nicht wahr ist, dann ist auch A nicht wahr.

Die begriffliche Bedeutung des Satzes lässt sich mit Hilfe der Kategorienlehre des Aristoteles beleuchten. Der Begriff „Frieden“ bezeichnet nach Aristoteles die Qualität einer Substanz, nämlich wie etwas beschaffen ist. Qualitäten unterscheidet Aristoteles nach Zuständen und Haltungen. Eine Qualität, die schnell vorhanden ist und schnell vergehen, oder abgelegt werden kann, nennt er Zustand. Eine Qualität, die seit der Geburt vorhanden ist oder mit der Zeit angeeignet wird und nur schwer veränderbar ist, nennt er Haltung.[3] Die Diskussion, ob Frieden als „Zustand“ oder „Haltung“ zu kategorisieren ist, Überschreitet den Rahmen dieses Essays und kann in einer anderen Arbeit ausgeweitet werden. Ausschlaggebend gilt, dass Frieden in die Kategorie der Qualitäten einzuordnen ist. Die Wörter „in der Heimat“ und „Universum“ bezeichnen nach Aristoteles Orte einer Substanz.[4] Da nach Aristoteles nur Substanzen für sich existieren können und alle anderen Dinge Eigenschaften sind, die zu ihnen gehören, bezieht sich jede Aussage auf eine Substanz. Er unterscheidet zwischen erster und zweiter Substanz. Die erste Substanz ist die individuelle Substanz. Diese bestimmt die Differenzen und den Namen der zweiten Substanz, nämlich der individuellen Substanz und seiner Art und Gattung. Die Eigenschaften der Art und Gattung, werden immer von der ersten Substanz definiert. Ohne, dass individuelle Substanzen existieren, ist es unmöglich, „dass etwas von dem anderen existiert.“[5] Demnach beziehen sich alle Aussagen auf eine individuelle Substanz. Da in dem vorliegenden Satz weder erste, noch zweite Substanzen genannt sind, sind die Substanzen, zu denen die formulierten Eigenschaften gehören, nicht eindeutig bestimmt und daher verschieden interpretierbar. Grundlegend trifft der Satz nach der Kategorienlehre des Aristoteles folgende Aussage:

„die individuelle Substanz hat in der Heimat die Eigenschaft des Friedens, die individuelle Substanz hat im Universum die Eigenschaft des Friedens“

Nach den Erkenntnissen der Aussagenlogik bedeutet dies:

  1. Wenn die individuelle Substanz in der Heimat die Eigenschaft des Friedens hat, hat auch die individuelle Substanz im Universum die Eigenschaft des Friedens.
  2. Wenn die individuelle Substanz im Universum die Eigenschaft des Friedens hat, hat auch die individuelle Substanz in der Heimat die Eigenschaft des Friedens.
  3. Wenn die individuelle Substanz in der Heimat nicht die Eigenschaft des Friedens hat, hat auch die individuelle Substanz im Universum nicht die Eigenschaft des Friedens.
  4. Wenn die individuelle Substanz im Universum nicht die Eigenschaft des Friedens hat, hat auch die individuelle Substanz in der Heimat nicht die Eigenschaft des Friedens.

Da die individuelle Substanz nicht eindeutig bezeichnet ist, können die Aussagen auf jede Substanz bezogen werden und jeweils wahr oder falsch sein. Damit die Aussage A ˄ B wahr ist, müssen die Aussagen A und B jeweils auf jede mögliche individuelle Substanz bezogen wahr sein. Im Fall, dass die Aussage A oder B auf eine individuelle Substanz bezogen nicht wahr ist, ist die Aussage falsch.

 

Quellen- und Literaturverzeichnis:

Oehler, Klaus, Aristoteles. Kategorien (Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung 1, 1), Berlin 42006.

[1]

Der Satz wurde erstmal im Rahmen einer Wahlkampf-Verkündigung am 20.04.1931 von Mustafa Kemal Atatürk zusammenfassend als politisches Handlungsprinzip der von ihm gegründeten „Volkspartei der Republik (Cumhuriyet Halk Partisi)“ forumliert und am 10.05.1931 bei einer Parteikonferenz zum Prinzip der Partei erklärt. Die Grundgesetze der Republik Türkei von 1961 und 1982 beinhalten den Satz in ihren Einleitungen, zu letzt als „Glaube“ und „Wille“ des „Volks der Türken.“ Der Satz ist maßgebend für die Innen- und Außenpolitik der Republik Türkei und gilt als Leitsatz des Kemalismus sowie als Motto und bekanntestes und beliebtestes Zitat von Atatürk. U.a. unterzeichneten Papst Benedikt XVI. am 27.11.2006 und US-Präsident Barrak Hussein Obama II. am 06.04.2011 mit dem Zitat im Gästebuch des Atatürk-Mausoleums. In der Regel wird der Satz als „Frieden in der Heimat, Frieden in der Welt“ übersetzt, wobei das Wort „Welt“ ebenso den Planeten Erde, wie auch alle existierenden Dinge bezeichnen kann.

[2]          Das Wort „Universum“ umfasst alle existierenden Dinge, die Welt, die Erdoberfläche, die Menschheit, die Planeten etc.

[3]          Klaus Oehler, Aristoteles: Kategorien (Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung, 1, 1), 4. Auflage, Berlin 2006, S. 24f.

[4]                Oehler, S. 16f.

[5]                Oehler, S. 12.

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